MFA
— Mikrotilmaschiv
der deutschsprachigen Presse.V.
Nr. 39— 75. Jayrgang.: Morgen=Ausgabe.
Montag, den 22. Januar 1906
Erscheint wochentäglich zweimal,
außerdem an Conutagen einmal. Monatl. Bezugsgebühr 75 Psennig, durch die Post bezogen vierteljährlich .50 Marr. Anzeigengebühren: 20 Pfennig für die einspaltige Kolonelzeile. Annahmeschlus von Inseraten abends 6 Uhr. Hauptgeschäftsstelle, Redaktion und Druckerei: Karlstraße Nr. 5. Fernsprecher: Nr. 181, 580 u. 816. Auf Anruf einer dieser drei Nr. meldet sich die Betriebs=Zentrale, welche die Verbindung mit den einzelnen Geschäftsabteilungen her
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Täglich 2 Ausgaben Unzeiger und Handelsblatt Täglich 2 Ausgaben
Unabhängig=politisches Organ verbunden mit der Zeitung
Die Morgenpost
für Westfalen.
Amtliches Kreisblatt für den WSCM Stadt= und Landkreis Dortmund
Gratisbeilagen:„Die Sonntagspost“(illustriertes Unterhaltungsblatt), Wochentags„Mußestunden“
Verantwortlich: Für den redak
tionellen Teil: Chefredakteur J. von Wildenradt: für Inserate und Reklamen: Buchhalter H. Grävinghoff, beide in Dortmund. Druck und Verlag: C. L. Krüger, G. m. b.., Dorimund. Für Aufbewahrung und Rücksendung unverlangt eingesandter Manuskrip#e, sowie für die Aufnahme von Anzeigen an vorgeschriebenen Tagen und Plätzen wird keine Verantwortung übernommen. Wenn Zahlungen nicht innerh.8 Tagen nach geschehener Mahnung geleist. werden. erlischt jeder Anspruch auf Rabattvergünstigung. Erfüllungsort Dortmund.
Hierzu ein 2. Blatt.
Kleine Chronik.
*) Anläßlich des gestrigen Krönungs= und Ordensfestes sind zahlreiche Ordensauszeichnungen verliehen worden.
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*) Nachfolger Richthofens soll der setzige preußische Gesandte in Hamburg werden.
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*) Die„Natl. Korr.“ meldet, ein aktiver Staatsminister werde demnächst Oberpräsident der Provinz Sachsen werden.
*) Die sozialdemokratischen Demonstrationsversammlungen am gestrigen Sonntage sind nach bisherigen Meldungen allenthalben ohne Zwischenfälle verlaufen.
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Auf der Insel Java sind durch eine Ueberschwemmung 8000 Häuser zerstört worden.
*) Näheres siehe unten.
Redierung und Varlamente.
nle. Höflichkeit, die unschätzbare Scheidemünze im geselligen Verkehr. scheint der Regierung in ihren Umgangsformen mit dem Reichstag hin und wieder ausgehen zu wollen. Aber auch die bloße Vergeßlichkeit, wie sie wohl im Fall der unterlassenen Anzeige über das Hinscheiden des Staatssekretärs v. Richthofen vorlag, wirkt verstimmend und wird auf das „Rücksichtslusigkeiten“.= Konto der Regierung geschrieben, über welches die Mitglieder des Reichstages sehr genau Buch führen. Die hinter uns lieende Parlamentswoche bot wiederholt Gelegeneit, auf einige recht belastende Proteste dieses Kontos hinzuweisen, so bei der Duell= Interpellation, bei der Diätenfrage, bei den Kolonialdebatten und den Erörterungen über die Militärpensionsgesetze.
