Nr. 292.

Abonnement: Bierteljährlich pränum. für Bonn incl. Traglohn RMark(1 Thlr. 10 Sgr.); bei den deutschen Postämtern und für Luxemburg 4 RMark(1 Thlr. 10 Sgr.).

Grgan für das katholische deutsche Volk.

Die Deutsche Reichs=Zeitung erscheint täglich, an den Wochentage. Abends, an Sonn= und Festtagen Morgens. Insertionsgebühren für die Petitzeile oder deren Raum 15 R Pf.(1 1 Sgr.).

Louise Liteau und die Königliche Academie der medicinischen Wissenschaften zu Brüssel.

X Brüssel, 18. October.

In ihrer letzten Sitzung vom 9. d. hat die hiesige Königliche medicinische Academie die Untersuchung über Louise Lateau, mit welcher sie sich nun seit beiläufig einem Jahre beschäftigte, da­durch zum Abschlusse gebracht, daß sie über diese Frage zur einfachen Tagesordnung überging, d. h. sich für incompetent in dieser Sache erklärte. Bei der großen Tragweite dieses Beschlusses der Kgl. Academie werden Sie mir wohl gestatten, etwas weiter auszuholen, um Ihren Lesern ein vollständiges Bild der diesbezüglichen Verhandlungen, die mit Recht die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich ge­zogen, geben zu können. Ich werde mich dabei genau an den Bericht eines Augen= und Ohrenzeugen halten, der, wie er selbst sagt, mit der ganzen Aufmerksamkeit, die diese schwere und Auf­sehen erregende Frage verdiente, der Discussion gefolgt ist.

