4. Jahrgang.
Bonn, Donnerstag den 28. October 1875.
Nr. 298.
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r. Zur Lehrlingsfrage.
Die öffentliche Aufmerksamkeit wendet sich jetzt immer mehr zeu socialen Fragen zu, selbst die nationalliberalen Blätter tönnen es nicht mehr ignoriren, daß Manches faul ist im Staate der Intelligenz, im neuen deutschen Reiche. Der große Körper zigt sich an vielen Stellen angefressen, unreine Säfte machen sich in erschreckender Weise bemerkbar; eine dieser vielen traurigen Erscheinungen ist auch der immer mehr zu Tage tretende Kückgang des Lehrlings=Wesens, dessen technischer und moralischer Verfall. Es ist daher naheliegend, daß auch die kürzlich zu Eisenach abgehaltene vierte Jahresversammlung des deutschen Vereins für Socialpolitik diese Frage in den Kreis ihrer Berathungen gezogen hat. Dieser Verein besteht zum großen Theil aus Professoren der Volkswirthschaftslehre und hat daher den Zamen Verein der Kathedersocialisten erhalten. Diese vertreten gegenüber den Männern der älteren Manchesterschule eine nothwendige und gesunde Reaction. Sie verlangen mit Recht, daß der Staat in der socialen Frage nicht Alles der absolut freien Concurrenz dem„laissez faire et laissez aller“ überlasse. Eie betonen auch gegenüber dem crassen Egoismus das ethische Roment. Wir können daher dieser Richtung unsere Anerkennung nicht versagen und freuen uns, daß ernste Männer der Wissenschaft die Lösung der socialen Frage auf ihre Tagesordnung setzen. In der Eröffnungsrede des Vorsitzenden, des Professor Risse von Bonn wurde mit Recht darauf hingewiesen, daß der Klassengegensatz noch niemals so schroff hervorgetreten sei, wie gegenwärtig und daß die Unsittlichkeit, Rohheit, ja Mißachtung aller öffentlichen Ordnung noch niemals einen so grellen Charakter angenommen habe, wie in der jetzigen Zeit. An dieser überhandnehmenden Unmoralität der unteren Klassen seien aber wesentlich die Besitzenden schuld. Die Art und Weise des neuesten Erwerbes von Reichthümern sei keineswegs geeignet, den unteren Klassen ein moralisches Beispiel zu geben.
Das Resultat der Berathungen wird in den nachfolgenden Fischlüissen, szsammengefaßt:„Der Zustand des heutigen Lehrungswesens schädigt in gleicher Weise die Erwerbsfähigkeit der arbeitenden Klasse, wie die nationale Industrie. Um eine dem Interesse der Lehrlinge, der gewerblichen Produktion und der Volkswirthschaft entsprechende Ausbildung der Lehrlinge herbeizuführen, ist eine Reform des Lehrlingswesens nöthig. Insbesondere bedarf es:
1) Der Einrichtung besonderer obrigkeitlicher Organe, welche zusammengesetzt aus Vertretern der Staatsgewalt, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, das Lehrlingswesen regeln und beaufsichtigen und Streitigkeiten in Bezug auf die Lehrlinge entscheiden.
2) Der gesetzlichen Einführung einer mindestens einmonatlichen Probezeit, vor Rechtsgültigkeit der geschlossenen Lehrverträge, während welcher dem Lehrling, wie dem Lehrherrn der Rücktritt vom Lehrvertrag freisteht.
3) Ter obligatorischen schriftlichen Abfassung und Registrirung der Lehrverträge, sowie der Aufstellung von gesetzlichen Normativ= bestimmungen, welche für den Fall, daß die wünschenswerthe schriftliche Abfassung von Lehrverträgen nur in ungenügender Form stattgefunden hat, subsidiär in Kraft treten.
4) Der Einführung von Strafen bei widerrechtlichem Lehrertragsbruch gegen Thäter, Anstifter, Theilnehmer und Begünstiger, insbesondere auch gegen denjenigen, welcher einen Lhrling, wissend, daß er entlaufen ist, in Lohn und Arbeit ummmt oder behält.
5) Des ordentlichen Unterrichts in für Lehrlinge geeigneten Schulen.
6) Des Verbotes, Arbeiter unter 18 Jahren zu einer regelnäßigen Beschäftigung in Gewerbe= oder Fabrik=Betrieben anunehmen, wenn dieselben nicht mit einem in Gemäßheit des § 131 der Gewerbeordnung ausgestellten und eingerichteten Arbeitsbuche versehen sind.
