(Erstes Blatt.)
Nr. 246.
Abonnementspreis pr. Quartal M..50. Insertionspreis die einfache Spaltenzeile oder deren Raum 15 Pfennig.
Die Einweihung des Westfälischen Provinzialdenkmals Kaiser Withelmsl.
& Porta, 18. Oktober.
Trübe Luft und gedrückte trübe Stimmung, das war die Signatur des heutigen Morgens. Der Regen goß in Strömen, und es hatte den Anschein, als sollte es so bleiben den ganzen festlichen Tag. Noch um 10 Uhr, als die angstvoll besetzte Dampfbahn uns von Minden nach der Porta brachte, hüllten die regenschwangeren Wolken die Gipfel der Weserberge ein, aber der Himmel hatte ein Einsehen; es blieb trocken. Die Denkmalsterrasse begann sich nach und nach zu füllen. Damen in festlicher Toilette, Herren im schwarzen Frack, Offiziere der verschiedensten Waffengattungen nahmen bis 12 Uhr ihre Plätze ein. Um 12 Uhr begann die Anfahrt der Landtagsabgeordneten und der Anmarsch der Vereinsdeputationen. Immer lebhafter und farbenprächtiger wurde das Bild in dem blendenden Schein der freudig begrüßten Sonnenblitze. Um 2 Uhr war die Aufstellung beendet. Die Aufgänge zum Standbild und die Flanken des Denkmalsauf welchen übrigens die beiden broncenen Löwen noch fehlten, hielten Fahnendeputationen von tausend Vereinen besetzt, unter denen die Turnvereine mit besonders prächtigen Baunern angetreten waren. Rechts dem Denkmal hatten die Chargierten der Münsterischen Studentenkorporationen Platz gefunden, links postierte sich die Ehrenkompagnie. Mitten vor dem Denkmal stellten sich die Offiziere der Mindener Garnison, sowie die Ehrengäste der Provinz auf. Aufs Geradewohl greifen wir einige Namen der letzteren heraus, und zwar in der Reihenfolge, wie wir sie bemerkten. Der Rector magnificus der Akamie zu Münster in goldverbrämtem rotem Mantel, die schöfe Simar von Paderborn und Dingelstad von Münster im Lilagewande, Generalsuperintendent Nebe (Münster) in schlichtem Schwarz, Freiherr von LandsbergVelen, der Präsident des Westfälischen Bauernvereins und andere Herren vom Westfälischen Adel in der auffallenden roten Ritteruniform. Ein großes Kontingent stellten auch die Offizierkorps der benachbarten Garnisonorte.
Gegen 2 Uhr traf der kaiserliche Hofzug in dem festlich geschmückten Minden ein; das Kaiserpaar begab sich sofort zu Wagen, eskortiert von einer Schwadron Münsterischer Kürassiere(Reg. von Driesen) nach dem Marktplatz, wo Herr Oberbürgermeister Bleck folgende Ansprache hielt:„Allerdurchlauchtigster Kaiser und König, Allergnädigste Kaiserin und Königin! Am Einhange zu den westfälischen Landen, deren Vertreter auf naher Bergeshöhe Eurer Majestäten Ankunft festlich und freudig entgegensehen, wollen Eure Majestäten geruhen, vorab den Willkommengruß der getreuen Stadt Minden huldvollst entgegenzunehmen. Wie das von der Provinz zur dankbaren Erinnerung an Kaiser Wilhelm den Großen errichtete Denkmal für alle Zeiten Zeugnis davon ablegen soll, daß die Westfalen stets und allewege in deutscher Treue feststehen zu ihrem Kaiser und zum Reich, zum Könige und zum Vaterlande, so drängt es auch die Bürger dieser Stadt, in dieser für sie denkwürdigen Stunde Ew. Majestäten hiermit das Gelübde unverbrüchlicher Treue und Anhänglichkeit zu ernenen. Gott segne Eure Majestäten und das ganze königliche Haus.“
Der Kaiser drückte dem Bürgermeister zu wiederholten Malen die Hand und dankte für den herzlichsten Empfang. Drei Damen in weißen Kleidern überreichten der Kaiserin einen prachtvollen Blumenkorb. Die Kaiserin
„ mit Händedruck, der Kaiser durch freundliches Zunigen. Der Actus dauerte etwa 4 bis 5 Minuten, dann ging der Wagenzug unter den brausenden Hurrahrufen der dichtgedrängten Menge zur Porta. Auf dem Wege bildeten Kriegervereine, Feuerwehrcorps und etwa 1000 Männer und Frauen in der eigenartigen bunten Landestracht der Mindener Gegend Spalier.