Vor ungefähr einem Jahre unterbreitete Dr. Charbonnier der Xcademie ein von ihm verfaßtes Buch zur Begutachtung, welches beitelt war:La maladie des mystiques; Louise Lateau (De Krankheit der Mystischen; Louise Lateau"). Sogleich er­nannte die Academie eine Commission, die mit der Prüfung die­ser Arbeit beauftragt wurde; sie bestand aus dem Herrn Fossion, Professor an der Universität zu Lüttich, als Präsidenten, sowie den Herren Marcart und Warlomont, letzterer als Bericht­erstatter. Um allem Argwohne vorzubeugen, mag es gut sein von vorneherein zu erklären, daß sich unter diesen Dreien kein einziger Ultramontaner befand, sondern vielmehr alle Liberale vom reinsten Wasser waren, die von der ganzen Affaire nicht mehr hielten, als jeder Andere ihrer Gesinnungsgenossen. Fossion wurde durch eine Verhinderung zum Rücktritte von dem ihm zugetheilten Posten gezwungen, bevor er an den Arbeiten Theil nehmen konnte; er wurde nicht ersetzt. Wie die Commission ihre Aufgabe auffaßte, wird man am Besten aus den Worten ihres Berichterstatters selbst entnehmen können.Sollte die Commis­sion", so begann Dr. Warlomont sein Referat in der Academie, sich darauf beschränken, die vorgelegte Abhandlung allein rück­sichtlich ihres absoluten wissenschaftlichen Werthes zu unter­suchen, ohne sich mit der Thatsache zu befassen, auf die sie sich stützte? Sie hätte es vielleicht zu ihrer Bequemlichkeit gekonnt, aber sie würde dadurch eine Gelegenheit versäumt haben, die Academie in den Besitz einer möglichst vollständigen wissenschaft­lichen Beobachtung einer Thatsache zu setzen, deren Discussion man wohl oder übel nicht länger mehr ausweichen konnte. Sie (die Commission) beschloß daher, vor Allein die Thatsache zu untersuchen, entschlossen sich ohne Bedauern darein zu fügen, wenn dadurch auch die so aufgefaßte Aufgabe um so schwieriger werden müßte, diese Arbeit ohne Schwäche und ohne Voreinge­nommenheit zu verfolgen und die Elemente, so wie sie ihre ganze officielle Untersuchung ergeben haben würde, den Augen der Gesellschaft zu unterbreiten. Die academische Commission schritt in der That zu einer äußerst strengen Untersuchung. Die Herren mietheten sich in dem benachbarten Manage ein und machten nicht weniger als sieben Besuche in der Hütte zu Bois 'Haine. Wie äußerst vorsichtig man zu Werke ging, mögen Sie daraus entnehmen, daß man zur Constatirung der Blu­tungen der Stigmatisirten eigens zu diesem Zwecke verfertigte gläserne Handschuhe anlegte, die Dr. Warlomont selbst ver­siegelte. Ueberhaupt verfuhr man mit einer solchen Rigorosität, daß, wie Warlomont selbst in seinem Berichte anführt, das Mädchen dadurch unerhörte Schmerzen erduldete. Natürlich geht es über den Rahmen eines einfachen Referates hinaus, alle Einzelheiten dieser langwierigen, mehrere Wochen andauernden Untersuchung zu erzählen. Wer sich hierfür interessiren sollte, dem würde der bei C. Muquardt in Brüssel im Druck er­schienene officielle Rapport des Dr. Warlomont vollständig Ge­nüge leisten.(Seltsamerweise verweigerte der Verleger ohne An­gabe von Gründen die Abfassung einer deutschen Uebersetzung dieses interessanten Werkes.) Um jedem Einwurfe, als hätten der Untersuchung Hindernisse, die man ihr etwa in den Weg zu legen versucht, Abbruch gethan, erklärt der Berichterstatter, mit einer Loyalität, die ihm alle Ehre macht, daß er nicht eine Schwierigkeit bei dieser langdauernden und mühsamen Arbeit gefunden. Es mag gut sein, diese Erklärung hier wörtlich fol­gen zu lassen.Aber, wird man uns einwerfen, konnte eure Untersuchung vollständig sein? Ich muß erklären, daß uns keine einzige Schwierigkeit in den Weg gelegt wurde. Von den ersten Versuchen an, die der Erstatter dieses Berichtes machte, öffneten sich ihm alle Thüren. So indiscret auch bisweilen seine For­derungen waren, keine einzige wurde abgeschlagen. Ich halte es für meine Pflicht, dieses hier formell zu erklären. Die Er­stattung dieses wichtigen Berichtes, der die Resultate der ge­sammten Untersuchung zusammenstellt, beschäftigte die Academie in zwei Sitzungen. Fassen wir denselben kurz zusammen: Die Phenomene, die bei Louise Lateau in die Erscheinung treten, sind der Zahl nach drei: eine Blutvergießung, die sich seit 7 Jahren alle Freitage an denselben Stellen wiederholt; eine Extase, die sich an denselben Tagen wiederholt und eine vollständige Ab­stinenz, die seit 5 Jahren andauern soll. Was die Stigmati­lation und die Extase angeht, so erklärt Dr. Warlomont im Namen der Commission, daß dieselben wirkliche und wahrhafte Thatsachen seien und daß an Betrug dabei gar nicht zu denken sei. Er behauptete jedoch, daß die Wissenschaft eine natürliche physiologische Erklärung der­selben geben könne. Es seien das Erscheinungsformen einer neuen Krankheit derneuropathie stigmatique(stigmatisches Rervenleiden"). Was die Abstinenz betreffe, so sei dieselbe nicht erwiesen, sie stehe im Widerspruche mit den Gesetzen der Phy­siologie und darum hätten diejenigen, welche das Vorhandensein derselben behaupteten, sie auch zu beweisen. In den beiden Sitzungen vom 29. Mai und 10. Juni d. J. unterzog der ge­lehrte Professor Lefebvre, der seit langen Jahren Louise Lateau zum Gegenstande seiner Studien gemacht, diesen Rapport des Dr. Warlomont mit einem großen Aufwande von Geist und Gelehrsamkeit einer herben Kritik. Nachdem er zunächst von der Erklärung des gelehrten Berichterstatters Act genommen, daß die Stignatisation und die Extase wirkliche Thatsachen, seei von jedem Betruge seien, legte er in überzeugender Weise physiologische Erklärung, die Dr. Warlomont ge­zeden, nicht allein ungenügend, sondern auch vollständig irrig Ei.Ich halte deßhalb, so schloß Professor Lefebvre seinen Flehrten Vortrag,einfach und schlechthin die Folgerungen neiner Schrift über die Thatsachen zu Bois'Haine aufrecht:

