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No. 139.

Witten, Sonntag, den 17. Juni.

1894.

Erscheint wöchentlich sechs Mal. Anzeigen werden die 7 gespaltene Petitzeile mit 10 Pf. berechnet. Fernsprech=Nr. 46(Amt Witten).

Freisinnige Sozialpolitik.

Scherat=Anzeiger für Witten und Umgegend.

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Das seit längerer Zeit und jetzt wieder im Lager des Deutsch=Freisinns, insbesondere der frei­sinnigen Volkspartei hervortretende Bestreben, eine positivere Stellung, als bis dahin, zu den sozial­politischen Aufgaben zu gewinnen, erregt vielfach Spott. Dies ist begreiflich, weil unsere politische äußerste Linke unter allen ihren wechselnden Namen, als Fortschrittspartei, deutschfreisinnige Partei, freisinnige Volkspartei sich immer in der grund­sätzlichen Negation gegenüber allen sozialpolitischen Forderungen an die Gesetzgebung erging, Jahr­zehnte hindurch an der Ansicht fest hielt, daß auf dem wirthschaftlichen Gebiete Alles am besten be­stellt sei, wenn man die Menschen und die Dinge sich selbst überlasse. Die alte Demokratie von 1848, welche zum Theil in der 1861 begründeten Fort­schrittspartei wieder erschien, hatte derartige wirth­schaftspolitische Meinungen keineswegs gehegt, viel­mehr ein energisches Eingreifen der Staatsgewalt behufs wirthschaftlicher Hebung der unteren Klassen, auch durch Mittel, welche man später als sozialistisch abwies, erstrebt; in Ziegler's nach seinem Tode veröffentlichten Briefen beispielsweise findet sich uoch aus der Zeit des ersten Auftretens Lassalle's bitterer Spott über diemanchesterliche" Wirth­schafts= und Sozialpolitik der Fortschrittspartei. Diese theilte eben, wie um jene Zeit fast der ge­sammte Liberalismus und wenigstens in handels­politischer Hinsicht auch die konservative Partei die damaligen Bestrebungen des Volkswirthschaft­lichen Kongresses, welche gegenüber der mannig­faltigen Zwangs= und Bevormundungs=Wirthschaft in Deutschland der fünfziger und ersten sechsziger Jahre in weitem Umfange durchaus berechtigt waren, aber sehr bald durch unsachliche Konsequenz­machererei übertrieben wurden; das starre Fest­halten daran, als die thatsächlichen Zustände sich von Grund aus verändert hatten, war ein Fehler, der nirgends so beharrlich, ja leidenschaftlich be­gangen ward, als von der Partei, während deren Metamorphosen Herr Richter immer unbeschränkter ihr Führer wurde.

Es kann unseres Erachtens, so führt dieNa­tional=Zeitung aus, keinem Zweifel unterliegen, daß die Unfähigkeit der um von den wechseln­den Namen hier abzusehen politischen äußersten Linken auf dem sozialpolitischen Gebiete, wie sie zu dem beständigen Rückgang dieser Partei selbst we­sentlich beigetragen hat, auch in einem viel weiteren Betracht auf die Gestaltung des deutschen Partei­wesens und öffentlichen Lebens eingewirkt hat. Und zwar in ungünstigem Sinne. Die natürliche Aufgabe einer äußersten Linken ist überall, die ra­dikalen Anliegen der großen Menge, d. i. heut zu Tage in erster Reihe der handarbeitenden Klassen, wahrzunehmen; sind die Führer fähig und von dem Bewußtsein der Verantwortlichkeit erfüllt, so werden sie auf die Forderungen der Massen gleich­

