MIFA
— Mikrotilmarchiv
der deutschsprachigen Presse.V.
Nr. 30— 79.
Morgen=Ausgabe.
Mittwoch, den 17. Januar 1906
Erscheint wochentäglich zweimal, arßerdem an Sonntagen einmal. Monatl. Bezugsgebühr 75 Pfennig, durch die Post bezogen vierteljährlich 2,10 Mark. Anzeigengebühren: 20 Pfennig für die einspaltige Kolonelzelle. Annahmeschluß von Inseraten abends 6 Uhr. Hauptgeschäftsstelle, Redaktion und Druckerei: Karlstraße Nr. 5. Fernsprecher: Nr. 181, 530 u. 816. Auf Anruf einer dieser drei Nr. meldet sich die Betriebs=Zentrale, welche die Verbindung mit den einzelnen Geschäftsabtetlungen herstellt. Berliner Bureau: Friedrich= straße 16, Fernspr. Amt 4, Nr. 1665.
Täglich 2 Ausgaben Unzeiger und Handelsblatt, Täglich 2 Ausgaben
Unabhängig=politisches Organ— verbunden mit der Zeitung
Die Morgenpost## für Westfalen.
Amtliches Kreisblatt für den Stadt= und Landkreis Dortmund
Gratisbeilagen:„Die Sonntagspost“(illustriertes Unterhaltungsblatt), Wochentags„Mußestunden“
Verantwortlich: Für den redak
tionellen Teil: Chefredakteur J. von Wildenradt; für Inserate und Reklamen: Buchhalter H. Grävinghoff, beide in Dortmund. Druck und Verlag: C. L. Krüger, G m. b. Donmund. Für Aufbewahrung und Rücksendung unverlangt eingesandter Mannskripie, sowie für die Aufnahme von Anzeigen an vorgeschriebenen Tagen und Plätzen wird keine Verantwortung übernommen. Wenn Zahlungen nicht innerh.8 Tagen nach geschehener Mahnung geleist werden. erlischt jeder Anspruch auf Rabattvergünstigung. Ersüllungsort Dortmund.
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Hierzu ein 2. und 3. Blatt,
Kleine Chronik.
*)<space> D i e<space> R e i c h s t a g s k o m m i s s i o n<space> f ü r<space> die Steuervorlagen hat gestern ihre Arbeiten begonnen.
*) Der Rücktritt des Herrn v. Lucanus soll bevorstehen.
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*) Aus Ungarn werden neue blutige Zusammenstöße gemeldet.
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*) Die englischen Parlamentswahlen haben dem Ministerium bisher eine Mehrheit von 103 Stimmen eingebracht.
*) Bei der gestrigen Probeabstimmung für die Präsidenten wahl erhielt Fall eres die meisten Stimmen.
*) Näheres siehe unten.
Die Konferenz in Algeciras und die Kriegsgerüchte.
dem kleinen andalusischen Küstenstädtchen sind die Vertreter der Mächte mit einem großen Stabe von Mitarbeitern, Sachverständigen u. Sekretären gestern zusammengetreten. Man schätzt in Berlin die Dauer der Konferenz auf drei bis vier Monate. Dies läßt darauf schließen, daß die Teilnehmer, wenigstens die der meistbeteiligten Staa ten, keine Vollmachten für alle oder doch für die vorausgesehenen Hauptfälle mitbringen, sondern daß sie an ihre Regierungen zu berichten und von Fall zu Fall deren Instruktion entgegenzunehmen haben. Denn anderseits wäre sicher eine kürzere Gestaltung der Beratungen möglich. Der Umstand, daß heute auf telegraphischem Wege ein richt binnen weniger Stunden mit einer Instruk. tion beantwortet werden kann, erklärt es, daß man die Delegierten nicht ausreichend mit Vollmachten ausgerüstet hat, und es braucht aus diesem Faktum nicht auf eine gar zu besorgnisvolle Auffassung der Kabinette geschlossen zu werden. Die Diplomaten haben über diese Konferenz und ihren Beratungsgegenstand mehr geredet, als eigentlich „diplomatisch“ ist in dem Sinne, den selbst der gewöhnliche Sprachgebrauch diesem Worte gegeben hat. Das hat die öffentliche Meinung in Deutschland und Frankreich nervös und mißtrauisch gemacht.