Den Initiativ=Anträgen gegenüber haben die Regierungsvertreter stets den Brauch geübt— wir erinnern uns nur einiger Ausnahmen beim sog.„Toleranz“= Antrag— nicht in die Debatte einzugreifen, sondern die Wünsche aus dem Hause einzugreifen, sondern die Wünsche aus dem Hause lediglich ad referendum zu nehmen. Die seitens der Sozialdemokraten und der kleineren Parteien gegen den bei der Diäten= Debatte anwesenden Bevollmächtigten des Bundesrats gerichteten versönlichen, teilweis höhnischen Angriffe waren daher recht deplaziert. Vielleicht hätte sich der betreffende Bundesratsbevollmächtigte aus seiner peinlichen Lage ziehen können, wenn er unter Berufung auf den Gebrauch, daß bei Initiativanträgen aus dem Hause sich die Regierung nicht direkt in der Debatte äußert, eine kurze Erklärung abgegeben hätte dahin:„Der Bundesrat ist sich über den vom Reichstag wiederholt gestellten Diäten= Antrag noch nicht schlüssig geworden; aber in Ansehung der Bedeutung der Materie bin ich beauftragt, über die heutige Verhandlung Bericht zu erstatten.“
Nach der veränderten Stellungnahme der Konservativen, die nunmehr bis auf wenige Ausnahmen der Diätenforderung
zustimmen, steht der Reichstag jetzt einmütig zusammen. Abg. Bassermann wies überzeugend auf die Zweckmäßigkeitsgründe hin, welche die Recierung veranlassen müßten, dem wiederholten Trängen des Reichstages nachzugeben. Leicht kann die Zeit bereinbrechen, wo die Regierung, wenn sie sich dauernd diesen Zweckmäßigkeitsgründen verschließt, vor eine politische Machtfrage sich gestellt sieht, deren Lösung sie einem Zwange unterwersen würde, während sie jetzt noch freiwillig zu gewähren sich in der Lage sieht.
In den Kolonialdebatten ließ das Zentrum dem Abg. Erzberger das große Wort zu vielerlei Kleinigkeiten führen, seiner Neigung, die Verhandlung auf das persönliche Gebiet zu führen, trat schließlich der natl. Abg. Dr. Semler wirkungsvoll entgegen. Die Kolonialverhandlungen dieser Woche würden sich aber wahrscheinlich ins Uferlose ausgedehnt haben, wenn nicht der blinde Zufall den redseligen Abg. Erzberger beim Nachtragsetat für Südwestafrika zum Verzicht auf das Wort verleitet hätte. Nicht zum mindesten ist die kolonialfreundliche Stimmung des Reichstages, die selbst die einzelnen Reihen der äußersten Linken ergriffen hat, der persönlichen Kenntnis unserer Kolonien aus eigener Anschauung zu verdanken.
Für das schließliche Schicksal der Militärpensionsgesetze hegen wir die großte Befürchtung. Schon die Taktik des Zentrums und der Parteien der äußersten Linken, den Entwurf wieder, wie in voriger Session, der überlasteten Budgetkommission zuzuweisen, deutet auf eine Verschleppung hin, wo doch wahrlich die größte Eile für das Zustandekommen des Gesetzes nottäte. Unsere Militär= Veteranen wissen nun, auf wessen Seite die Schuld der Verzögerung oder am Ende gar des Scheiterns der Vorlage liegt. Träte aber
wirklich der letztere tief bedauerliche Fall ein——
die Wähler würden kaum nach der Taktik des Zentrums und der äußersten Linken, sondern nach der vollendeten Tatsache urteilen und diesem Urteil der abermaligen Verstärkung der„Partei der Unzufriedenen" Ausdruck verleihen.
Das preußische Abgeordnetenhaus hat, da es die Etatsberatung„kontingierte“ und somit sicher sein darf, den Etat auch rechtzeitig fertig zu stellen, den Kommissionen Zeit zu ihren Beratungen gewährt. Indes trotz allen Fleißes kam das Schulunterhaltungs=Gesetz in der Kommission nur wenige Schritte vorwärts. Entscheidende Beschlüsse, wie über den Paragr. 1 des Gesetzes und über die Versassungsfrage wurden zudem auf den Schluß der Kommissionsberatung verschoben. Soweit sich bis jetzt übersehen läßt, kann ein am Sonnabend eingebrachter Antrag der Nationalliberalen zu Paragr. 10b(über die Verteilung der Schullasten) mit einiger Sicherheit darauf rechnen, die Grundlinie geschaffen zu haben, auf der sich alle anderen Parteien einigen lönnen. In der Steuerkommission des Reichstages geht es ebenfalls recht langsam vorwärts. Man hat dort einen durch die neuen Stenern aufzubringenden Betrag von 200 Mill. Mark als Deckung des Mehrbedarfs für genügend befunden. Ein in dem Reichssinanzwesen gründlich bewanderter badischer Zentrumsmann, der ebenfalls der Kommission angehört, rechnet indes. über die Regierungsvorlage nach dieser Richtung hinausgehend, 270 Millionen aus!
sozialdemokratischen Demonstrationsversemmlungen.