zeitig mäßigend einwirken, sie in den Grenzen des

Möglichen zu halten suchen und die Verwirklichung derjenigen Verlangen, welche berechtigt erscheinen, erstreben. Die sozialpolitisch völlig negative Hal­tung der Fortschrittspartei und ihrer Partei=Erben hat, indem dadurch die Fühlung zwischen ihr und den Massen immer mehr verloren ging, unzweifel­hast zum Anwachsen der Sozialdemokratie mächtig beigetragen. Ebenso schädlich war eine andere Wirkung. In dem Bewußtsein, an Einfluß unter den Arbeitern, die ehedem überwiegend zur Fort­schrittspartei gehalten hatten, beständig einzubüßen, war diese darauf aus, sich in den Mittelklassen schadlos zu halten, die ihrem politischen Wesen nach ebenso zu dem gemäßigten Liberalismus hinneigen, wie die Arbeiter zum Radikalismus. Nicht am wenigsten aus dieser Quelle entsprang die öde Po­lemik, welche Fortschrittspartei, Deutschfreisinn 2c. ein Vierteljahrhundert hindurch gegen die National­liberalen führten; auch vom beschränktesten Partei­Standpunkte aus ist dadurch nichts erreicht worden, die Fortschrittspartei ging unter jedem Namen, von einem und dem anderen kurzlebigen nume­rischen Aufschwunge abgesehen, beständig zurück; in dem Vertheidigungs=Kampf aber, den der gemäßigte Liberalismus fast ununterbrochen gegen sie führen mußte, erlitt auch dieser Verluste; den Gewinn hatte auf der einen Seite die Sozialdemokratie, auf der anderen der Konservatismus.

Geschehene Dinge sind schwer und fast niemals vollständig in ihren Wirkungen wieder aufzuheben. Dennoch würden wir ein Bemühen der jetzigen freisinnigen Volkspartei, durch eine positive Sozial­politik den verlorenen Halt in den Massen theil­weise wiederzugewinnen, nicht mit Spott, sondern von höheren Gesichtspunkten, als denen der Frak­tions=Polemik aus mit ernstem Interesse und ohne Feindschaft betrachten. Aber ist ein solches mühen in einer Weise, die Erfolg verspricht, zu erwarten? Was in dieser Beziehung innerhalb des leitenden Partei=Kreiseszvorbereitet wird, ent­zieht sich vorläufig der Beuktheilung. Das selbst­ständige Vorgehen eines Berliner freisinnigen Ver­eins, der seine Agitation bereits in die freisinnige Wählerschaft eines der Berliner Reichstags=Wahl­kreise zu übertragen versucht, bekundet offenbar erhebliches Mißtrauen in die bezüglichen Absichten der Parteileitung. Wir mischen uns in diesen inneren Partei=Gegensatz, dessen Tragweite zweifel­haft ist, nicht weiter ein. Auch eine eingehende Kritik des sozialpolitischen Programms, das die Opposition aufgestellt, würde bei der derzeitigen Lage der Dinge keinen rechten Zweck haben. Nur einige Bemerkungen sollen dazu gemacht werden. Die prinzipiell wichtigste Forderung dieses Pro­gramms ist, wie wir schon mittheilten, die eines Maximalarbeitstages für erwachsene männliche Ar­beiter, der für Staats= und Kommunalbetriebe zu­nächst auf neun Stunden täglich, im Uebrigen nach Berufszweigen festgestellt werden soll. Gegenwärtig, wo kein Ueberfluß an Arbeit vorhanden ist und in den meisten Betrieben mit sehr geringem Gewinn

produzirt wird, dürfte für eine Forderung, die

praktisch die Vertheilung der vorhandenen Arbeit unter mehr Arbeiter ohne Herabminderung des Lohnsatzes für den Einzelnen erstrebt, der Augen­blick schwerlich günstig gewählt sein. Für die grundsätzliche Beurtheilung kommt dies allerdings nicht entscheidend in Betracht. Unleugbar ist dieser Punkt derjenige, mit welchem das Programm auf die industriellen Arbeiter noch am meisten Eindruck machen könnte. Aber wie wird die Partei, deren bisherigen wirthschaftlichen Grundanschauungen er schnurstracks widerspricht, ihn aufnehmen? Wie auf die städtischen Arbeiter mit dem Maximal­arbeitstag, so wäre bei den ländlichen mit dem Verlangen nachAufhebung der Fideikommisse und Verbot ihrer künftigen Errichtung, Zerschlagung der Staatsdomänen und Latifundien, Schaffung mittlerer wie kleiner Bauerngüter vielleicht Anklang zu finden. Aber wie denken die Urheber des Pro­gramms sich die Durchführung ihrer agrarpolitischen Forderungen? Die ländliche Arbeiterbevölkerung besitzt nicht das Kapital, um in erheblichem Um­fangemittlere und kleine Bauerngüter" zu er­werben; das Mittel, ohne Kapitalzahlung dies zu ermöglichen, das Rentengütergesetz aber ist von dem Deutsch=Freisinn auf das heftigste bekämpft worden. Vorläufig geht die Ansiedelung kleiner Grundbe­sitzer vermittelst dieses Gesetzes ohne so radikale Maßregeln, wie Aufhebung der bestehenden Fidei­kommisse und Zerschlagung der Domänen, in er­heblichem Umfange vor sich. Wollen die Sozial­reformer der freisinnigen Volkspartei auf ihre Oppo­sition gegen das einzige, bis jetzt in Betracht ge­kommene praktische Mittel zu dem von ihnen pro­klamirten Zwecke verzichten? Den grundsätzlichen Widerspruch gegen die Arbeiter=Versicherungsgesetze, welche sämmtlich gegen die Stimmen des Deutsch­Freisinns zu Stande gekommen, scheint man be­reits nicht mehr aufrecht erhalten zu wollen, denn es wird nur dieRevision" dieser Gesetze in Dingen verlangt, welche das Wesen derselben nicht berühren.