0) Der Ertheilung eines Zeugnisses nach erfüllter Lehre, in welchem dem Lehrlinge die Fähigkeit als Geselle zu arbeiten, bezeugt und beglaubigt wird.
Haben wir in der Lehrlingsfrage nur Eines der vielen Shmptome des kranken Zustandes unseres gesammten Gewerbewesens erkannt, so können uns die vorstehenden Beschlüsse, die sich enge nur auf das Lehrlingswesen beschränken, nicht befrie
# Zehn Jahre später.*)
Erzählung von Hedwig Wolf.
— Es sind meine letzten Ferien, und darum will ich mich koch einmal meiner Freiheit erfreuen, denn wer weiß, wann es mir wieder so gut wird, sagte Raimund Werner, ein junger Mediciner, indem er sich behaglich in den Fauteuil zurücklehnte und den bläulichen Rauch einer Havanna=Cigarre vor sich hin
während seine Blicke auf der freundlichen, vom letzten Strahl der Abendsonne erleuchteten Landschaft ruhten.
— Ich kann Deinen Vorsatz nur billigen, versetzte sein Bruder, an den er diese Worte gerichtet hatte, die Zeit kommt früh genug, wo Deine schönsten Erwartungen und Hoffnungen sich in traurige Enttäuschungen verwandelt haben werden.
— Höre, Bruder, versetzte der Andere, mir will es niemals icht klar werden, wie Du zu einer so melancholischen LebensEschauung gekommen bist, denn gerade Du, meine ich, darfst Dich zu den vom Schicksale Begünstigtsten zählen; Du hast Dir iinen berühmten Namen gemacht, bist geachtet und angesehen, erfreust Dich eines behaglichen Wohlstandes und hast, wie wir a sagen pflegen, eine angenehme Gattin.
— Und gerade in dem Letzten irrst Du gewaltig, erwiderte der Professor seufzend, und goß dabei aus der vor ihm steheneen Kaffeekanne das edle arabische Getränk in seine Tasse. Alle mnderen Vorzüge, die Du aufzähltest, mag ich besitzen, nur was keine Häuslichkeit, anbelangt, darin bin ich nicht glücklich zu
preisen.
— Es; wahr, daß Deine Gattin eine schwächliche GesundEit hat einte der Mediciner, aber bei zweckmäßiger Schonung erkeichen solche zarte Frauen oft ein hohes Alter.
— Nicht ihre Kränklichkeit allein vergällt mein Leben, sagte E. Professor, sondern die vollkommene geistige Unfähigkeit Eiisens, sich für meine Ideen und Arbeiten zu interessiren, die Eerlagenswerthe Beschränktheit, die es ihr unmöglich macht, sich i meinen Anschauungen zu erheben, darin liegt das Unglück meiner Ehe.
ochrak iü nicht gstaltet.
digen. Sie sind höchstens eine Salbe für die äußere Wunde, berühren aber durchaus nicht die kranken Säfte, die Quelle des Uebels. Die Lehrlingsfrage hängt innig mit der Meisterfrage zusammen, nur tüchtige Meister sind im Stande, gute Gesellen zu bilden. Erscheinen auch die vorstehenden Beschlüsse gegenüber den betreffenden Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung über das Lehrlingswesen immerhin als ein Fortschritt, so können wir doch nicht unser Bedauern unterdrücken, daß der Congreß sich nicht einer Vertiefung der Frage zugänglich gezeigt hat, die von verschiedener Seite, namentlich von Gehlsen aus Berlin angeregt wurde.
Das gewerbliche Leben in Preußen und auch im größeren Theile des deutschen Reiches außerhalb Preußen, beruht seit Anfang dieses Jahrhunderts auf dem Principe der Gewerbefreiheit, nachdem vorher das deutsche Städteleben seit dem Mittelalter das Gewerbe in geschlossenen Zünften zu hoher Blüthe gebracht hatte. Wir sind aber der bestimmten Ansicht, daß das alte Zunftwesen sich vollständig überlebt hatte, daß die Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen durch den großen Stein nach vollständiger Aufhebung der Leibeigenschaft als eine Nothwendigkeit anerkannt werden muß. Die alten Formen passen nicht immer für neue Zustände. Nach den unglücklichen Ereignissen der Jahre 1806 und 1807 hatte sich in Preußen die Ueberzeugung immer allgemeiner verbreitet, daß nur davon eine wesentliche Verbesserung des Zustandes der Einzelnen und der Nation zu erwarten sei, daß ein Jeder in den Stand gesetzt werde, seine Fähigkeiten und Kräfte ungehindert und frei zu entwickeln und davon den möglichst vortheilhaften Gebrauch zu machen, daß dies aber die Wegräumung aller entgegenstehenden Hindernisse voraussetze.