Soweit bis jetzt Meldungen vorliegen, sind die gestrigen sozialdemokratischen Demonstrationsversammlungen allenthalben ohne Zwischenfälle verlaufen. Ueber den gestrigen Sonntag sind uns folgende telegraphischen Meldungen zugegangen:
* Berlin, 21. Jan.(Drahtm.) Der sogenannte rote Sonntag ist in Berlin so ruhig verlaufen wie jeder andere gewöhnliche Sonntag. Von irgend welcher Aufregung war nichts zu spüren. Polizei, wie Militär hatten so gut wie nichts zu tun. Bereit standen sie, um nötigenfalls jeden Putsch im Keime zu ersticken. Uniformierte und Kriminalbeamte hielten sich von morgens an soviel als möglich von den Straßen fern, nur in der Nähe der Versammlungslokale waren kleinere Abteilungen Schutzmannschaft zu Fuß und zu Pferd in den Nebenstraßen anwesend. Fliegende Wachen waren in allen Vierteln eingerichtet, berittene Schutzleute über die ganze Stadt verteilt. Auf dem Hofe des Polizeipräsidiums hielten auch zwei Mannschaftswagen der Feuerwehr, um auf einen Wink Reserve der Schutzmannschaft auf schnellstem Wege dorthin zu bringen, wo man ihrer bedurfte. Die Beamten waren sämtlich mit Revolvern ausgerüstet.
Sämtliche Truppen des Standortes Berlin hielten sich in Alarmbereitschaft, die Offiziere und Feldwebel hatten ihre Dienstrevolver erhalten. Kavallerie und Artillerie stand von morgens an marschbereit. Besondere Vorkehrungen waren für das königliche Schloß getroffen. Auf einem Hof stand ein Bataillon der„Franzer“ feldmarschmäßig ausgerüstet. In der Alexanderkaserne hielt eine Schwadron Gardedragoner mit gesattelten Pferden, in einer anderen Kaserne hielten Gardeulanen. Um 10¾ Uhr rückte eine zusammengestellte Batterie des ersten Gardefeldartillerieregiments feldmarschmäßig ausgerüstet und von Sanitätsmannschaften begleitet aus und fuhr ebenfalls auf den Schloßhof. Jedes Geschütz hatte 21 Schrappnells. Auch die Rettungswachen und Unfallstationen hatten Vorkehrungen getroffen. Das unsreundliche Wetter hat zum großen Teil dazu beigetragen, daß die Straßen nicht sehr belebt waren. Besonders fiel die Abwesenheit von Droschken auf, was darauf zurückzuführen ist, daß die Kutscher an den Wahlrechtsversammlungen teilnahmen. So ruhig wie die Versammlungen verliefen, verließen die Teilnehmer diese, ohne Lärm und ohne jeden lauten Ruf. Die Polizei lenkte den Menschenstrom so, daß er nicht dem Zentrum zufloß, verfuhr aber dabei nicht streng, sondern ließ auf Wunsch die Leute auch nach der anderen Richtung durch.
Das Militär wurde nach Beendigung der Ordensfeierlichkeiten im Schlosse(Empfang der neuen Ordensritter) von dort zurückgezogen. Die Bereitschaft in den Kasernen blieb bestehen. Bis 4 Uhr nachmittags war von Zwischenfällen nichts zu hören.
Die für heute anberaumten sozialdemokratischen Versammlungem, in welchen einheitlich eine Resolution für das allgemeine direkte und gleiche Wahlrecht und eine
zweite, welche den russischen Brüdern die tiefste Sympathie ausspricht, angenommen wurden, verliefen ohne jegliche Störungen. Die Beteiligung an den Versammlungen war eine ganz enorme. Um 11 Uhr waren die Lokale bereits so überfüllt, daß sie polizeilich gesperrt werden mußten. Die größte Versammlung fand in den Räumen der Brauerei Friedrichshain statt, woselbst etwa 4000 Personen anwesend waren. Der Reserent war sichtlich bemüht, alles zu vermeiden, was zu einer polizeilichen Auflösung der Versammlung hätte führen können. Trotzdem sprach er in wärmsten Worten den russischen Brüdern die Sympathie aus und übte eine äußerst scharfe Kritik an dem Wahlrecht der dritten Wählerklasse. Die nachstgrößte Versammlung sand in der Berliner Bockbrauerei am Tempelhofer Berg statt, in der ein Mitglied des Buchdruckergehilfenverbandes, Massinez, sprach. Er schloß nach 1½stündiger Rede mit einem dreifachen Hoch auf die internationale, völkerbefreiende Sozialdemokratie. Trotzdem kam es nirgends zu Zusammenstößen; die Polizei war in sehr geringem Maße vertreten. Man könnte fast sagen, geringer als bei sonstigen Versammlungen. Eine große Wahlerversammlung fand auch im vierten Wahlkreis im Restaurant Sanssonci statt. Hier sprach der Reichstagsabgeordnete Singer ausführlich zu den zwei Resolutionen. Auch hier währte die Versammlung zwei Stunden, ohne daß irgend welche Störungen vorgekommen wären. Die Versammlung ging unter den Rufen: Die internationale Sozialdemokratie und das allgemeine gleiche und direkte geheime Wahlrecht lebe hoch, ruhig auseinander.