Die freisinnige Volkspartei wird eben, sie mag in der Art des Berliner Programms oder nach dem noch unbekannten Rezept der Parteileitung den Versuch unternehmen, positive Sozialpolitik zu treiben, einen großen Vorrath gesinnungstüchtiger Redensarten über Bord werfen müssen, mit denen sie, als sie selbst sozialpolitisch nichts thun wollte, Alles anfeindete, was von anderen Seiten auf diesem Gebiete geschah. Die Arbeiter=Versicherung und der Beginn der inneren Kolonisation sind, jene unter dem Eindruck des Anwachsens der So­zialdemokratie, diese unter dem Eindruck der land­wirthschaftlichen Schwierigkeiten, von der Regierung gemeinschaftlich mit den gemäßigten Liberalen und den Konservativen durchgesetzt worden. Ohne eine nunmehrige positive Stellungnahme zu diesen, früher ohne und gegen den Deutsch=Freisinn bewirkten Leistungen wird er schwerlich über bloße Phrasen hinauskommen; um das zu überbieten, was seit länger als einem Jahrzehnt sozialpolitisch geleistet

worden, wirß er mit dem Eingeständniß beginnen müssen, daß die systematische Bekämpfung dieser Sozialpolitik ver­fehlt war.

Reich.

Berlin, 315. Juni.

* Berliner Nachrichten. Das Kaiserpaar begab sich am Freitag, als am Jahrestage des Todes Kaiser Friedrichs III. nach dem Mausoleum in der Friedenskirche und legte daselbst Kränze am Sarge des hohen Entschlafe­nen nieder. Den Rest des Tages verbrachten die Majestä­ller Zurückgezogenheit. Die von den wegen Beleidigung des Finanzministers Dr. Miquel und des Reichskanzlers Grafen Caprivi Ver­urtheilten Plack, Dewald und Schweinhagen gegen das Urtheil des Landgerichts! Berlin eingelegte Beru­fung wurde vom Reichsgericht verworfen. Wir hatten Das Gerücht verzeichnet, daß die Bezirks=Feldwebel und=Unteroffiziere alljährlich eine 14tägige Uebung bei den aktiven Truppen durchmachen müßten. In militärischen Kreisen ist davon nichts bekannt. Dagegen möchte, wie die Kreuzztg.schreibt, die Nachricht, daß Bajonette an Stelle der Seitengewehre eingeführt werden sollen, der Wahrheit näher kommen. Auf der diesjährigen Nordlandsreise wird der Kaiser wiederum von dem Baron von Kiderlen­Wächter als Vertreter des Auswärtigen Amtes begleitet werden. König Oskar von Schweden empfing am Freitag kurz vor seiner Abreise auf dem Lehrter Bahnhofe eine Deputation der hiesigen schwedisch= norwegischen Kolonie, welche aus etwa 20 Herren und Damen be­stand und dem König ein prachtvolles Bouquet über­reichte.