?, Stigmatisation und die Extase Louise Lateau's sind wahre und wirkliche Thatsachen und die Wissenschaft hat keine physio­sische Erklärung derselben geliefert. Betreffend die Frage der

Abstinenz erklärte Professor Lefebvre, daß man keinen Grund habe, an derselben zu zweifeln; daß aber diese Erscheinung, die noch außerordentlicher sei als die Extasen und die Stigmata, um den Charakter einer wissenschaftlichen Authenticität zu er­langen, noch vorerst ähnlichen Prüfungen, wie die übrigen That­sachen, unterworfen werden müßten. In der Sitzung vom 26. Juni hörte die Academie den Dr. Crocg, Professor an der freien Universität zu Brüssel. Dieser suchte, nachdem er eben­falls die Wahrheit und Wirksamkeit der Extasen und der Stig­matisation des jungen Mädchens constatirt hatte, seinerseits eine wissenschaftliche Erklärung dieser Erscheinungen zu geben. Sein ausgedehnter Vortrag nahm noch einen Theil der folgenden Sitzung vom 10. Juni in Anspruch. In dieser Sitzung ergriff Dr. Warlomont nochmals das Wort, um der scharfen Kritik, die Professor Lefebvre seinem Berichte widerfahren ließ, zu be­gegnen. Nachdem der Berichterstatter geendet, wurden zwei Tagesordnungen eingebracht; die eine ging von Dr. Crocq aus und hatte folgende Fassung:

Die Academie in Erwägung:

daß die bei Louise Lateau festgestellten Erscheinungen sich einer physiolo­gischen Erklärung nicht entziehen;

daß man sich mit denjenigen Erscheinungen, die nicht constatirt sind, nicht weiter zu befassen braucht;

Erklärt die Discussion für geschlossen und geht zur Tagesordnung über.

Die andere Tagesordnung war vom Dr. Kuborn verfaßt und lautete:

Die Academie in Erwägung:

daß die bei dem jungen Mäochen zu Bois'haine wirklich constatirten Thatsachen gar nicht neu sind und sich durch die Gesetze der pathologischen Physiologie erklären lassen;

daß die behauptete längere Abstinenz(abstinence prolongée) von der Commission nicht beobachtet wurde;

daß, da eine Controle weder ausgeübt wurde noch ausgeübt werden konnte, man sich bei dieser Thatsache nicht weiter aufzuhalten braucht, sondern sie als nicht vorhanden betrachten kann;

verfolgt ihre Tagesordnung.

