Nr. 220. Erstes Blatt

Paderborn, Freitag, 14. September 1928

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Die zweite Räumungsbesprechung

Doppelseitige Kontrolle?

Front gegen Front in Wien

Die Wiener Bevölkerung ist nicht ohne Sorge vor dem 7. Oktober, einem Sonntag, an dem die Heimwehr des Tiroler Bundesrats Dr. Steidle in dem der Stadt Wien vorgelagerten Gebiet von Wiener-Neustadt eine be­waffnete Kundgebung veranstalten will. Die Wiener-Neu­stadt ist ein Vorort mit sehr starker Arbeiterbevölkerung. Die österreichischen Sozialisten haben dort einen besonders breiten Mitgliederbestand. Weil dem so ist, ist die Ver­anstaltung von sozialdemokratischer Seite als eine Provo­kation bezeichnet worden, und man hat sich beeilt, für denselben Tag eine sozialdemokratische Gegenkundgebung vorzubereiten, die ebenfalls in Wiener-Neustadt stattfinden soll. So steht an diesem Tage Front gegen Front und da die Parteigegensätze in Oesterreich außerordentlich hart und leidenschatflich sind, wächst in der Bürgerschaft, je näher jener Tag kommt, die Nervosität.

In Reichsdeutschland ist es allgemein verboten, daß die Wehrverbände, die ein gegensätzliches Ziel verfolgen, ihre Kundgebungen am gleichen Tage veranstalten. Beispiels­weise duldet es die Berliner Polizei nie, daß etwa der Rote Frontkämpferbund und der Stahlhelm am gleichen Tage in der gleichen Stadt ihre Demonstrationen vornehmen. So hofft man denn auch in Oesterreich, daß die Regierung die Kundgebungen verbietet, doch hat das Kabinett bisher noch keine Stellung genommen.

Ueber den Zweck der Demonstrationen in Wiener-Neu­stadt hat Dr. Steidle in seinem Innsbrucker Bundesorgan sich schon mehrfach geäußert. Vor allem will man dartun, daß man sich den sozialistischen Gesinnungs­zwang nicht mehr gefallen lassen will, der angeblich auf die nicht organisierte Arbeitnehmerschaft ausgeübt werde, auch wolle man gegen eine sozialistische Politik Protest erheben, die die Arbeit des Parlaments in Wien lahmlege. Die Sozialdemokraten halten dem entgegen, daß die Kundgebung eine Offensivaktion sein solle, um Wien unter die Herrschaft des Faschismus zu bringen, wogegen aus den Kreisen Dr. Steidles verlautet, daß sie nicht mit mehreren Armeen anrücken würden, sondern mit höchstens 18000 Mann, und daß sie bereit wären, ab­zurüsten und sich aufzulösen, wenn der rote republikanische Schutzbund mit gutem Beispiel voranginge. Aus neutralem Munde kann man allerdings häufiger hören, daß Dr. Steidle durchaus Demokrat sei und nicht daran denke, faschistische Methoden in Oesterreich einzuführen. Auch sei er, ab­gesehen von gewissen Meinungsschattierungen, dem Bundes­kanzler Seipel sehr ergeben.

Die Heimweyren sind aus den Abwehrvereinigun­gen hervorgegangen, die in den Bundesländern nach dem Ausbruch der Revolution 1918 sich gebildet hatlen, um zu verhüten, daß die rote Flut, die Wien überschwemmt halte, auf die Länder übergreife. Diese Vereinigungen haben aber nie von sich reden gemacht. Nur in dem Kärniner Freiheitskrieg um die Jahreswende 1919/20 haben viele von ihnen eine gewisse Rolle gespielt und dafür gesorgt, daß das Kärntner Land Oesterreich als Grenzwall erhalten bleibe. Der Republikanische Schutzbund dagegen ist stark gewachsen, weil die Sozialdemokratische Partei an ihm ein Interesse gewann, als die Staatswehr unter der Leitung des Heeresministers Vaugoin zielbewußt entpolitisiert wurde. Erst nach dem berüchtigten 15. Juli des vorigen Jahres, als ein Urteil des Obersten Gerichtshofes die sozialdemokratischen Massen in Wien zu graßen Demonstrationen empörte, in deren Verfolg es zu Zusammenstößen mit der Polizei und zum Brand des Justizpalastes kam, haben sich die Heim­wehren straffer organisiert und sind an Zahl ständig gewach­sen. Wenn von sozialdemokralischer Seite jetzt dauernd Alarmrufe ob dieser faschistischen Bewegung losgelassen werden, dann muß in der Tat diese Gruppe nicht ganz belanglos sein.