Es mochte etwas später als ½3 Uhr geworden sein, als das Kaiserpaar unter stürmischen Hochrufen der Anwesenden auf dem Wittekindsberge eintraf. Vorauf ritten 2 Spitzenreiter, dann folgte zu Wagen der Landrat Bosse von Minden, ein Adjutant zu Pferde, dann kam das Kassr gar in offenem Vierspänner, dem eine halbe Schwadron Kürassier voraufritt und folgte. Den Schluß bildeten die Vierspänner des Kaiserlichen Gefolges. Der Kaiser trug die Uniform seines Leibhusarenregiments mit hellgrauem Mantel, die Kaiserin eine entzückende Robe aus seegrünem Seidenplüsch mit Goldstickerei und Nerzbesatz, ein Hütchen Toque=Form mit Gold.
Das Kaiserpaar betrat, nachdem der Kaiser die Front der Ehrenkompagnie abgeschritten hatte, den Pavillon, wo der Herr Oberpräsident Studt, Exzellenz Oheimb, Landeshauptmann Overweg, Frhr. von Landsberg=Steinfurt durch Ansprachen ausgezeichnet wurden. Während ein Chor von 900 Sängern eine Begrüßungshymne vortrug, unterhielt sich Se. Majestät fast ausschließlich mit seinem früheren Erzieher, Geheimrat Hinzpeter.
Dann nahm der Vorsitzende des Westfälischen Provinziallandtags, Excellenz v. Oheimb das Wort zu einer längeren Ansprache an das Kaiserpaar, in welcher er auf die hohen Herrschertugenden Wilhelms des Großen hinwies und auf das Herzensbedürfnis der Westfalen, den Gründer des neuen deutschen Kaiserreiches durch ein Denkmal zu ehren. Heute steht— so schloß Redner— das von bewährten Künstlern entworfene Denkmal vollendet da und bringt uns das Standbild unseres großen, die Hand sequend über unser Land haltenden Kaisers vor Augen. Dasselbe mahnt uns daran, daß wir sein Andenken nur dann wahrhaft in Ehren halten, wenn wir das, was unter ihm und durch deutsche Kraft und deutsche Einigkeit erworben ist, mit deutscher Treue bewahren, wenn wir über die brennenden Partei= und Interessengegensätze unsere Pflicht, gemeinsam das allgemeine Wohl zu wahren und zu fördern, nicht aus den Augen verlieren, vielmehr eingedenk der von Eurer Majestät bei der 25 jährigen Gedenkfeier der Gründung des deutschen Reiches am 18. Jannar d. Is. an uns ergangenen Aufforderung, mit patriotischem Geist dazu helfen, daß das Reich in Eintracht mehr und mehr erstarke und aufblühe, daß Friede, Treue und Gottesfurcht in demselben erhalten bleibe. Dieses Gelöbnis gebe heute dem Denkmale die rechte Weihe. Möge denn Gott uns den inneren und äußeren Frieden erhalten; möge sein Segen auf Eurer Majestät, unserem geliebten, für das Wohl und die Ehre des Reiches und des Volkes treu sorgenden Kaiser und Landesherrn, auf Ihrer Majestät, unserer teuren Kaiserin und Landesmutter, sowie auf unserm Vaterlande ruhen. Das walte Gott in Guaden.
Das Kaiserpaar dankte und begab sich dann auf das Denkmal zur näheren Besichtigung, während ein Posaunen= hor von 1200 Bläsern seine machtvollen Weisen erschallen ließ. Unten wieder angekommen, nahm der Kaiser den Parademarsch der Ehrenkompaqnie ab und beehrte verschiedene Herren mit Ansprachen. Herr Frhr. v. Landsberg= Steinfurt, Vorsitzender des Provinzialausschusses, reichte dem Kaiser einen Ehrentrunk mit kurzem Ausdruck der Freude über den hohen Besuch zu allen Eingesessenen der Provinz, worauf der Kaiser ungefähr Folgendes antwortete:
Montag den 19. Oktober 1896.