Die Konferenz hat das Reformprogramm, welches Deutschland und Frankreich gemäß ihrem Abkommen vom 8. September vorigen Jahres vorschlagen, 1. zu genehmigen und 2. den Weg seiner Ausführung zu finden. Da über das Programm selbst zwischen Deutschland und Frankreich eine Einigung geschaffen worden ist, deren grundsätzlicher Inhalt nirgend angesochten wird, und da auch der Sultan von Marokko es anerkannt hat, so würden wir es eigentlich natürlicher finden, wenn sich in der Presse und im Publikum eine optimistische Beurteilung der Angelegenheit kundgäbe. Die hauptsächlichen Bestimmungen des Reformprogramms sind die folgenden: 1. Organisierung einer Polizei auf dem Wege eines internationalen Ab
kommens. 2. Ueberwachung und Bestrafung des Waffenschmuggels; an der Ostgrenze soll diese Ueberwachung ausschließlich Sache der französischen Behörden sein. 3. Finanzielle Beihülfe durch Schaffung einer Staatsbank mit Emissionsrecht; der eröffnete Kredit soll zur Ausrüstung und Besoldung der Polizeitruppen und für öffentliche Bauten, insbesondere Häfen, verwendet werden. 4. Herbeiführung besserer Steuerergebnisse und neuer Einkünfte. 5. Die marokkanische Regierung soll sich verpflichten, keinen öffentlichen Dienst zu Gunsten von Privatinteressen zu veräußern und zur Submission für öffentliche Bauten alle Nationalitäten zulassen. Die Hauptfrage ist: wer soll die Reformen durchführen? Und ganz speziell: wer soll die Polizei befehligen? Daß Frankreich damit betraut werde, dem können die Mächte nicht zustimmen. Eine Einteilung des Sultanats in Zonen, die an verschiedene Mächte verteilt werden könnten, will der Sultan nicht mittun. Er sieht darin den Anfang vom Ende, den Beginn einer Aufteilung, und würde nicht mancher an seiner Stelle ebenso denken? Er will, daß die die Polizeigewalt ausübenden Angestellten der Mächte formell marokkanische Beamten werden. Es handelt sich weiter um die Gleichbesteuerung der Ausländer mit den Eingeborenen. Das sind gewiß Schwierigkeiten. Aber sollten sie wirklich unüberwindbar sein?
Es ist um so nötiger, daß relativ Befriedigende der Aussichten hervorzuheben, als merkwürdigerweise die Kriegsgerüchte bis ins Innere der beiden Hauptländer, Frankreich und Deutschland, vordringen. Schon ist in verschiedenen deutschen Städten ein Sturm auf die Sparkassen erfolgt. Die Leute lassen sich nicht ausreden, daß es Krieg geben wird. Wenn es gar ein Sohn oder Bruder aus einer Garnison geschrieben hat, der weiß es ganz sicher. Denn anscheinend wird eine Kriegserklärung zuerst, und wochenlang, ehe sie erfolgt, den Leuten in der Garnison zur Kenntnis gebracht. Weist man darauf hin, daß doch keine Zeitung die Lage so auffaßt od. solche Nachrichten gebracht hätten, so lautet die Erwiderung:„Die Zeitungen dürfen das eben nicht schreiben, es ist ihnen verboten worden.“ Auch die Presse soll bekanntlich eine Großmacht sein. Aber hier vermag sie den Kampf nicht aufzunehmen; sie hat es mit jener Macht zu tun, gegen die selbst Götter vergebens kämpfen.
Reichstag.
Stimmungsbild.
* Berlin, 16. Januar.(Drahtm.)