Es ist bekannt, und der 15. Juli hat es einmal wieder in erschreckender Weise bestätigt, daß die Parteigegensätze in Oesterreich außerordentlich scharf sind. Das hat seinen Grund darin, daß die politischen Meinungsverschiedenheiten belebt und gesteigert werden vor allem durch das verschiedene Weltanschauungsmotiv, aus dem sie gefolgert werden. Die­ser politische und weltanschauliche Gegensatz ist obendrein ein Gegensatz der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kreise. Da er schließlich noch mit der Interessenverschieden­heit von Stadt und Land konform geht, kann man sich leicht eine Vorstellung davon machen, welcher gefährliche Zündskoff in Oesterreich gegenwärtig aufgehäuft ist. Im österreichischen Bundesparlament fühlt sich die Sozialdemo­kratische Partei durch das vereinigle Bürgertum politisch enkrechtet und beiselte geschoben, während im Wiener Stadt­parlament die Sozialdemokraten unumschränkte Herrscher

Ein bisher unbekanntes Dokument

Eigenet Drahtbericht.

Genf, 13. Sept.

Ueber die heute vormittag abgehaltene gemeinsame Be­sprechung in der Rheinlandfrage ir folgendes Kommuniqué ausgegeben worden:

Heute vormittag fand die in Aussicht genommene gemein­same Besprechung statt, in der die Diskussion fortgesetz: wurde. Dabei ergab sich, daß einige Punkte noch weiterer Ueverlegung bedürfen. Die Besprechungen werden daher Sonntagvormittag 10,30 Uhr fortgesetzt.

Wie weiter verlautet, kommt eine Reise des Reichs­kanzlers nach Berlin nicht in Betracht, da die Dele­gation in ständiger Fühlung mit dem Reichskabinett ist Nä­heres über die Besprechung, in deren Verlauf der deutsche Standpunkt unverändert blieb und formulierte Anträge nich: eingebracht wurden, ist im jetzigen Zeitpunkt nicht zu erfahren. Wenngleich die Tatsache der Fortsetzung der Besprechungen irgendwelche Schlüsse nicht zulaßt, wird sie doch als ein im all­gemeinen befriedigendes Anzeichen ausgenommen.

Nach einer Meldung des englischen Arbeiterblattes Daily Herald, soll der deutsche Reichskanzler bei seiner ersten Konferenz mit den anderen Staatsmännern über das Rheinlandproblem auch ein bisher unbekanntes Dokument verlesen haben, das die Unterschrift Wilsons, Clemenceaus und Llond Georges trägt und vom 16. Juni 1919 datiert ist. Der Daily Herald bringt einen Auszug aus dieser Abmachung, in der e heißt:Wenn Deutschland zu einem früheren Da­tum den Beweis seines guten Willens und befriedigende Ga­rantien für die Erfüllung seiner Verpflichtungen gegeben ha ben sollte, sind die beteiligten alliierten Regierungen bereit, zu einem Uebereinkommen über eine frühere Beentigung der Besetzungsperivde unter sich zu gelangen.