Mein lieber Herr von Landsberg! Ich habe mich gefreut, die Einweihung dieses herrlich gelungenen Denkmals meines hochseligen Großvaters beiwohnen zu können. Ich erblicke in der herzliche Begrüßung, welche mir und meiner Gemahlin hier an der Eingangspforte zum Westfälischen Lande zu Teil geworden ist, einen neuen Beweis für die Treue und Anhänglichkeit, welche der biedere Stamm meiner Westfalen mir und meinem Hause von jeher entgegengebracht hat. Ich hoffe und vertraue, daß diese sprichwörtlich gewordene Treue, wie bisher, auch in Zukunft, in guten und in bösen Tagen sich bewähren wird. Ich bin überzeugt, daß ich in dem Moment, wo es gelten sollte, die Größe und Ehre des Vaterlandes zu verteidigen, meine Westfalen mit dem Kolben in der machtigen Faust an der Spitze finden werden. Ich leere dies Glas auf das Wohl meiner Provinz Westfalen. Sie lebe hoch, boch, hoch!
Gegen ¾44 Uhr verließ das Kaiserpaar den Wittekindsberg unter steten Zurufen der Menge. Während all' der Zeit hatte sich das Wetter gut gehalten; die Sonne behauptete siegreich die Herrschaft. Aber kaum hatten wir den Dampfer erreicht, der uns die Weser hinauf wieder nach Minden bringen sollte, da brach ein Regenschauer aus, wie es schlimmer für solche Veranstaltungen nicht gedacht werden kann. Vom Dampfer aus sahen wir den kaiserlichen Zug um 4 Uhr 40 Min. nach Wiesbaden zu fahren.
Der Kaisertag an der Porta ist vorüber, aber die Erinnerung daran wird bei Allen lebendig bleiben, die ihn mitgefeiert haben.
Nach den Pariser Russenfesten.
Ein Stimmungsbild aus der französischen Hauptstadt, das dieselbe ruhige und kühle Auffassung von der durch den Besuch des Zaren in Frankreich geschaffenen politischen Lage bekundet, wie sie in voriger Nummer dieser Zeitung zum Ansdruck gebracht worden, zeichnet der Pariser Berichterstatter der„Frankf. Ztg., der seinem Blatte unterm 14. Oktober schreibt:
Der Begeisterungsrausch ist verflogen, und die erhitzten Köpfe beginnen auszukühlen. Die Presse fängt an, endlich auch von anderen Dingen, als von dem Zarenbesuch zu sprechen; man nimmt die alte liebgewordene Gewohnheir wieder auf, zu schimpfen und zu schmähen, wozu die verflossenen Festtage selbst eine Fülle neuer Anlässe geben. Man fällt über das Protokoll her, über die Regierung und über den Staatschef, obwohl dieser doch mit soviel Takt und Bouhommie sich aus der Affaire gezogen und während seines Beisammenseins mit dem Zarenpaare keine einzige der„gaffes“ gemacht hat, die man befürchtete. Man gerät sich auch ein wenig in die Haare wegen des Zaren selbst. Jede Partei nimmt ihn für sich in Anspruch, und keine will ihn der anderen gönnen. Die Opportunisten wissen darzuthun, daß der Zar opportunistisch gesinnt sei, während ihre Gegner in dem Umstande, daß der Kaiser einige Worte mit Bourgeois gewechselt hat und sich vom Präsidenten des Gemeinderats hat anreden lassen, den unfehlbaren Beweis dafür sehen, daß Nikolaus II. radikal=socialistisch gesinnt ist. Die Monarchisten suchen die Freude, die das Volk beim Anblick eines gekrönten Hauptes bezeigt hat, für ihre Sache auszubenten, während die Regierungsblätter schlagend nachweisen, wie gerade daraus, daß man eine Woche lang in Paris nichts als„Vive l' Empereur!“ gerufen, die echt republikanische Gesinnung des Volkes hervorgehe. Auch der kriegerische Ton, den die Blätter in den Tagen der Revue von Chälons angeschlagen haben, ist verstummt. Man ist allerdings ein wenig erstannt darüber, weil Deutschland unter dem Eindruck der niederschmetternden Thatsache, daß der Zar fünf Tage lang in Frankreich geweilt hat, noch immer nicht daran denkt, ElsaßLothringen zurückzugeben. Aber man sieht doch auch, daß trotz der schönen Gala=Vorstellungen in der Oper und in der Comédie Francaise, die Kosaken noch immer nicht den Befehl erhalten haben, Straßburg zurückzuerobern. Man beginnt langsam aus dem schönen Traume des Zarenbesuchs zu erwachen, man reibt sich die Augen und man sieht allmählich— trotz des besten Willens, dies nicht zu sehen—, daß nach der Abreise des Zaren die Welt ganz genau so aussieht, wie sie vor dessen Ankunft ausgesehen hat.