Nach der gestrigen lebhaften Sitzung herrschte heute wieder tiefster Friede im Reichstage und man konnte sogar konstatieren, daß zwischen Bundesratstisch und Plenum eine selteneUebereinstimmung herrschte. Es haudelte sich um den Servistarif und die Klasseneinteilung der Orte und um die WohnungsgeldzuschußNovelle, Vorlagen, welche oft geäußerten Wünschen des Hauses und der in Frage kommenden Kreise entsprechen. Verschiedenen Rednern ging die Regierungsvorlage jedoch noch nicht weit genug, insbesondere wurde allseitig getadelt, daß die nächste Revision und Klasseneinteilung der Orte erst 1913 vorgenommen werden soll, indem von allen Parteien ein früherer Termin, nämlich 1908, verlangt wurde, weil man die Er
hebungen der jüngsten Volkszählungen dann berücksichtigen könnte. Die Vorlage wurde schließlich der Budgetkommission überwiesen, nachdem alle Redner fast dieselben Wünsche vorgebracht hatten. Es folgte die erste Beratung des Gesetzentwurfes über die Entlastung des Reichsinvalidenfonds: eine längere Diskussion entstand aber auch hier nicht. Nachdem der alte Vorkämpfer für die Invaliden, Graf Oriola, die Vorlage empfohlen, ging sie an die Budgetkommission. Nicht so kurzen Prozeß machte man dagegen mit dem dritten Nachtragsetat, der hauptsächlich Forderungen für Ostafrika anläßlich des Aufstandes enthielt. Bei dieser Gelegenheit konnte der Leiter des Kolonial= amtes, Erbprinz Hohenlohe, die erfreuliche Mitteilung machen, daß der Aufstand in der Hauptsache gevrochen sei, zumal zwischen den Eingeborenen, die kampfesmüde seien, und ihren Häuptlingen in verschiedenen Bezirken Differenzen ausgebrochen seien. Dann kam der Kolonial=Sachverständige des Zentrums, Herr Erzberger, den das Zentrum, trotz seiner Blamage, die er sich wegen seines Angriffes des Kolonialamtes zugezogen hat, noch immer vorschickt. Der in Kolonialdingen so überaus erfahrene junge Abgeordnete hat natürlich allerlei zu bemängeln und vermißt vor allem Angaben über die Ursache des Aufstandes. Dann hält er der Regierung eine Vorlesung über Indemnität und Budgetrecht des Reichstages und wandte sich zum Schlusse noch gegen die in Ostafrika herrschende Zwangsarbeit, in der eine Hauptursache des Aufstandes zu suchen sei. Vom Regierungstische antwortete Herrn Erzberger Geheimrat Seitz, der die Einbringung des Nachtrages in einer glatten und präzisen Rede rechtfertigte. Der Gegenstand bot nunmehr auch werrn Paasche Gelegenheit, seine gelegentlich des Besuches in Ostafrika gesammelten Kenntnisse zu verwerten. Er rechtfertigte im allgemeinen das Verhalten der Regierung, gibt aber zu, daß vielleicht vereinzelte europäische Ansiedler in Ostafrika gesündigt haben. Ebenso hält er die Löhne für zu niedrig. Des weiteren hält er die Verwendung einer weißen Schutztruppe in Ostafrika für unpraktisch und befürwortet, derartige Forderungen zu streichen. Im übrigen stellt er der Regierung in der Kolonie ein günstiges Prognostikon aus. Auf eine Anzapfung des Geossen Südekum erklärte Erbprinz Hohenlohe, daß er über die Ursachen des Aufstandes Genaues mitteilen werde, sobald er authentische Nachrichten von der zu diesem Zwecke eingesetzten Kommission erhalten haben werde. Auch über die Angelegenheit der Akwahäuptlinge in Kamernn kann der Kolonialleiter, wie er auf eine Anfrage bemerkt, noch keine authentischen Aufklärungen geben. Die Vorlage ging schließlich mit dem Nachtragsctat für Südwestafrika an die Budgetkommission. Morgen soll der Diätenantrag des Zentrums herankommen.
*
Reichstags=Bericht.
Am Bundesratstisch Kommissare.
Präsident Graf Ballestrem eröffnet um 1,20 Uhr die Sitzung.
Erster Gegenstand ist die Beratung des Servisgesetzes. Nach dem Gesetze sollen die Servisklassen 8 und 4 vom 1. April 1906 ab in die Servisklasse 2 versetzt werden. Die nächste Revision des Servistarifs und der Klasseneinteilung der Orte erfolgt am 1. April 1913 und von da ab alle zehn Jahre.
Auf Vorschlag des Präsidenten verbindet das Haus die Beratung dieses Gesetzes mit der Beratung des Gesetzentwurfs betreffend die Abänderung des Gesetzes über die Bewilligung von Wohnungsgeldzuschüssen.
Abg. Itschert(Zentrum) beantragt die Ueberweisung beider Vorlagen an die Budgetkommission. Am besten wäre es, die Regelung des Servistarifs zu vereinfachen und statt der Klassen A 1 und 2 eine einzige Klasse einzurichten. Wenn man dann Klasse 1 als Richtschnur nehme, hätten zahlreiche kleine Orte große Vorteile. Der Personalservis kann ganz gut beseitigt werden, wenn die Gehälter erhöht werden. Daß die nächste Revision erst 1913 erfolgen soll, ist für das Zentrum eine unannehmbare Bestimmung.