Briand, so heißt es in der Meldung weiter, habe nach Verlesung dieser Urkunde erklärt, sie sei lediglich ein Fetzen Papier, weil Amerika den Versailler Vertrag nicht unterzeich­net habe. Die rechtliche Bedentung dieser Urkunde werde unter den Mächten lebhaft diskutiert. Die Bedeutung dieses Dokuments geht über das rein Juristische, das von Briand so verächtlich beiseite geschoben worden ist, hinaus. Seine vo­litische Tragweite kann von keinem unterschätzt werden, für den die internationale Politik mehr ist, als ein Rechtsstreit.

*

Aus den Genfer Meldungen, die sich mit den Verhand­lungen über die Rheinlandräumung beschäftigen, gewinnt man den Eindruck, daß man dieses ernste Problem auch mit einer ernsten Sachlichkeit in Angriff genommen hat. Nach Lage der Dinge muß man dem Vertreter Englands zu­stimmen, wenn er sich dahin geäußert hat, daß man mit einem Festhalten an den abweichenden formal=juristischen Auffassungen einerseits auf der deutschen, anderseits auf der alliierten Seite nicht weiter komme. Dem Echode Paris zufolge soll eine Aeußerung gegenüber dem Reichskanzler Müller lauten:Ueber die Auslegung des Vertragstertes und über die Rechtsfrage werden wir uns niemals verstän­digen. Wir müssen alle Schikanen beiseite lassen und ein praktisches Werk vollbringen. Versuchen wir einen Plan auszuarbeiten, der sobald wie möglich die eine und die andere Partei befriedigt. Auf das Ziel kommt in der Tat alles an. Der juristische Ausgangspunkt tritt demgegenüber weit in den Hintergrund. Man darf sich natürlich nicht der Illusion hingeben, als ob man sich in Genf bereits über Ein­zelheiten der verschiedenen Probleme Rheinlandräumung, Reparationen, Sicherheiten einigen würde. Man wird es vielmehr schon als einen Fortschritt ansehen müssen, wenn die Verhandlungen auch nach Genf in Fluß

sind und in dem Bürgertum die Stimmung aufkommen lassen, als sei es von der sozialdemokratischen Kapitals­feindschaft vergewaltigt.

Die Sozialdemokratie hat auf ihrem letzten Parteitag, obwohl sie unter dem Druck des 19. Juli stand, eine sehr gemäßigte Haltung eingenommen. Allerdings ist die Stim­mung nicht einheitlich, aber ein großer Tell wäre bereit, mit der Christlich-Sozialen Parkei im Bundesparla­ment eine Koalitionsregierung aufzutun und damit in etwa die fürchterliche Kluft im Volk zu überbrücken. Auch christlich=soziale Kreise neigen zu einer solchen Taktik, doch besteht im Augenblick keine Aussicht auf solches Zu­sammenkommen. Im Gegenteil, die Kluft ist in den letzten Monaten durch die Vorlage zweier wichtiger Gesetzentwürfe wieder recht tief geworden, weil sich die Sozialdemokratie

bleiben und wenn damit die Stagnation seit Locarno, die in der Fortentwicklung der Beziehungen Deutschlands zu seinen ehemaligen Gegnern, insbesondere zu Frankreich, ein­getreten war. überwunden ist.

Heute taucht in den französischen Blättern eine interne Lesart auf, die sich auf das von Frankreich in der Rheinlandräumung in Verbindung gebrachte Sicher­heitsproblem bezieht. Der dem französischen Außen­minister nahestehende Marcel Ray, aber auch andere Pariser Blätter. berichten über einen neuen Vorschlag für die Kon­trollfrage, der in Genf aufgetaucht sei und der dahin gehe, der Kontrollkommission, die das entmilitarisierte Rheinland überwachen solle, gleichzeitig die Ueberwachung der franzö­sischen Grenzgebiete zu übertragen. Das Echo de Paris bemerkt aber vorsichtshalber,daß ein Vorschlag in der ge­schilderten Form noch nicht festgelegt sei, daß man sich aber bemühe etwas Brauchbares in der angegebenen Richtung zu finden". Zweifellos würde die Ablehnung, die Deutschland der dauernden Kontrolle des Rheinlandes entgegensetzen muß, schwinden können, wenn volle Parität für Deutschland und Frankreich hergestellt würde. Die große Frage ist nur, ob das überhaupt möglich ist. Was soll denn auf franzö­sischer Seitekontrolliert" werden? Unseres Wissens besteht für Frankreich nicht die geringste rechtliche Verpflichtung, sich in seinen Rüstungen an der deutsch=französischen Grenze irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen. Was hätte da eine Kontrolle für einen Sinn?