So ist es denn während der letzten Tage in der Pariser Presse bedeutend ruhiger geworden. Hoffentlich wirkt die Beruhigung auch auf die Leute außerhalb Frankreichs, die infolge der Ereignisse der Pariser Russenwoche ganz außer Rand und Band geraten sind, besonders auf das offiziöse deutsche Blatt, das die Pariser Vorgänge so furchtbar tragisch genommen und das in seiner Fassungslosigkeit sich gestern gar der Zarin zu Füßen geworfen hat, um deren Fürsprache für Deutschland zu erflehen, das so schwer bedroht ist, weil der Zar ein Paar von Herrn v. Mohrenheim verfaßte Tischreden abgelesen hat. Man kann sich denken, welches Vergnügen die Artikel dieses Blattes(gemeint ist die„Köln. Ztg.“ Red.) den Franzosen machen, die bei den Manifestationen ihrer Russenliebe immer nur von der einen geheimen Angst geplagt wurden: man könnte diese Manifestationen in Deutschland nicht ernst genug nehmen! Das oft offiziöse Blatt ist bei der Abfassung der Artikel, mit denen es in so unbegreiflicher Weise die öffentliche Meinung in Deutschland glarmiert hat, sicher nicht offiziös gewesen. Die deutiche Regierung selbst hat vor, während und nach den Pariser Russenfesten immer dieselbe ruhige und kühle Auffassung von denselben gehabt, und es herrscht über diese Auffassung, wie ich zu wissen glaube, vollständiges Einvernehmen zwischen der Berliner Centralstelle und den erfahrenen Männern, welche im Auftrage der deutschen Regierung die französischen Vorgänge in Frankreich selbst beobachten. Es bleibt als zweiselloses Ergebnis des Zarenbesuches die Thatsache, daß zwischen Frankreich und Rußland sehr rege und freundschaftliche Beziehungen bestehen, was der Welt längst bekannt war. Daß diese Beziehungen in die Form einer Allianz gekleidet sind, ist nach dem Zarenbesuche weniger wahrscheinlich als je vorher. Denn der Zar hat es sorgfältig vermieden, das Wort„Allianz“ auszusprechen, obwohl er wußte, daß ganz Frankreich sich darnach sehnte, es aus seinem Munde zu hören, und obwohl es ihm in einzelnen Ansprachen, die von französischer Seite an ihn gerichtet wurden, nahe geuug gelegt worden ist. Es ist also weniger als je anzunehmen, daß zwischen Frankreich und Rußland etwas Geschriebenes besteht, und wenn dieser Umstand auch an den vorhandenen Beziehungen wenig ändert, so ist er doch auch nicht gar so unwichtig. Denn der Bündnis=Vertrag ist der heißeste Wunsch der Franzosen, er ist bei ihnen beinahe eine fixe Idee. Die Russen haben ihrerseits nicht die mindeste Lust, sich durch geschriebene Engagements zu binden, und so zeigt sich in diesem Punkte bereits, daß die Russen bei ihren Beziehungen zu Frankreich nur das zu thun geneigt sind, was in ihrem eigenen Interesse liegt, und daß sie den Franzosen, wenn dieses ihr Interesse das nicht erfordert, nicht einmal einen Wisch Papier concedieren wollen. Selbst in Bezug auf die Reise des Zaren haben sie sich lange bitten lassen. Der Zar wollte zuerst nur die üblichen Antrittsbesuche bei den europätschen Höfen machen. Als die Franzoien