Die leitenden Grundsätze, welche bei dieser Reform maßgebend waren, sprechen sich in der Geschäftsinstruction vom 26. Decbr. 1808 für die Erleichterung des Verkehrs und die Freiheit des Handels sowohl im Innern als mit dem Auslande aus. Sie bekämpften das bis dahin geltende Mercantilsystem. Durch die Erwerbung der neuen Provinzen traten wesentliche Verschiedenheiten in den gewerblichen Verhältnissen, insbesondere in den Bedingungen der Zulassung zum Gewerbebetriebe hervor, die mannigfache Uebelstände zur Folge hatten, da die zur Anwendung kommenden Grundsätze nicht auf ausdrücklichen Gesetzen, sondern auf dem Herkommen beruhten, und häufig Zweifel über die Gültigkeit obwalteten, deren Lösung um so schwieriger war, als es gänzlich an allgemein leitenden Grundsätzen fehlte. Zur ersten Befriedigung des Bedürfnisses einer neuen gesetzlichen Regulirung erschien das Gewerbesteuergesetz vom 30. Mai 1820, durch welches die Lösung der Gewerbscheine für alle stehenden Gewerbe gänzlich aufgehoben wurde. Wenn das Gesetz nicht ausdrücklich dessen Besteuerung verordnete, war das Gewerbe von nun an grundsätzlich frei. Dabei wurde, selbst bei den besteuerten Gewerben, gänzlich von der Befugniß zu deren Betrieb abgesehen und die Entrichtung der Steuer nur von der Thatsache des Betriebes abhängig gemacht. Die Vorstände der Gemeinden und Ortsobrigkeiten überhaupt bedurften aber nunmehr neben dem neuen Gewerbsteuergesetze auch polizeilicher Vorschriften über die Befugniß zum Gewerbebetriebe; diesem Mangel konnte nur abgeholfen werden durch ein neues allgemeines Gewerbe=Polizei=Gesetz. Erst am 17. Januar 1845 wurde die allgemeine Gewerbeordnung publicirt. Die vorherrschende Tendenz des Gesetzes geht dahin, die Freiheit der Gewerbtreibenden möglichst zu schützen, die freien Gewerbtreibenden durch freie Genossenschaften zur Mündigkeit zu erziehen, durch letztere die Freiheit und Sittlichkeit des Einzelnen, wie des Ganzen zu begründen und dadurch eine Freiheit und Ordnung zu entwickeln, wie sie den Bedürfnissen der Gewerbtreibenden entsprechend ist.
Dieses Gesetz indeß befriedigte nur wenig, eine durchgehende Hebung, namentlich des Handwerkerstandes, wurde auf dem Wege der freien Vereinigung nicht erzielt. Es rief vielmehr im Jahre 1848 auch in den Ständen der Gewerbtreibenden, insbesondere der Handwerker, eine große Bewegung hervor. Um den dringend von allen Seiten laut gewordenen Wünschen zu entsprechen, erschienen die beiden Verordnungen vom 9. Februar 1849. In dem Berichte des Staatsministeriums wird dabei auf den ordnungslosen Zustand, welcher
— Und doch hat Elise viele andere Vorzüge, die ihr ein Anrecht auf eine mildere Beurtheilung geben dürften, sagte der junge Mann in ernstem, fast vorwurfsvollem Tone.
— Wer wird es in Abrede stellen wollen, daß sie eine treue Gattin, eine liebevolle Mutter und gute Hausfrau ist? erwiderte der Professor etwas gereizt Aber das sind Eigenschaften, die genügen dürften, um sie zur passenden Gefährtin eines gewöhnlichen Mannes zu machen, die sie aber nicht befähigen, die eines Gelehrten zu sein, der an seine Frau höhere Anforderungen stellen darf. Mußte ich nicht endlich ihre Gesellschaft reizlos finden, wenn ich sie immer von der kleinlichen Sorge um Hauswesen und Kind befangen sah? Was war es für sie, wenn ich durch mühevolle Forschungen zu einer wichtigen, die Wissenschaft bereichernden Entdeckung gelangt war? Schrie der Kleine im Nebenzimmer, wenn er sein Spielzeug nicht gleich fand, oder brachte ihm die Bonne seine Suppe um eine Minute später, so war es um ihre Aufmerksamkeit geschehen, und doch hätte sie der größten Sammlung bedurft, um mich zu verstehen.