Sehr richtig bemerkt auch deshalb der Vorwärts zu diesem Vorschlag:Dabei käme nur heraus, daß eine solche Kontrollkommission längs der französischen Grenze mächtige Festungsbauten, Militäreisenbahnen und Militärtransport­straßen, im deutschen Rheinland aber immer wieder die völ­lige Entmilitarisierung feststellen könnte. Das würde zur deutsch=französischen Annäherung durchaus nicht beitragen!" Wir glauben nicht, daß dieser Vorschlag, der einen gesunden Kern hat, durchführbar sein wird.

Eine interessante Etatdebatte in Gen

Eigener Drahtbericht.

Genf, 13. Sept.

In Genf hat es eine Debatte über den Haushalt des Völkerbundes gegeben, die einiges Interesse beanspruchen kinn. England und Italien haben sich in der Kommission, die den Etat zu beraten hat, für eine Stabilisierung der für die Völkerbundsaufgaben zu bewilligenden Mittel ausgesprochen.

schlug der deutsche Vertreter vor, die übrigen Kom­missionen lediglich auf die erhebliche Steigerung der Ausgaben des Völkerbundes und auf die Notwendigkeil sparsamen Wirt­schaftens aufmerksam zu machen. In dieser Debatte nahm auch Prälat Dr. Kaas das Wort. Er führte aus: Es er­scheine ihm iri gegenwärtigen Zeitpunkt verfrüht, durch eine Stabilisierung des gesamten Budgets einer Erweiterung des Aufgabenkreises des Völkerbundes entgegenzutreten. Es sei vorzuziehen, die Frage der praktischen Erprobung noch weite: zu entwickeln und das natürliche Wachstum nicht verfrüht durch Einführung starrer Formen zu hemmen. Dr. Kaas sprach sich schließlich für die Annahme des französischen Antrages aus. Dementsprechend wurde nach Zurückziehung des eng­lischen Antrages der französische Antrag angenommen. Der Genfer Korrespondent der Germania bemerkt dazu:Für den Kenner der Genfer Verhältnisse kann kein Zweifel darüber bestehen, daß unter diesen anscheinend rein budgetarischen Auseinandersetzungen sich tiefgehende Meinungsverschieden­heiten über die Frage verstecken, welches Ausmaß der Tätigkeit des Völkerbundes gegeben werden soll.

durch sie in ihrer Machtstellung bedrängt fühlen; das sind die Neuregelung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern und die Aenderung der bisher geltenden Miets­gesetzgebung. Gegen diese Gesetze machen die Sozialdemo­kraten Obstruktion, wenn man auch die Meldungen der Wiener Linkspresse nicht wörtlich nehmen soll.

Die demokratischen Zeitungen befürchten, daß der 7. Oktober vor allem zu einer wilden Aufpeitschung der antisemitischen Instinkte führen wird. So kann man die Nervosität der Wiener Bevölkerung verstehen. Man hat den Eindruck, als täte der Bundeskanzler Nr. Seipel gut daran, seinen Parteifreund Dr. Steidle zur Besonnenheit und Mäßigung zu mahnen. Die Polizei aber wird schwere Arbeit haben, die beiden gegeneinander aufgestellten Fronten vor einem Handgemenge zu bewahren.