das merkten, meldeten sie sich auch zur Stelle: Besuche in Oesterreich, Deutschland, England, und in Frankreich nicht? Wo bleibt denn die Freundschaft? Die französische Regierung, unter dem Drucke der öffentlichen Meinung in Frankreich, begann mit der russischen Regierung zu verhandeln. Die Verhandlungen waren langwierig und nicht leicht. Die russischen Staatsmänner sahen, daß Rußland sich leicht die so wertvolle französische Freundschaft verscherzen könnte, wenn der Zar bei seinen Besuchen die so sehr empfindliche Republik überginge. Unter diesen Erwägungen und wohl auch unter dem Einflusse der KaiserinMutter, die in Rußland die Hauptstütze der Frankreich freundlichen Politik ist, wurde der Zarenbesuch in Paris beschlossen. Der Zar, der die große Herrschertugend hat, sich seinen Ratgebern unterzuordnen, unternahm die Reise, die im Jnteresse Rußlands als notwendig erachtet worden war. Er betrachtet sich als das wichtigste Werkzeug der russischen Staatskunst, und da diese Staatskunst, ihn in Frankreich haben wollte, so ließ er sich dorthin birigieren. Man braucht den Zaren nur einige Male gesehen und beobachtet zu haben, wozu man während der Pariser Feste reichliche Gelegenheit hatte, um den deutlichen Eindruck zu gewinnen, daß dieser kühle und apathische Mann in politischen Diugen kaum je etwas aus eigener Initiative thut. Die persönlichen Aeußerungen, die er während seines Aufenthaltes in Frankreich gethan, sind darum alle konventionell, politisch bedeutungslos. Die Pariser Blätter haben allerlei Worte und Gesten des Zaren zu melden gewußt, denen angeblich ein tiefer Sinn innewohnte. Aber man weiß, wie gern in Paris die Zeitungen bei ihren Berichten das was thatsächlich ist, durcheinanderwersen mit dem, was sie wünschen. Es ist nichts leichter, als Aeußerungen des Zaren zu berichten. Niemand kann das kontrollieren, und es ist nicht zu erwarten, daß der Zar dem betreffenden Blatte ein Dementi senden wird, wenn es eine Unwahrheit meldet. Man hat in Deutschland alle Informationen dieser Art, von denen die Pariser Blätter voll waren, viel zu ernst genommen. Man darf sich in diesem Falle nur auf zweierlei verlassen: auf den Augenschein und auf das offiziell Beglaubigte. Der Augenschein unn lehrte, daß der Zar, je mehr ihn die Pariser Blätter von seinen Pariser Eindrücken erwärmt und begeistert sein ließen, immer gleichgüttig, kühl, müde und wortkarg blieb. Dieser Eindruck wird bestätigt durch allerlei, was man jetzt im Zwiegespräch zu bören bekommt. Bei dem Frühstück, das der Zar in der russischen Botschaft den Mitgliedern des hohen französischen Adels gab, hat er nur wenige Worte mit den beiden neben ihm sitzenden Damen gesprochen, und an keinen einzigen seiner Gäste eine Ansprache gerichtet, worüber diese nicht wenig enttäuscht waren. Beim Besuche der französischen Akademie soll die Kühle und Gleichgültigkeit des Zaren geradezu verstimmend gewirkt haben. Die Akademiker vezichteten auf die Diskussion des Wortes„amitié!“, die sie vorbereitet hatten, und kürzten die Sitzung so viel als möglich ab. In Chälons, wo den Zaren der Anblick der französischen Armee angeblich tief erschütterte, hatte seine Physiognomie, wenn man ihn zu Gesicht bekam, einen Ausdruck, der auch nicht um eine Nuance angeregter und teilnahmsvoller war, als der Ausdruck, den man fort während in Paris beobachten konnte.