Abg. Eickhoff(freis. Volkspt.) hält die neue Vorlage für einen neuen Fortschritt, wenn sie auch eine endgültig befriedigende Regelung nicht bietet. Redner stimmt mit dem Vorredner darin überein, die sämtlichen Servisbeträge einheitlich zu regeln und sie auf die Servissätze der ersten Klasse zu normieren.
Abg. v. Elern(.) erklärt sich mit der Vorlage einverstanden.
Abg. Ordel(natl.) begrüßt die Vorlage freudig und hofft, daß Mittel bereit gestellt werden für eine Zufriedenstellung der kleineren und Subalternbeamten.
Abg. v. Oertzen(Rp.) bedauert, daß nicht auch für die Subalternbeamten eine Erhöhung des Wohnungsgeldzuschusses vorgesehen sei.
Abg. v. Gerlach(wirtsch. Vag.) bezeichnet es als bedauerlich, daß erst 1913 eine neue Klasseneinteilung der Orte erfolgen soll.
Abg. Kirsch(Zentrum) bezeichnet das Gesetz als sehr notwendig.
Die Abgg. Burchard und Bruhn(wirtsch. Vag.) wünschen Besserstellung der unteren und Subalternbeamten.
Unterstaatssekretär Twele leugnet eine von den Vorrednern behauptete Gegensätzlichkeit zwischen dem Reichsschatzamt und dem preußischen Finanzminister.
Beide Vorlagen werden der Budgetkommission überwiesen.
Es folgt die Beratung des Gesetzentwurfs betreffend die Unterstützung des Reichsin validenfonds.
Bei Beratung des Gesetzentwurfs betreffend Entlastung des Reichsinvalidenfonds führt Abg. Graf Oriola aus: Die Bilanz des Reichsinvalidenfonds biete ein wenig erfreuliches Bild. Wenn man hier eine Wehrsteuer fordere, müsse man dafür sorgen, daß die Erträgnisse daraus für die Auffüllung des Reichsinvalidenfonds verwandt werden. Redner beantragt Ueberweisung der Vorlage an die Budgetkommission, was geschieht.
Es folgt die Beratung des dritten Nachtrags. etats von 1 998050 Mark und des Nachtragsetats für das Schutzgebiet von 2 407 875 Mark.
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Merkspruch.
Die Weisheit schützt uns vor manchem Uebel— und vor vielen Annehmlichkeiten.
Gedenktage.
17. Januar.
1871 Besetzung von Alencon. 1789* Johann Neander zu Göttingen. Bed. Kirchenhistoriker. 1766* Christoph von Ammon zu Bayreuth. Ber. prot. Kanzelredner. 1756 Neutralitätsvertrag zwischen Friedrich dem Großen und England.
Nemesis.
27)
Nach einem Erlebnis. Roman von M. F. v. d. Goltz.
(Nachdruck verboten.)
„Dieser Korridor ist wie ein Taubenschlag, Fräulein von Ried. Man ist dort keinen Augenblick vor Störung sicher", und er trat hinter ihr in den kleinen geschmackvollen, gemütlichen Raum und sah sich wohlgefällig um, während sie ihm einen Sessel herbeirollte. Er ließ sich umständlich nieder und stellte seinen Hut— Himmel, es war ja ein Zylinder, wie Ruth jetzt bemerkte,— vor sich auf den Teppich und begann seinen Paletot aufzuknöpfen.„ 16
„Mir wird zu heiß, Sie gestatten“— und Ruth siel es jetzt auf, daß ihr Besucher in feierliches Schwarz gekleidet war. Sie blieb stehen, stützte ihre beiden schmalen Hände auf die Lehne eines Stuhles und sah ihm erwartungsvoll ins Gesicht.
„Sie sieht wirklich sehr repräsentabel aus,“ dachte er. Und das tat sie auch, wie sie so vor ihm stand, die graziöse, schlanke Gestalt, in dem eng anliegenden, hellrauen Wollkleide, die blendend weiße faltige Schürze darüber, weiße Streisen un Hals und Handgelenken.
Die weiße Haube, das weiße Haar und darunter das vornehme schmale Gesicht, aus dem die großen dunklen Augen wie zwei Sterne leuchteten! Ja, tadellos, harmonisch! Na, er würde dann auch das färben lassen so allmählich, jetzt hatte er auch das nötige Alter däzu. Aber damals— damals, als sein Haar gebleicht in wenigen Stunden, da sollte niemand diese sichtbaren Zeugen seelischer Qual erblicken— um dieses Weib—
Er gab sich einen Ruck.