Die Discussion wurde durch die academischen Ferien unter­unterbrochen und konnte erst am 9. October wieder aufgenommen werden. Den größten Theil dieser Sitzung nahm Dr. Léföbre in Anspruch. Indem er die Theorie des Dr. Crocg und die Erwägungen, die Dr. Warlomont zur Vertheidigung seines Be­richtes neuerdings angeführt, Satz für Satz widerlegte, zeigte der gelehrte Löwener Professor, daß alle die wissenschaftlichen Erklärungen, die seine Gegner zu geben versucht, ebenso unge­nügend als irrig seien und hielt mit aller Entschiedenheit seine bereits vorgetragenen Schlußfolgerungen aufrecht:Die Stigma­tisation und die Extase sind wahre und wirkliche Thatsachen, von denen Sie selbst erklärten, daß bei denselben von Betrug keine Rede sein könne, und Sie haben keine physiologische Er­klärung derselben gegeben!" Darauf einer Bemerkung des Dr. Warlomont begegnend, der ihm vorgeworfen hatte, daß er Nichts aufgebaut, sondern nur die Erklärungen, die man zu geben ver­sucht, über den Haufen geworfen habe, fuhr der Redner fort: Ich erkläre mein Unvermögen, ich gehe nicht weiter als das. Ich suche nicht darzuthun, daß diese Thatsachen übernatürlich seien.Ich bleibe stehen bei einem Motive, welches ich Ihnen bereits vorgetragen: Die Frage von Bois'Haine ist eine ge­mischte Frage; sie hat eine medicinische Seite, die zu unserer Competenz gehört und die wir mitsammen zu erleuchten gesucht haben; sie hat aber auch eine theologische Seite, und diese zu erleuchten haben wir weder die Aufgabe noch das Wifsen. Ich gestehe also mein Unvermögen, eine physiologische Erklärung dieser Erscheinungen geben zu können. Meine ehrenwerthen Gegner gehen weiter. Sie behaupten, eine rationelle Erklärung der Stigmatisation und der Extase zu geben. Aber welche ist denn diese Erklärung? Ist sie diejenige des Dr. Boöns? Ist sie die Dr. Charbonnier's, welcher Sie ohne Zweisel einigen Werth beilegen, da sie doch den Druck seiner Arbeit in das Bulletin der Academie beschlossen haben? Ist sie die, welche der gelehrte Berichterstatter der Academie in seinem Rapporte des Längeren ausgeführt hat? Oder endlich ist sie die des be­rühmten Professors der Brüffeler Universität? Diese mit gro­ßer Schärfe und mit überzeugender Klarheit vorgetragene Au­sicht Prof. Léfébre's, daß die medicinische Wissenschaft nicht im Stande sei die Phenomene von Bois'Haine zu erklären, machte einen unverkennbaren Eindruck auf die Versammlung. Und als man nun zur Votirung der beiden bereits eingereichten Tages­ordnungen schritt, die bekanntlich behaupteten, daß die genannten Thatsachen sich auf dem Wege der Vernunft erklären lassen, da zeigte sich die merkwürdige Erscheinung, daß diese Tagesord­nungen von keinem Einzigen, nicht einmal von ihren Verfassern, aufrecht erhalten wurden. Auf den Vorschlag des Dr. Laussedat ging vielmehr die Academie einfach, ohne irgend etwas zu behaupten, zur Tagesordnung über, d. h. Léfébre hatte gesiegt. Das ist Alles, was wir wollen. Dieses beredte Schweigen der Academie besagt ge­nug. Eine große medicinische Körperschaft, zu deren Mitgliedern die hervorragendsten Ge­lehrten von ganz Belgien gehören, erklären offen vor aller Welt, daß die Extasen und die Stigmatisation des armen Mädchens von Bois 'Haine, die von den Freidenkern aller Herren Länder verhöhnt und verspottet wurden, wirk­lich und wahrhaft vorhanden seien, und gesteht ebenso offen ihr Unvermögen, eine wissen­schaftliche Erklärung der selben geben zu kön­nen. Daß damit Prof. Virchow mit seinem berüchtigten Dilemma:Betrug oder Wunder" gerichtet ist, liegt auf der Hand. Aber noch mehr als das! Wenn in Zukunft die Kläffer der liberalen Presse wiederum auf der ganzen Linie gegen die Erscheinung von Bois'Haine anschlagen, dann können wir sie auf den Beschluß der kgl. medicinischen Academie zu Brüssel hinweisen und ihnen sagen:Kümmert euch nicht um Sachen, von denen ihr ja doch nichts versteht; Gelehrtere Leute als ihr haben ihr Urtheil gesprochen; ihr macht euch nur vor aller Welt lächerlich, wenn ihr hiergegen ankämpft! Die medieinische Seite der Frage von Bois'Haine wäre also, um mit dem Löwener Professor zu reden, beleuchtet; nun bleibt noch die Beleuchtung der theologischen Seite übrig. Aber bekanntlich hat die Kirche, der allein hierin ein competentes Urtheil zu­kommt, die Acten der Untersuchung noch nicht geschlossen. Es bleibt also noch jedem Katholiken freigestellt, über Louise Lateau zu denken, was ihm beliebt. Aber das kann man ja jedenfalls jetzt schon mit Gewißheit sagen, daß, wenn auch Gott mit der Zulassung des Phenomens von Bois'Haine keinen anderen Zweck verband, als diesen, die auf ihre wirklichen oder ver­meintlichen Errungenschaften so stolze moderne Wissenschaft ihrer Thorheit und ihres Unvermögens zu überführen, derselbe voll­ständig erreicht ist. Parva mundi elegit, ut fortia quseque confundat!