Offiziell beglaubigt sind nur die Tischreden. Alle diese Reden hat der Zar abgelesen. Es ist sicher, daß er selbst nicht eine einzige davon verfaßt hat. Der Verfasser war wahrscheinlich Herr von Mohrenheim, auf den diese Auslassungen wenigstens durch ihren franco=russischen Styl hindenten. Nun kennt man die wenig maßgebende tellung, die Herr von Mohrenheim unter den russischen staatsmännern einnimmt. Die russische Regierung läßt ihn in Paris, weil die Pariser an ihn glauben und weil er ihnen das russische Bündnis verkörpert. Was endlich den Wortlaut der Toaste selbst anlangt, so darf man demselben seine Bedeutung nicht abstreiten. Aber auch hier ist es gut, ein wenig sich zu erinnern und zu vergleichen. Das Wort„Wiffeubrüderschaft" im Toaste von Chälons, das so viel besprochen wurde, ist z. B. dort vom Zaren gar nicht zum ersten Mal gebraucht worden. Dasselbe Wort fand sich bereits in dem Kondolenz=Telegramm, das der Zar aus Anlaß der Eisenbahn=Katastrophe von Adelia in Algier, bei welcher französische Soldaten und Offiziere verunglückt waren, an die französische Regierung gerichtet hat. Dann hat der Zar viel vom„schönen Lande Frankreich“ gesprochen; kaum aber hatte er die Grenze überschritten, so sprach er in Darmstadt vom„schönen Lande Hessen.“ Was endlich die Abschieds=Telegramme anlangt, so war die offiziöse Note, welche dieselben in Paris veröffentlichte, offenbar in irreführender Absicht sehr undeutlich abgefaßt, und man bekam den Eindruck, als hätte der Zar das Bedürfnis gefühlt, vor dem Ueberschreiten der deutschen Grenze der französischen Regierung einen Abschiedsgruß zu senden. In Wirklichkeit wurde am nächsten Tage klar, daß das Telegramm des Zaren nur eine Antwort auf ein Abschieds=Telegramm gewesen war, das Herr Felix Faure dem scheidenden Gaste an die Grenze nachgesandt hatte. Man muß sich fragen: wenn das Verhältnis zwischen dem Zaren und Frankreich gar so intim wäre, hätte man es in Frankreich da nötig, solche Kunstgriffe anzuwenden, um es möglichst intim erscheinen zu lassen?
Deutsches Reich.
□ Berlin, 17. Oktober. Der preußische Gesetzentwurf, betreffend die ärztlichen Ehrengerichte, ist fertig gestellt. Da die Aerzte schon längst wissen, was ihnen bevorsteht, so ist es nur begreiflich, daß jetzt, wo mit der Sache ernst gemacht wird, die Proteste immer dringender werden, obwohl der Wortlaut der Vorlage noch garnicht bekannt ist. Trotz der offiziösen Mitteilungen ist es sicher, daß das Gesetz beinahe ausnahmslos alles das enthält, was der vorläufige Entwurf, wie ihn die Aerztekammern zu begutachten hatten, au bedenklichen wie verfänglichen Zumutungen gebracht hatte. Es wird behauptet, daß die Aerztekammern bei ihren Urteilen nicht genügend scharf zwischen der allgemeinen Frage, ob Ehrengerichte wünschenswert seien, und der besondern Frage unterschieden haben, ob die Ehrengerichte, wie sie der Entwurf vorschlägt, gutzuheißen seien. Indem die Aerzte die erstere Frage bejaht hatten und in bezug auf die zweite nur ziemlich formlose Auliegen äußerten, son hiernach der Kultusminister in den Glauben versetzt worden sein, daß die einzelnen Einwände nicht gerade viel auf sich haben, daß die Aerzte in ihrer überwiegenden Mehrheit mit der Vorlage einverstanden seien. Verhalt sich das so, dann darf das Abgeordnetenhaus sich auf einen Petitionssturm gegen den Entwurf gefaßt machen. Leider aber steht zu befürchten, daß die Vorlage so, wie sie ist, durchgehen wird. Eine Volksvertretung, in der die Konservativen beinahe allein schon die Mehrheit ausmachen, wird jederzeit begierig einer Neuordnung zustimmen, die den Einzelnen mit eisernen Ketten an hochgeschraubte Standesvorurteile schmiedet. Die staatliche Disziplinar= gewalt über die Aerzte wird von gleichgestellten Fachmannern ohne Unterschied ihrer etwaigen Beamteneigenschift nicht blos ausgeübt werden, sondern die Regierung behält das Recht, zwei(nach dem ursprünglichen Entwurf
83. Jahrgang.
Erscheint täglich mit Ausnahme der Sonnund Festtage.