„Fräulein von Ried“, begann er,„ich glaube, nicht, daß Sie aynen weshalb ich heute zu Ihnen komme. Und dieses Bewußtsein hat für mich etwas Beschämendes. Jawohl! Denn sehen Sie. trotz
dem ich Sie vielleicht besser kenne und demnach schätze und verehre, wie mancher, der täglich um Sie ist, habe ich Sie doch in den langen Jahren, in denen Sie meinem Kinde und mir— so selbstlos freundschaftlich zur Seite stehen, verhältnismäßig recht selten aufgesucht!“
Andree holte sich ein Tuch hervor und rieb sich mit Vehemenz die Stirne. Ruth stand unbeweglich, ihr ward bange. Wo wollte der Geheimrat mit dieser feierlichen Einleitung hinaus?
„Bitte, setzen Sie sich, Fräulein von Ried“, fuhr er jetzt fort,„die Sache geht nicht so schnell.“
Ruth gehorchte.
„Schwester Ruth“, bat sie,„Herr Geheimrat; ein Fräulein v. Ried existiert schon längst nicht mehr.“
„Gestatten Sie, daß ich in Ihnen heute mal ausnahmsweise nicht die barmherzige Schwester erblicke, und daß ich hoffe, Sie hängen diese bald an den Nagel.“
Ruth erschrak. War der Geheimrat nicht ganz bei Sinnen? Er las ihr die Gedanken von der Stirne.
„Sie fürchten wohl, bei dem alten Herrn rappelts? Haben Sie keine Sorge, ich bin sogar im Begriff, außerordentlich vernünftig zu handeln, wenn— ja, nun, wenn—“
Er holte tief Atem.„Sehen Sie, damals, als Sie mir den Schießprügel so ohne weiteres abknöpften— bald zehn Jahre her ist's—, da war ich trotz meiner Verzweiflung innerlich sehr aufgebracht und dachte: was mischt sich dieser Piepmatz von Persönlichkeit in meinen trübseligen Kram? Doch Sie hatten Recht! Sie führten einen Verzweifelten wieder zur Besinnung, pflegten sein Kind und brachten Ordnung in die ganz verlotterte Wirtschaft.“
„Was soll das alles, Herr Geheimrat?“ unterbrach ihn Ruth unruhig.
„Geduld, Verehrteste,lassen Sie mich in meinem Vortrag in historischer Entwicklung zu Ende gelangen und werfen Sie mich nicht aus dem Konzept. Die ganze Geschichte kann ich Ihnen nicht ersparen, sie gehört dazu; sie soll einigermaßen die Dreistigkeit rechtfertigen, mit der ich heute— na weiter. Als ich dann jeuem abenteuerlichen Patron nachreiste— der sich jedoch vor mir verkroch wie die Maus vor der Katze—, um ihn zur Verantwortung zu ziehen, da waren Sie es wieder, die mein Kind, mein Haus trotz aller Berufsarbeit nicht aus dem Auge verlor und dem Heimkehrenden mit dürren Worten seine Pflicht vor Augen hielt, als es ihn wieder ruhelos hinauszog in weite Fernen. Und Sie erreichten es, daß er blieb — und Sie hatten Recht! Als ich dann nach mehreren Jahren mein Mädel ganz aus dem Hause
bringen wollte unter der bequemen Firma:„Mangel an gebildeter, weiblicher Obhut“, da waren Sie es, die mir ein energisches„quod non“ entgegenrief und ganz ungeniert die Anklage erhob:„Sie beabsichtigen bloß, sich mehr persönliche Freiheit zu verschafsen; das arme kleine Ding ist Ihnen nur im Wege“, und Sie hatten Recht! Und später kam ein Tag, an dem Sie mir rundweg erklärten: „Ihr kleines Mädchen, das Sie den personifizierten Leichtsinn, die ausgesuchteste Oberflächlichkeit nennen, hat mehr Gemüt und Liebe im kleinen Finger, wie Sie in Ihrer ganzen stattlichen Person!“ Ich war wütend— Sie aber hatten Rocht! Dann aber— dann mußte ich einmal von Ihnen hören:„Es wird die Stunde kommen, wo Sie um die Liebe Ihres Kindes betteln werden, und es wird zu spät sein.“ Und diese Stunde, Ruth— sie ist da!“
Eine schwüle Pause entstand. Andree hatte das Gesicht in beiden Händen verborgen. Ruth klopfte das Herz in bangen Schlägen. Was würde nun kommen? Was hatte Trandel, der Brausekopf, angerichtet? Am Ende Frau Falke—?