§ Eine neue Regelung unserer handelspoli­tischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika wird immer dringender, zumal wenn, wie es den Anschein hat, jetzt auch noch eine Bedrohung unseres Zuckerexports wegen angeblicher Ausfuhrprämien bevorsteht, aber auch sonst ist eine Neuordnung unserer zoll= und handelspolitischen Beziehungen zu diesem Lande eine unaufschiebbare Nothwendigkeit. Die Vereinigten Staaten stehen mit Deutschland auf Grund eines etwas zweifelhaften Rechtsbodens(die Zustimmung des Reichs­tags ist niemals nachgesucht worden) in einem Meist­begünstigungsverhältniß, das auf alle Fälle jeden Augenblick getündigt werden kann. Dieses Verhältniß ge­reicht in jeder Beziehung zum Vortheil von Amerika. In jedem Jahr verschärft dieses Land sein Zollsystem, das ohnehin schon einen Prohibitivcharakter hat, bis zur völligen Absperrung. Die deutsche Einfuhr geht jedes Jahr zurück, dafür überschwemmt uns dieser Staat immer mehr mit landwirthschaftlichen Produkten von zum Theil sehr zwei­felhaftem Werth. Aehnlich hat sich Bruder Jonathan mit andern europäischen Ländern zu stellen verstanden; er ist der Schmarotzer auf Kosten ganz Europas, der nichts bietet, sondern nur einstreicht. Selbst so berechtigte Beschwerden, wie sie noch in der jüngsten Reichtagssession zur Sprache kamen, die Klagen über die durch die amerikanische Gesetz­gebung hervorgerufene betrügerische Ausbeutung der lite­rarischen und künstlerischen Erzeugnisse Deutschlands, stoßen auf kalte Abweisung. Hoffentlich faßt die Reichs­regierung jetzt einmal diese Verhältnisse ins Auge und dringt auf einen neuen Handelsvertrag, bei dem die deutschen Interessen besser gewahrt sind, als es gegenwärtig der Fall, ist.

###1-C. Der große Lohn= und Verrufskampf,

oer sich im Berliner Brauereigewerbe erhoben hat und für weitere derartige Kämpfe voraussichtlich das Vor­bild abgeben wird, ruft die Erinnerung an einen Versuch hervor, der im Jahr 1890 91 in der großen Gewerbeord­nungsnovelle neben den Arbeiterschutzbestimmungen unter­nommen worden, den Versuch, Zucht und Ordnung in den Arbeiterverhältnissen zu verstärken. Es handelte sich um

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Vermißt.

Von F. Arnefeldt.

Aber Aurelie, was hat nur der Alte? fragte Otto, so habe ich ihn ja noch garnicht gesehen. Fällt es Dir nicht auch auf, daß er krank und elend aussieht?

Das braucht Dich doch nicht Wunder zu nehmen, wenn man solche Täuschung erlebt, wie der Vater an diesem Forberg.

Ehrlich gestanden, für so empfindsam hätt' ich ihn garnicht gehalten. Und dabei der Widerspruch. Will von der ganzen Geschichte nichts hören und sagt doch, er hätte nichts dagegen, wenn Du den Sohn heirathetest, da hätte er sie ja sozusagen lebendig vor Augen.

Auf solche Widersprüche kannst Du alle Augen­blicke bei ihm stoßen, es ist jetzt recht schwer mit ihm zu leben.

Und mit Dir, wie es mir scheint, auch.

Sie brach in Thränen aus und antwortete zornig: Du machst es Dir freilich leicht; Du führst ein lustiges Leben und läßt Dich hier nur blicken, wenn Du Geld brauchst.

Du ahnungsvoller Engel Du! warf Otto ein.

Was aus mir wird, wie ich mit meinem Gram, mit meinem Elend fertig werde, das kümmert Dich nicht.

Otto Gäbler, der einen bodenlosen Leichtsinn, aber auch eine große Gutmüthigkeit besaß, ergriff ihre Hand.Aurelie, Du liebst Gustav Forberg, sagte er eindringlich.

Laß das; das ist vorbei! entgegnete sie finster.

Du liebst ihn und leidest schwer unter der Trennung, seine Stimme klang jetzt so weich und mitfühlend, daß Aurelie die starke Rinde, die sie künstlich um ihr Herz ge­legt, schmelzen fühlte.

Ja, ich liebe ihn, liebe ihn mehr als mein Leben, liebe ihn jetzt, wo er mir verloren, glühender, verzehrender als jemals! rief sie unter heißen Thränen,aber trotzdem würde ich niemals die Gattin dieses Mannes werden!"

Aurelie!"