Druck und Verlag: Gustav Butz in Hagen. Fernsprecher Nr. 39.
drei) Beisitzer nach eigenem Ermessen zu ernennen, und die Kreisphysici, Universitätslehrer, vor allem die Militärärzte, sollen dem Ehrengericht überhaupt nicht unterstellt sein. Die Forderung des Ausschusses der Aerztekammern, daß gegen ein Disziplinarurteil der Angeklagte allein, nicht auch der Ankläger die Berufung soll einlegen können, ist seitens des Kultusministers nicht berücksichtigt worden. Ebensowenig hat er Rücksicht darauf genommen, daß der Ausschuß verlangte, es möge wenigstens der Paragraph gestrichen werden, wonach in die Zuständigkeit der Ehrengerichte auch das Verhalten des Arztes außerhalb seines Beruses fallen solle, also sein gesellschaftliches oder politisches oder auch privates Verhalten. Auch diese einschneidende Bestimmung also wird Gesetz werden. Nur mit schweren Bedenken kann man sich vorstellen, wie eine Unterordnung des ganzen Aerztestandes unter Rücksichten politischer wie gesellschaftlicher Natur statt der einzig zulässigen Rücksichten, die der Beruf auferlegt, in kritischen Zeiten von befangenen Ehrengerichten gemißbraucht werden könnte.—
O Berlin, 17. Oktober. Während man bisher immer noch glaubte, daß das Zustandekommen der Reform der Militärstrasprozeßordnung auf die lange Bank hinausgeschoben sei, brachte das zu halbamtlichen Mitteilungen der Regierung beuntzte Blatt gestern die überraschende Meldung, daß der Reichskanzler die Ermächtigung erhalten habe, die Vorlage beim Bundesrat einzubringen Die Mitteilung ist von allen Seiten mit lebhafter Befriedigung begrüßt worden; ist sie doch geeignet, die Hoffnung zu erwecken, daß nun endlich eine Angelegenheit zum Abschluß gelangt, die schon seit Jahrzehnten im Mittelpunkte öffentlicher Erörterungen gestanden hat. In Deutschland ist jeder wehrfähige Mann zum Dienen in der Armee gesetzlich verpflichtet, und da hätte man meinen sollen, daß die ganz natürliche Forderung schon längst hätte durchgeführt sein müssen, daß der Deuts he in der Armee demselben Rechtsverfahren unterliege wie in seinem bürgerlichen Berufe. Während man aber in der Armee lebhaft und eifrig allen Fortschritten der Technik und Wissenschaft folgt, ist man auf dem Gebiete der Rechtspflege den veralteten Anschanungen treu geblieben, daß die Oeffentlichkeit des militärgerichtlichen Verfahrens nur geeignet sei, die Disziplin im Heer zu lockern, obwohl in einem Teile der deutschen Armee das öffentliche Verfahren sich seit langer Zeit bewährt hat. Das Verlangen einer modernen Reform der Militärgerichtsbarkeit ist aber so nachdrücklich laut geworden, daß die Regierung sich niht länger hat weigern können, auch auf dem Gebiete der Rechtspflege die bessernde Hand anzulegen. Daß trotzdem dieser Fortschritt nicht ohne Kämpfe erreicht worden ist, ist bekannt genug; haben sich doch gerade an das Schicksal der Militärstrasprozeßordnung alle jene Krisengerüchte geknüpft, die seit Jahr und Tag eine fortwährende Bennruhigung erzeugt haben. Wenn Fürst Hohenlohe erreicht hat, daß er die Vorlage beim Bundesrat hat einbringen können, so darf man wohl nicht daran zweifeln, daß er seinen ganzen Einfluß aufgeboten hat, um bei der Unsicherheit der inneren Verhältnisse wenigstens auf diesem Gebiete den Wünschen der Volksvertretung nachgeben zu können und dadurch wieder eine für die Regierung erträgliche Lage zu schaffen. Freilich wird es erst von dem Inhalte der Vorlage abhängen, ob die geplante Reform auch wirklich als eine Verbesserung der heutigen Prozeßordnung im Heere angesehen werden kann; die Einzelheiten, welche über die Vorlage verbreitet wurden, sind zwar wenig beglaubigt, aber wenn sie sich wirklich bestätigen sollten, so würde von dem Grundsatze der Oeffentlichkeit nicht mehr viel übrig bleiben. Daß dieser Grundsatz nicht in allen Fällen durchgeführt werden kann, mag zugegeben werden, doch darf das Prinzip der Oeffentlichkeit nicht so weit durchbrochen werden, daß die Mehrzahl der militärgerichtlichen Verhandlungen auch in Zukunft hinter verschlossenen Thüren stattfinden soll.