Absonderlichste Vermutungen schwirrten einen Augenblick durch ihren Sinn, sie wollte sich erheben, aber schon war Andree wieder Herr seiner selbst.
„Bitte, bleiben Sie, Ruth, es hatte mich nur einen Augenblick gepackt. Rührsamkeit schlägt sonst nicht in mein Fach. Also Sie hatten Recht. Etwas wie Vaterliebe war doch wohl immer bei mir vorhanden, ich habe es nur nicht gewußt, oder sagen wir besser, nicht merken wollen. Die Fabel vom Gesetz der Vererbung hatte mir das Urteil getrübt, und ich hatte dabei vergessen, daß Traudel auch mein Kind ist.“
„Weiter, weiter“, drängte Ruth.
„Ja wohl weiter“— fuhr Andree mit schwerer Stimme fort.„Ob der Schluß meiner Predigt nach Ihrem Sinne ist? Weiß nicht. Ich kam her mit leidlicher Zuversicht; je länger ich aber Ihre klaren scharfen Augen vor mir habe, je mehr sinkt mir das Herz in die Schuhe. Sie sind nicht wie andere, aber dann wäre ich ja auch nicht hier.— Also, was den Widerwillen anfangs— ja Widerwillen, ich will das Kind beim rechten Namen nennen—. Ruth, gegen mein eigen Fleisch und Blut hervorrief war in erster Linie die fabelhafte Aehnlichkeit Traudels mit ihrer Mutter. Die beiden gleichen sich wie ein Ei dem andern.— Was fahren Sie so zusammen, Ruth? Im Laufe der Zeit sind Trandels Haare und Augen gedunkelt, und das gibt der ganzen Physiognomie ein anderes Gepräge. So lernte ich ihren Anblick ertragen, und das war der erste Schritt zur Wand lung, die sich in mir allmählich vollzog ohne daß
ich mirs selbst eingestand. Und dann hat das Kind in dem treuen guten Auge so gar nichts von dem scheuen Flimmern, den Blick, der mich bei der Mutter oft fast zur Verzweiflung brachte.“
„Aber dann kann ja alles gut werden! Wonach das Kind sich sehnt und verzehrt, ist Liebe!“
„Jawohl, Ruth, und da liegt auch der Hund begraben. Sie verzehrt sich nach Liebe, daß sie mir zusammenschwindet wie ein Licht. Was anderen Mädels Freude macht in diesen Jahren, hat für sie keine Bedeutung, denn auch sie ist nicht wie die anderen, und an meine Vaterliebe will sie jetzt nicht mehr glauben lernen. Jawohl Ruth, sehen Sie, wie Sie Recht hatten!“
Und er lachte bitter auf.
„Das ist die Vergeltung. Was du säest, wirst du ernten, sagt schon die Bibel mit ihren alten, urewigen Wahrheiten. Was habe ich gesäet? Gnade mir der Himmel, wenn meine Saat aufgegangen! Was an Gutem in dem Kinde zur Reife gelangte, das ist Ihr Werk, Ruth— unterbrechen Sie mich nicht, noch nicht—, und was es an Zärtlichkeit und Liebe in seinem Herzen birgt, das ist Ihr Eigentum,— ehrlich erworben sogar. Nun bin ich hier mit der Bitte: Teilen Sie mit mir—“ In Ruths Gesicht malte sich eine große Ratlosigkeit. Welch ein Vorgang hatte den sonst so kühlen, maßvollen Mann in diese Aufregung versetzt, und was wollte er von ihr?
„Sagen Sie mir, Herr Geheimrat, was ist geschehen? Was kann ich tun? Seien Sie versichert, ich habe das Kind bei jeder Gelegenheit auf den Platz hingewiesen, auf den es gehört, es zur Pflicht ermahnt, ihm gepredigt: Du mußt Dir Deines Vaters Liebe zu erwerben suchen—“
„Also hat sie sich über Lieblosigkeit meinerseits doch beschwert?“ fuhr er aufgeregt dazwischen.
„O nein, nicht das, nicht das—“
Wie konnte sie jetzt dem Vater von seines Kindes Klagen und Jammer berichten?
„Aber sie trägt sich schon lange mit dem Gedanken, Diakonissin zu werden, und bei ihrer ernsten Charakterveranlagung ist diese Absicht nicht nur als kindliche Idee zu behandeln.“
(Fortsetzung folgt.)
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