Ja, lieber Raimund, glaube mir, es ist eine traurige Erfahrung, die ich gemacht, und als Freund und Bruder warne ich Dich, lasse Dich nicht von einem schönen Gesichtchen bethören; die physischen Reize einer Frau verblühen allzu schnell und eine schreckliche Oede greift in unserem Herzen Platz, wenn wir fühlen, daß wir mit ihnen Alles, was wir an dem Weibe unserer Wahl geliebt, verloren haben.
— Verzeihe, Bruder, wenn ich immer noch bei meiner Ansicht bleibe, Du seiest gegen Deine sanfte gute Frau ungerecht, versetzte Raimund. Aber ich will Dir dafür versprechen, mich nicht so bald in Hymens Fesseln schlagen zu lassen, denn ich liebe meine sorglose Unabhängigkeit allzu sehr. Meine Effecten sind gepackt und morgen denke ich frohen Muthes abzufahren, um erst, wenn das Laub welk ist und die Tage trüb und kalt geworden sind, wieder heimzukehren.
Während die beiden Brüder rauchend und Kaffee trinkend auf der Terrasse saßen, die nach dem zierlichen gepflegten Hausgarten führte, finden wir Elise, die Gattin des Professors, die soeben der Gegenstand einer kleinen Controverse zwischen den gewesen, im Innern des Hauses beschäftigt.
hinsichtlich des Betriebes der zu den Handwerken gehörigen Gewerbe bestehe, wodurch der gesammte Handwerkerstand in seiner Existenz bedroht wurde, hingewiesen. Die Regierung erkannte es als ihre Pflicht, den unter den Betheiligten selbst allgemein befundenen Bedürfnissen einer gesetzlichen Regelung alle Berücksichtigung zu Theil werden zu lassen, soweit dies mit den allgemeinen Interessen vereinbar sei. Zu einer umfassenden Umgestaltung des gesammten Gewerbewesens werde um so weniger geschritten werden können, als die gleichmäßige Ordnung der gewerblichen Verhältnisse für ganz Deutschland bereits in Anregung gekommen sei. Die neuen Verordnungen führten die Meister= und Gesellenprüfungen ein, ließen aber die Innungen als freie Verbindungen bestehen. Ihre Wirksamkeit war den hochgespannten Erwartungen gegenüber nur unbedeutend, die Ausführungsregulative, namentlich der gewerblichen Prüfungen, litten an beklagenswerther Halbheit; nur die Errichtung der Unterstützungscassen zeigte sich lebensfähig, weil sie durch Ortsstatut obligatorisch gemacht werden konnte. Die nothwendige Ordnung, die sich sehr wohl mit der Gewerbefreiheit verträgt, war immer nur in das Belieben der Gewerbtreibenden gestellt, die freien Innungen brachten keine nennenswerthen Vortheile und fristeten nur ein kümmerliches Scheinleben. In der neuen Gewerbeordnung für das ganze deutsche Reich, die ursprünglich am 1. October 1869 für das Gebiet des norddeutschen Bundes erlassen wurde, ist das Princip der Gewerbefreiheit in so hohem Maße ausgedehnt, daß seit der kurzen Zeit seiner Geltung schon erhebliche Bedenken dagegen erhoben worden sind. Das Princip der Ordnung in dem Titel 6 über die Innungen und in dem Titel 7 über die Gewerbegehülfen, Gesellen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter ist nur sehr ungenügend berücksichtigt. Leider übten bei der Entstehung dieses Gesetzes die Grundsätze der alten Manchester Schule, welche in den Reihen der liberalen Reichsboten eine starke Vertretung gefunden hatten, einen zu weitgehenden Einfluß aus. Nicht mil Unrecht ist man schon seit längerer Zeit zweifelhaft geworden, ob die Art und Weise der Gesetzmacherei durch große Körperschaften, in denen nur zufällig Sachverständige vorhanden sind, eine zweckmäßige sei. Die neuesten Gesetze sind viel weniger Resultat einer möglichst umsichtigen, objectiven und sachverständigen Beurtheilung, als vielmehr der politischen Compromisse. Sie befriedigen daher durchgehends nur sehr wenig und rufen sofort nach ihrem Erscheinen Stimmen einer baldigen Remedur hervor. Eben so wenig wie das Sttafgesetzbuch für das deutsche Reich, wird die neueste