Das in der verflossenen Session nicht zu Stande gekommene Lehrerbesoldungsgesetz ist jetzt von den beteiligten Ministerien in seiner neuen Fassung fertiegestellt. Wenn man den darüber verbreiteten Nachrichten Glauben schenken darf, so wären in dem neuen Entwurf die hauptsächlichsten Streitpunkte beseitigt, die im vergangenen Winter die Vorlage zum Scheitern gebracht hatten. Der Finanzminister Miquel war bereits gegen Schluß der Verhandlungen, als es aber längst zu spät war, geneigt, auf die Entziehung der Dotationen an die Städte zu verzichten, und in der neuen Vorlage ist er den Städten so weit entgegengekommen, als es nach seiner Versicherung überhaupt möglich ist. Außerdem wird jetzt noch gemeldet, daß ein weiterer Stein des Anstoßes beseitigt sei, indem eine Anzahl größerer Städte aus den Alterszulagekassen herausgelassen werden sollten. Die größeren Städte hatten dies berechtigte Verlangen erhoben, weil sie durch die Bildung der Alterszulagekassen-Verbände gezwungen gewesen wären, aus ihren Mitteln für die Besoldung der Lehrer in kleineren Städten und auf dem Lande zu einem erheblichen Teile aufzukommen. Wenn nun jetzt den berechtigten Wünschen der größeren Communen Rechnung getragen wird, so entsteht doch die Frage, ob nun auch die Konservativen und das Centrum bereit sein werden, gerade aus diesem Grunde den neuen Vorschlägen zuzustimmen; es wird daher der ganzen Geschicklichkeit des Kultusministers bedürfen, um die Vorlage in den Hafen zu bringen. Aber Centrum und Konservative werden es sich hoffentlich noch überlegen, ehe sie eine Vorlage abermals zu Fall bringen, die der Lehrerschaft die unbedingt notwendige Regelung ihrer materiellen Verhältnisse ermöglichen soll.
* Berlin, 17. Oktober. Die„Schles..“ meldete, daß von
du erweitern.(Etagt des Reichsamts des Innern einen
besonderen Fonde Zur 1/1e tjäher zur JoIhe Gruaede beren,
mungen einzustellen, da die bisher int wiche Zwbelle herangezogenen Dispositionsfonds anderweitig zu stark in Auspruch genommen seien.
— Für die Verbesserung der Artillerie sollen, wie dem„Lok.=Anz. von besonderer Seite mitgeteilt wird, vom Reichstag neue Mittel verlangt werden. Im Zusammenhang damit ständen die Schießversuche, die im Beisein des Kaisers auf dem Artillerie=Schießplatze zu Kummersdorf stattgefunden haben.
— Zu den neuen Positionen in dem nächsten preuß. Etat wird auch der Posten eines Staatskommissars für die Berliner Börse gehören. Es soll nach den „B. P..“ in der Absicht liegen, diese Stellung nicht im Nebenamte, sondern im Hauptamte wahrnehmen zu lassen, und zwar soll sie mit dem höchsten Gehalte der vortragenden Räte in den Ministerien dotiert werden. Mit Rücksicht darauf, daß der Staatskommissar mit Notwendigkeit in sociale Berührung mit der Bankwelt wird treten
müssen, soll die Stelle mit einer Repräsentationszulage ausgestattet werden.
— Wie die„N. A. Ztg.“ mitteilt, ist Geh. Legationsrat z. D. Frhr. v. Richthofen. bisher Mitglied der