Sprich kein Wort, Du vergrößerst nur meine Qual! sie hob abwehrend die Hand.Nichts, was Du mir sagen könntest, das ich mir nicht selbst gesagt hätte! Ich weiß, daß ich zeitlebens elend sein werde

Und hast Du nicht bedacht, daß Du auch ihn elend machst, wenn er Dich liebt, und er hat ohnehin so viel zu tragen!

Auch das habe ich bedacht, erwiderte sie, und ihre Züge schienen zu erstarren,es kann nichts ändern; wir

Mice eie eie blsc ailt euie unet 6 stärker als ich.

Was ist stärker? Stärker der Stolz als die Liebe?

Sie nickte.Die Liebe war schon sehr stark, daß sie den Anstoß an seine Herkunft überwand.

Trotz seiner aufrichtigen Theilnahme konnte Otto sich doch hier eines humoristischen Lachelns nicht enthalten. Unsere Wiegen haben doch auch nicht in einem Palast gestanden; die Apotheke in Baldenburg

Lassen wir das, unterbrach sie ihn,wir werden uns darüber nicht verständigen. Genug, ich kann nicht; lieber sterben, lieber, was noch viel schlimmer ist, ein langes, unglückliches Leben mit sich schleppen.

Und wenn Du Dein Glück und das des andern nun einem Phantom geopfert hättest? Wenn Forberg nicht der Dieb wäre, für den Du ihn hältst? Wenn seine Schuld­losigkeit an den Tag käme?"

Schweig! Schweig! schrie sie mit stierem Blick,das kann, das darf nicht sein! Das müßte mich zum Wahnsinn treiben!

Er blickte sie einen Augenblick ganz verständnißlos an, dann sagte er, sich besinnend:Du hast Gustav Forberg zu verstehen gegeben

Ich habe ihn gebeten, nicht wieder zu uns zu kommen, antwortete sie mit erstickter Stimme.

Wenn es so ist, dann ist freilich alles aus, murmelte Otto,das ist auch ein Fall, wo mit Hebbel zu sprechen ist:Darüber kann kein Mann hinaus!

Du weißt jetzt wie es steht, und nun kein Wort weiter! Sie eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinauf und nach ihrer eigenen, aus Wohn= und Schlafzimmer bestehenden kleinen Wohnung. Die Stuben waren niedrig, aber die Wände mit schönen gepreßten Tapeten bekleidet und mit guten Kupferstichen nach alten Meistern geschmückt. Schwellende Möbel mit schönen Formen, dicke Teppiche und Portièren gaben der Einrichtung etwas Vornehmes, aber es lag doch wie ein grauer Schleier der Trostlosigkeit über dem Ganzen. Das Pianino schien lange nicht ge­öffnet, die Topfgewächse auf dem Blumentisch am Fenster ließen schlaff die Blätter hängen, auf den hübschen Sächelchen aus Porzellan, Bronze und Kristall, die auf den Tischen und Borden umherstanden, lag der Staub; eingetrocknet war die Tinte im Tintenfaß des kunstvollen Schreibzeuges auf dem zierlichen Schreibtisch aus Poly­sanderholz: die Bewohnerin dieser Räume hatte keine Auf­merksamkeit mehr für ihre Umgebung und würde es kaum bemerkt haben, hätte die alte Lore nicht jeden Morgen

wenigstens das Bett gemacht und nothdürftig die Ordnung hergestellt.

Auch jetzt warf sie sich auf das Sofa, wühlte den Kopf in die Kissen und überließ sich den Gedanken, die sie ausschließlich beschäftigten, deren sie sich Tag und Nacht nicht erwehren konnte und auch nicht einmal erwehren wollte.

Wenige Tage nach dem Verschwinden des Kassenboten war Aurelie von einem zweiwöchigen Besuche bei einer unlängst verheiratheten Schulfreundin zurückgekehrt. Sie war mit zwei sie überraschenden und erschütternden Neuig­keiten empfangen worden. Lore, die alte Haushälterin, die sie, so lange sie dieselbe kannte, immer in gleichmäßiger Gesundheit gesehen hatte, erzählte ihr, sie sei von einem Gange von der Markthalle heimkehrend, plötzlich von einem Schwindel befallen worden, daß sie sich kaum hätte zu ihrem Bette schleppen können, und dort habe sie zwei Tage und zwei Nächte gelegen, ohne recht etwas von sich zu wissen; nicht einmal, daß ihr der Herr Brühe und Thee eingeflößt, hätte sie gespürt, und sie fühle sich noch ganz schwach davon.