Deutschland.

1 Berlin, 20. Oct. Nicht blos das Anknüpfen neuer ver­wandtschaftlicher Familienbeziehungen mit dem alten Preußen­adel, auch noch andere Symptome deuten darauf hin, daß Fürst Bismarck mit der feudalen Junkerpartei von Neuem, und mehr als jemals Fühlung sucht. War doch Fürst Bismarcks Neigung niemals bei den Liberalen, und nur gezwungen, weil die alte conservative Partei bei seiner äußeren und inneren Poli­tik nicht mit ihm fortwollte, reichte er über die Köpfe dieser Partei hinweg den Liberalen die Hand, aber sicher mit dem Bewußtsein, mit diesen Mächten keinen ewigen Bund zu flechten. Nachdem nun allmälig die alten Conservati­ven mit wenigen Ausnahmen sich zur Politik des Reichskanzlers bekehrt haben, ist für letzteren kein Grund mehr da, die alle Noblesse noch länger zu meiden, in deren Gesellschaft er sich ja doch am liebsten steht. Daß diese politische Reconciliation eine beschlossene Sache ist, geht schon aus dem Umstande hervor, daß ohne die mindeste Rücksicht auf die Wünsche und Ansichten der Liberalen die Strafgesetznovelle, die eine fast mehr als hinter­pommersche Reaktion athmet, im Reichstage zur Vorlage ge­langen wird, und dann dürfte der Reichskanzler, sind die Libe­ralen nicht zahm und willig, ihnen ebenso die Freundschaft aufsagen, als er dies vor mehreren Jahren den störrigen Conser­vativen gegenüber beim Schulaufsichtsgesetz that. Die Liberalen werden also in der bevorstehenden Reichstagssitzung vor die kritische Alternative sich gestellt sehen, bei den Forderungen der Regierung in Bezug auf Militäretat, Bier= und Börsensteuer und die Strafge­setznovelle entweder wieder wie gewöhnlich ja zu sagen und damit, wie sie selbst sagen, mit allen bisherigen liberalen Traditionen zu brechen, Alles wieder preiszugeben, was sie der Regierung seit der liberalen Aera abgerungen und so sich beim Volke lächerlich, verächtlich und unmöglich zu machen oder aber im letzten Augenblicke sich noch einmal energisch aufzuraffen, Widerstand zu leisten und damit bewirken, daß ihnen der Laufpaß gegeben, und über sie hinweg eine neue Regierungspartei geschaffen wird. Und allem Anscheine nach, wird diesmal das Letztere geschehen. DieMagdeburger Ztg. will ihren Lesern einreden, daß die liberalen Krachstimmungsberichte aus ultramontaner Quelle stammten und daß zwischen Regierung und derganz ein­müthigen liberalen Partei die herrlichste Harmonie herrsche, aber mehr denn sonst können wir bei diesen Lasker'schen Ententecordiale=Versicherungen ausrufen: Wer's glaubt, zahlt einen Reichspfennig! Zunächst, was sollten die Ultramontanen für ein Interesse haben, derartige Gerüchte aufzubringen, sie würden, läge nichts vor, die liberale Partei dadurch nur um so fester binden, anstatt sie zu sprengen, und dann, wie sollten die Ultra­montanen solche Gerüchte gerade in die liberalen Zeitungen ein­schmuggeln können? Und doch haben grade liberale Zeitungen zuerst die böse Kunde gebracht.Der Reichskanzler kann uns nicht entbehren", trösten sich die liberalen Herren,denn wir wurzeln im Volke! Die armen Schäker befinden sich also noch immer in der argen Selbsttäuschung, als ob ihre Partei noch Wurzelik im Volke hätte. Das sind Tempi passati. Fuimus Troés! Das werden sie gar bald zu ihrem Leidwesen erkennen. Seine Wirthschaftspolitik, die ihre Kernpunkt in der Ausbeutung des arbeitenden Volkes hatte, seine reaktionären Concessionen an die Regierung imCulturkampf hat den landläufigen Liberalismus fadenscheinig gemacht und so um alle liberale Reputation gebracht, daß wir