* Berlin, 21. Januar. Ueber die heute anläßlich der sozialdemokratischen Protestversammlungen getrofsenen militärischen Maßnahmen werden uns folgende Einzelheiten berichtet: Die Kommandantur hatte die Stadt in ein förmliches Feldlager verwandelt. In sämtlichen Kasernen fand um zehn Uhr vormittags Appell statt. Die Kavallerie war um diese Zeit sattelfertig. Die Infanterie erhielt pro Mann zehn scharfe Patronen. Urlaub wurde nicht ereilt. Die Kirchenparade fiel vollständig aus. Das Schloß soll bis morgen früh unter Kavalleriebemachung bleiben. Ebenso wie Berlin waren auch die Vororte militärisch besetzt. Nach Weißensee hinaus war bereits am frühen Morgen das Gardetürassierregiment ausgerückt. In den östlichen Vororten war ein Infanterieregiment aus Küstrin eingetroffen. Weitere Regimenter des dritten Armeckorps waren zur Besetzung der übrigen Ortschaften in der Umgegend Berlins lommandiert. Auch das Polizeipräsidium hatte weitgehende VVorkehrungen zum energischen Einschreiten bei etwaigen Exzessen getrofsen. Die gesamte Schutzmannschaft stand in Bereitschaft.
Um zehn Uhr verließ der Kaiser das Schloß, um eine Automobilfahrt nach dem Tiergarten zu unternehmen und kehrte eine Stunde später, von brausenden Hochrufen des zahlreichen Publikums unter den Linden begrüßt, nach dem Schloß zurück. Der Verkehr unter den Linden unterschied sich in den Vormittagsstunden in nichts von dem üblichen Sonntagsbild dieses Straßenzuges. Erst gegen ¾2 Uhr fanden Ansammlungen größerer Menschenmengen statt, die sich aber bald wieder zerstreuten und gegen 8 Uhr schien der Verkehr unter den Linden sogar noch geringer zu sein als sonst.
Merkspruch.
Beutst du dem Geiste seine Nahrung,
So laß nicht darben das Gemüt;
Des Lebens höchster Offenbarung Doch immer aus dem Herzen blüht!
Th. Fontane.
Gedenktage.
22. Januar.
1901 F Viktoria, Königin von Großbritannien. 1893* Vincenz Lachner zu Karlsruhe. Komponist und Orchesterdirigent. 1871 Beginn der Beschießung von St. Denis. 1788; Lord Byron zu London. Englischer Dichter. 1729. Gotth. Ephraim Lessing zu Kamenz.
Nemesis.
Nach einem Erlebnis. Roman von M. F. v. d. Goltz.
82)(Nachdruck verboten.)
„Ich aber nicht mit Ihnen, Doktor Steinberg,“ sprach Ruth energisch.„Vergessen wir einmal die ganze Gereiztheit der letzten Wochen und reden wir sachlich. Sie, der mir früher von den das ganze Sein und Denken ausfüllenden Herzenswünschen in bezug auf Martha gesprochen, kommen heute, nachdem Martha Herbert für Sie viele Wochen lang kaum mehr zu existieren schien, zu mir und behandeln die ganze delitate Angelegenheit in einer Art und Weise, für die ich keine Worte habe. Sie reden von Ihren Ehrbegriffen, von Vorwürfen, die Sie sich zu machen haben und vom Einlösen Ihres Wortes dieserhalb! Mir brummt der Kopf darob, kann ich nur sagen. Weder Fräulein Herbert noch ich gaben Ihnen jemals Veranlassung zum Glauben, daß man Sie zu einer Ertlärung dränge—“
Nur ruhig, nur sachlich, beschwichtigte Ruth in Gedanken die beim Reden ihrer immer mehr Herr werden wollende Empörung.