Gewerbeordnung den Erwartungen entsprechen. Es hängt dieses aber wiederum mit den großen geistigen Strömungen zusammen, deren Ablagerungen in den zahllosen und übereilten Producten gesetzgebungssüchtiger Volksvertretungen zu Tage treten. Es durchzieht viele derselben ein christenfeindlicher Geist des crassen Egoismus und der Plutokratie, während das sittliche Element fast vollständig unterdrückt wird. Nun ist aber wohl kaum eine Frage von tieferer sittlicher Bedeutung, als die der Regelung des gewerblichen Lebens. Sie kann nur genügend gelöst werden, wenn sie mit den Grundsätzen des Christenthums in Harmonie gebracht wird. Für eine solche Wendung der geistigen Richtung unserer Kammern können wir uns für die erste Zeit noch wenig Hoffnung machen, der leidige Culturkampf muß erst ausgestritten sein, ehe an eine radicale Umkehr gedacht werden kann. Die Beschlüsse des Congresses über die Lehrlingsfrage werden wohl für geraume Zeit als schätzenswerthes Material für eine künftige Gewerbegesetzgebung niedergelegt werden. Die sociale Frage wird ihre Lösung nur durch die Kirche finden, auf deren Boden in neuester Zeit schon viel Segensreiches entstanden ist. Die Gesellen= und Lehrlingsvereine könnten von einer conservativen Regierung nicht hoch genug geschätzt werden. Die Kirche muß erst den Geist wecken, den das allgemeine Rechtsbewußtsein in der Form des Gesetzes beurkundet. Nach den Worten des seligen Kolping, des Vaters der katholischen Gesellenvereine, der mit dem tiefsten Verständnisse die Hebung der Interessen des deutschen Handwerks zu seiner reich gesegneten Lebensaufgabe gemacht hat„kommt es auf unser thätiges Christenthum an, ob die Welt zu christlicher Ordnung und die Stände in ihr zu christlichem Wohlstande zurückkehren. Nur dürfen wir dieses
Allerdings ist sie auch jetzt nicht in das ernste Studium eines wissenschaftlichen Werkes vertieft, sondern es ist ganz einfach eine Näharbeit, der sie ihre Aufmerksamkeit zuwendet.
Ihr Kind, ein rosenwangiger, fünfjähriger Knabe, schläft in seinem kleinen Bettchen neben ihr und manchmal läßt Elise die Arbeit ihren Händen entgleiten, um einen Blick der zärtlichsten mütterlichen Liebe auf dieses Kind zu werfen, das ihr Liebstes auf Erden ist. Ihre Ehe ist nicht glücklich, hierin hat der Professor ganz Recht, aber wer daran mehr Schuld trägt, der eitle, egoistische Mann, oder die sanfte, stille Frau, das dürfte wol nicht schwer zu entscheiden sein.
Obwol die Gatten sich eines anständigen Einkommens erfreuen, ist Elise einer jener thätigen Frauen, die durch eigenes Eingreifen das Hauswesen in Ordnung erhalten und wenn man nach des Professors langathmigen und erhabenen Reden glauben wollte, er hielte es für eine wahre Last, daß der Mensch auch für materielle Bedürfnisse zu sorgen habe, würde man sich darin sehr täuschen, denn er ist nichtsdestoweniger ein Feinschmecker, dessen Tafeln würdig zu besetzen keine ganz leichte Aufgabe ist.
Heute Abends sollte dem abreisenden Bruder, der eben sein Doctorat glänzend bestanden hatte, ein Gouter gegeben werden, zu dem mehrere Freunde geladen waren.
Als die letzten Strahlen der Julisonne hinter den Bergen verschwanden, legte Elise ihr Nähzeug weg und erhob sich, um Anstalten zu dem Gouter treffen zu lassen, das auf der Terrasse eingenommen werden sollte.
Die beiden Herren hatten noch einen kleinen Spaziergang unternommen, da die Gäste erst später erwartet wurden.
Ein sogenannter Thee, der aber in den ihn begleitenden kalten und warmen Braten, nebst all den obligaten süßen und sauren Assietten manches ehrbare Souper der guten alten Zeit übertraf, nahm Elisens Sorge so sehr in Anspruch, daß sie nur zuweilen auf einen Augenblick sich an das Bettchen ihres Knaben stehlen konnte, um ihn in seinem füßen Schlafe zu belauschen.
(Fortsetzung folgt)