mit Recht ein gewisses altes deutsches Sprüchwort auf denselben anwenden könnten. Die nächsten Wahlen werden beweisen, daß die Mitglieder der libe­ralen Fraktion wohl hie und da noch auf den Namen des Fürsten Bismarck gewählt werden, wenn sie bis dahin noch seine Partei sind, nirgends aber auf ihren Liberalismus. Das weiß Fürst Bismarck so gut wie wir und nur die Liberalen sind so verblendet, daß sie sich noch für etwas halten, was sie nicht mehr sind. Doch quem deus perdere vult, dementat! Sie halten sich noch für eine große und gewichtige Partei, während sie in Wirklichkeit auf Null reducirt sind, im Land­volke gar nichts mehr als Partei bedeuten und in den größeren Städten nur noch so lange das große Wort führen, als der socialistische Pöbel nicht gegen sie losgelassen ist. Um eine etwaige revolutionäre Opposition der Liberalen gegen die Re­gierung zu bekämpfen, würde es nicht einmal eines Bayonettes bedürfen, in solche Bedeutungslosigkeit ist diese Partei in den letzten Jahren versunken. Man müßte in Varzin die Augen zugehabt haben, wenn man das nicht Alles wüßte und es sich überlegt hätte. Daher neue Alliancen! Mit einer so abge­hausten Partei weiter zu regieren, das wird ein Staatsmann, wie Fürst Bismarck einer ist, sich wohl erst zwei= oder dreimal überlegen.Wir Liberale von rechts und links sind ein Herz und eine Seele, eine Spaltung in unserer Partei ist unmöglich, noch nie seit den acht Jahren ihrer Existenz hat die national­liberale Partei so einmüthig operirt als grade jetzt", ruft die Magdeb. Zig. emphatisch aus. Die Art Einmüthigkeit! Als ob eine Partei noch einmüthig sein könnte, die ihre Principien längst aufgegeben hat und nur auf Basis ihrer Sonderinteressen noch zusammengeht. Zieht Fürst Bismarck seine kettende Hand von der liberalen Partei ab und donnert ihr einSeid ge­wesen" zu, da fällt mindestens die Hälfte um und geht mit klingendem Spiel in das Lager der neuenBismarckfraktion" über. Der nationalliberaleHann. Cour. der von Bennigsen und Miquel inspirirt wird, erklärt bereits die Delbrück=Camp­hausen'sche Wirthschaftspolitik für eine solche, welchesich ausgefahrenen Geleisen bewegt. Und in derselben Nummer schreibt das Blatt:Wir unsererseits glauben, daß Fürst Bis­marck allerdings schon die heutige Kammermajorität für ab­gethan erachtet, nachdem sie namentlich auf dem Gebiete des Culturkampfes die erforderlichen Dienste geleistet hat. Das hat sie aber auch wesentlich in ihrem eigenen Interesse gethan, wird also schwerlich Dank dafür in Anspruch nehmen. Augenscheinlich faßt der Reichskanzler schon die kommende Diät in's Auge, welche von anderen Interessen, so vor allem der Wirthschafts­politik, bewegt sein wird. Es erscheint ferner unzweifelhaft, daß der Fürst auf die Gestaltung der neuen Vertretung einen weitreichenden Einfluß auszuüben in der Lage und Willens sein wird.

* Berlin, 20. Oct. An der heutigen Verhandlung des Arnim'­schen Processes in dritter Instanz nehmen unter dem Vorsitz des Präsidenten v. Ingersleben die sechs Ober=Tribunalsräthe Kuhne, Eding, Wegens, Thewalt, Hahn, Delius Theil. Justiz­rath Dorn fungirt als Vertheidiger. Zu den Acten sind insbe­sondere die vom Vertheidiger zur Begründung seiner Nichtig­keitsbeschwerde gegen das zweitinstanzliche Urtheil eingebrachte Schrift, die schriftlichen Gegenausführungen des General=Staats­anwalts und die Entscheidungsgründe zu dem zweitinstanzlichen Urtheile gegeben. Nachdem General=Staatsanwalt und Verthei­diger erklärt, daß sie auf den Inhalt der 13 kirchenpolitischen