„Sie aber stehen hier vor mir und aus jedem Ihrer Worte klingt die wegwerfende Ansicht heraus: Ihr beiden Frauen wartet nur auf den geeigneten Moment, um mich armes Opfer zum Altar zu schleppen. Sie reden von der Werbung, als sei's ein Pferdekauf! Pfui, Doktor, Sie wollen
die Sache im alten Jahr noch aus der Welt schaffen, so sprechen Sie, und mir wersen Sie, weil ich das Kind beim rechten Namen nenne, Mangel an Zartgefühl vor? Wie benennen Sie dann wohl Ihr Vorgehen? Wissen Sie, Herr Doktor, wenn die Wandlung, die mit Ihnen vorgegangen ist, mich nicht so furchtbar schmerzte, ich nicht immer noch hoffte, ein offenes Wort von Ihnen zu hören, hätte ich Ihnen zu Anfang unserer Unterredung die Türe weisen müssen. Sprechen Sie wenigstens dies offene Wort, damit Sie mir nicht ganz ein Rätsel bleiben!“
Der Doktor war, während Ruth sprach, mehrmals zusammengezuckt, hatte aber keine Miene verzogen.
Ja, sie hatte recht, von ihrem Standpunkt aus, sie meinte es auch gut; er hatte sich ihr früher zu sehr untergeordnet, nun wollte sie weiter dominieren. Auch Martha tat ihm leid, aber er konnte nicht helfen, es war ihm unmöglich, obwohl er ein paarmal den Anlauf dazu nahm, Ruth zu bekennen: Ich liebe die Frau, der Du so wenig Gutes zutraust, deren Mann noch nicht drei Monate unter der Erde liegt; ich bin tatsächlich ein anderer geworden, ich liebe die Frau bis zum Wahnsinn. Neben ihr verschwindet mir alles, auch Recht und Unrecht; ich weiß selbst nicht mehr, weshalb ich so oder so handele; ich muß, blindlings, ob eine Logik in meinem Tun liegt oder nicht. Sie sagt mir: Sie haben sich zu stark engagiert, schaffen Sie klare Verhältnisse, und das will ich. Wie konnte er dies der hohen, edeldenkenden Frau gegenüber anders, als durch eine Werbung? Bekam er einen Korb, ja dann— dann ging er beglückt von dannen, ein freier Mann.
Da sah er sie wieder vor sich.„Was zauderst Du,“ glaubte er sie sagen zu hören,„vorwärts, wende dem alten törichten Mädchen den Rücken, mache dich los vom Einfluß dieser engherzigen Menschen, handle!“ Und er raffte sich auf, er mußte seine Rolle zu Ende spielen.
„Es mag sein, Schwester Ruth,“ hub er an,„daß ich mit einigen Acußerungen im Laufe unserer Unterredung zu weit gegangen. Tragen Sie mir dies nicht nach. Bedenken Sie auch, wie sehr Sie mich gereizt. Daran, daß wir uns nicht mehr verstehen, tragen wir wohl beide Schuld. Und vergessen Sie nicht, daß es sich in meinem Anliegen nicht um Sie, sondern um Martha handelt, der wir doch auch eine Stimme zuerkennen müssen. Jedenfalls, Ruth, sind Sie nicht berechtigt, einen Heiratsantrag meinerseits für Ihren Schützling
zu unterschlagen, bloß, weil ich Ihren Beifall nicht mehr habe. Seien Sie verständig!"