War Aurelie, welche für die Alte, die sie nach dem frühen Tode ihrer Mutter mit Sorgfalt gepflegt, eine liebevolle Anhänglichkeit besaß, durch diese Nachricht er­schreckt, so hatte die zweite von dem Verschwinden des Kassenboten für sie etwas geradezu Niederschmetterndes. Im ersten Augenblick dachte sie an nichts als an die Wirkung, welche ein solches Ereigniß auf Gustav Forberg, den Geliebten ihrer Seele, ausüben müsse, und sie war im Begriff gewesen, nach Friedenau zu eilen, um seine Mutter und Schwester, vor allem aber ihn zu trösten.

Ihr Vater hatte sich diesem Vorhaben auch durchaus nicht widersetzt, gehörte er doch zu denjenigen, welche an Forbergs Unschuld glaubten und dessen Sohn eifrig in den Nachforschungen nach dem Verschwundenen unterstützten. Seiner Tochier hatte er im engsten Vertrauen dann aber ein Bekenntniß gemacht.

Dir, mein Kind, möchte ich doch reinen Wein ein­schenken, hatte er mit geheimnißvoller Miene zu Aurelie gesagt,ich glaube nicht daran, daß Forberg ein Unglück zugestoßen ist, sondern möchte eher mit voller Bestimmtheit behaupten, er sei mit dem Gelde durchgegangen.

Aber warum giebst Du Dir denn den Anschein vom Gegentheil? war ihre verwunderte Gegenfrage.

Um Deinetwillen, mein Kind, weil ich Dich nicht unglücklich machen möchte, weil ich weiß, daß Du Gustar Forberg liebst.

Und Du könntest zugeben, daß ich den Sohn eines

ehrlosen Verbrechers heirathe? hatte sie auffahrend gefragt.

Was können die Kinder für die Thaten des Vaters?

Sie haben Sie mitzutragen, sie fallen auf ihr Haupt,

sie sind ehrlos gleich jenen. Nein, nie werde ich Gustav

Forbergs Frau. Lieber glücklos, als ehrlos.

Der Vater hatte ihr vorgestellt, daß man wahrscheinlich nie wieder etwas von Forberg hören werde, die Sache würde im Sande verlaufen und schließlich vergessen werden, aber sie hatte voll Entrüstung und Entsetzen nur die ent­fernteste Möglichkeit an eine solche Verbindung zurück­

genichen. 4 Verkindung n

Ich würde leben wie unter dem Richtbeil, antwortete sie,jeden Augenblick würde ich die Entdeckung fürchten, ich würde mir wie eine Mitschuldige an dem Verbrechen vorkommen, nein, ich würde es sein: keinem Menschen würde ich je wieder in's Auge zu blicken wagen. Und die Entdeckung würde nicht ausbleiben, ein solches Verbrechen bleibt nicht ungesühnt, nicht ungestraft!

Doch, doch, es kommt nur darauf an, daß es geschickt angefangen wird, hatte der Vater geantwortet.

Und Du meinst, daß Forberg das gethan? Um so schwerer ist der Frevel. Wüßte ich auch, es käme von dem Unseligen nie wieder eine Kunde, ich würde doch jede Berührung mit den Seinigen scheuen. Den Sohn eines Verbrechers heirathen entsetzlich; Immer würde ich fürchten, daß bei ihm das Erbtheil des Bluthes zum Vor­schein komme. Ich würde meine Kinder nicht lieben können, denn sie wären die Enkel eines Verbrechers, hätten das Kainszeichen von ihm empfangen!"

Gäbler wiedersprach der Tochter nicht länger, ihre Reden hatten auf ihn sichtlich einen tief erschütternden Eindruck gemacht, er zog sich jetzt unter allerlei Vorwänden von Gustav Forbergs und seines Freundes Bemühungen zurück. Aurelie dagegen ging mit dem ihr eigenen Un­gestüm daran, den tiefen Schnitt in das eigene Herz recht schnell zu thun, Gustav Forberg auf immer von sich zu entfernen, und er machte ihr das leicht genug.

Bei ihrem ersten Widersehen fragte er sie, ob es ihr auch recht sei, daß er ferner in ihres Vaters Haus komme? Jetzt, wo sich viele von ihm abwendeten, wolle er Klar­