Ruth hatte sich an ihren Schreibtisch gesetzt und stützte den Kopf in die Hand. Tausend Erwägungen zogen durch ihren Sinn. Mußte sie Martha nicht unbeeinflußt die Entscheidung überlassen, durfte sie derart in das Schicksal des jungen Mädchens eingreifen, deren Herz an diesem Manne hing? Hatte sie dazu ein Recht? Konnte nicht doch vielleicht alles gut werden? Ihre bessere Ueberzeugung aber rief energisch: nein, nein und abermals nein. Sie durfte nur an jenen Abend denken, an dem sie in der Absicht, eine Krantengeschichte in des Arztes Zimmer zu legen, dasselbe betreten, ohne anzuklopfen, da sie ihn nicht zuhause wähnte. Ein eigentümliches Bild hatte sich ihr geboten und ihren Fuß an die Schwelle gebannt. Der Doktor stand wenige Schritte von ihr entfernt an einem Tisch und hatte vor sich mehrere Bilder liegen. Mit ihren scharfen Augen erlannte sie unschwer auf ihnen die Gestalt und Züge von Frau Falke. Eines davon hielt er gerade in der Hand, dicht vor seinem Gesicht, und jetzt beugte er den Kopf und bedeckte das Bild mit so leidenschaftlichen Küssen, als habe er nicht ein Stück Papier, sondern das Original vor sich. Und dieser Mann erkühnte sich—! Emvörend! Und Ruth erhob sich schnell und entschlossen:
„Herr Doktor Steinberg, ich weiß, Sie tragen seit Jahren ein Bildchen Marthas in Ihrer Brieftasche mit sich herum, wollen Sie mir dies Bild jetzt zeigen? Wollen Sie, dann werde ich versuchen, mich zufrieden zu geben.“
Der Doktor hatte, als Ruth sich an ihrem Schreibtisch niedergesetzt, sein Portefeuille gezogen und begonnen, sich einige Notizen zu machen, wie um seiner Widersacherin Zeit zu einer friedlichen Antwort zu lassen. Jetzt fuhr er sichtlich zusammen.
„Ich habe das Bild nicht bei mir; ich habe es gut verwahrt", und im Bemühen, einige Blätter Papier, die er hervorgczogen, rasch wieder zu bergen, entfiel den weiten Fächern der Brieftasche eine Photographie und flog an Ruths hellgrauem Kleidersaum nieder, wo es mit der Kehrseite nach oben liegen blieb. Rasch bückte sich Steinberg darnach, doch Ruth kam ihm zuvor, mit spitzen Fingern nahm sie das Bild auf und legte es mit einem unbeschreiblichen Blick in des Arztes ausgestreckte Hand.
„Das überrascht mich nun nicht mehr sonderlich“, sprach sie verächtlich, ich dachte es mir, aber“ — und sie fuhr sich mit der Hand über die Stiene
—„aber nun frage ich Sie noch einmal: Wie
können Sie es wagen, mit dem Bilde dieser Frau auf dem Herzen die Hand eines Mädchens, wie Marthas, zu begehren? Sind Sie so ganz von Gott verlassen, daß Ihnen kein Verständnis mehr ausdämmert für das Frevelhafte Ihres Beginnens? Sie sind ganz in Fesseln und Banden dieser Frau Falke, sie besitzt jeden Ihrer Gedanken, Sie vergessen Ihre Pflicht, Ihre Freunde— alles um dieser Frau willen, und dennoch wagen Sie es! Sie erwarten ein Nein und bitten um ein Ja! Sind Sie denn des Teufels?“
Der Doktor war rückwärts zur Tür geschritten, kreidebleich. Dort blieb er stehen.
„Sie werden zur Besinnung kommen, Ruth. Das mit dem Bilde war ein Zufall“, sprach er mühsam beherrscht,„mit Martha wird es mir besser gelingen, mich auseinanderzusetzen.“
„Sparen Sie sich diese Mühe, Doktor Steinberg,“ klang da hinter ihm eine Stimme, die ihn zurückprallen ließ und ihm alles Blut zum Herzen trieb. Martha trat in ruhiger Haltung über die Schwelle und auf Ruth zu, doch ihre Stimme klang ein wenig atemlos, als sie rasch zu sprechen begann:
„Die Türe stand halb offen, Tante Ruth, ich klopfte mehrmals, niemand hörte mich; es wurde aber so laut gesprochen, daß ich die letzten Wechselreden verstehen mußte. Ich kann nichts dafür.“ Steinberg hatte sich völlig gefaßt.
„Fräulein Herbert, Sie können sich aus ein paar aufgefangenen Sätzen unmöglich ein Bild der Sachlage machen und ich bitte Sie, mir zu einer ungestörten Unterredung die Zeit zu bestimmen.“
Martha hatte sich auf einen stummen Wink Ruths einen Stuhl an deren Seite gezogen. Ein tiefer Schmerz lag in ihren schönen großen Augen, in dem ganzen blassen Gesichichen, doch sie sprach ganz ruhig.
(Fortsetzung folgt.)
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modenbaus Ludwig Elemens.