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Nr. 254.
Pøst=Zeitungs=Preisliste Nr. 1406.
Mittwoch den 1. November 1899.
Fernsprecher Nr. 925.
Jahrgang.
Hierzu eine Beilage.
Des Allerheiligen=Festes wegen erscheint die nächste Nr. d. Ztg. Donnerstag Nachmittag.
Düsseldorf, 31. Oktober.
An die Leser!
Innerlich und äußerlich in neuem frischem Gewande erscheint nunmehr die Bürger=Zeitung. Daß das Blatt eine Notwendigkeit für Düsseldorf und seine Umgebung ist, beweist seine bald zehnjährige ehrenvolle Laufbahn.
Die Hunderte, denen das Blatt im Kampfe gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit direkt eine Stütze gewesen ist im Verein mit den vielen Tausenden, die sich an seiner frischen Sprache seit so langen Jahren erfreut und aufgerichtet haben, bekunden jene Notwendigkeit tagtäglich. Es muß eine Zeitung bei uns vorhanden sein, die absolut unabhängig, losgelöst von jeder Rücksichtnahme, nur das geistige und materielle Wohl des Volkes im Auge hat, nur strebt für Wahrheit, Freiheit und Schönheit, für die Erlösung der darbenden Menschheit von den geistigen und materiellen Ketten.
Dieses unser Streben bewegt sich vernünftiger Weise auf dem Boden der Wirklichkeit und hält sich in den Grenzen des praktisch Erreichbaren.
Die Organisation der Arbeiter, die absolute Wayrung der Freiheit dieser Organisation und die Zusammenfassung aller Wohlmeinenden aus allen Klassen zur genossenschaftlichen Selbsthülfe mit Unterstützung des Staates und der Gemeinde ist der wesentliche Teil unseres wirtschaftlichen Programms.
In kurzsichtiger Verblendung hat eine herrschsüchtige Clique die Regierung zu verleiten gewußt, die verderbliche Zuchthausvorlage ins deutsche Volk zu schleudern. Dem rücksichtslosen Kampf gegen diesen die innere Ruhe und die Möglichkeit einer freiheitlichen Entwicklung bedrohenden Gesetzentwurf gilt in nächster Zeit unsere volle Kraft.
Durch die Ankündigung der Flottenvorlage ist eine neue unheilvolle Perspektive für schwere innere Kämpfe eröffnet. Unerhörte Summen, eine volle halbe Milliarde, soll dem See=Militarismus zum Opfer gebracht werden, während für die segensreichsten Kulturarbeiten kein Geld vorhanden ist. Die Flotteninteressenten sagen dem Volk:„Ja, das Geld kommt doch unter die Leute!“ Richtig! Aber wenn man diese halbe Milliarde dazu benutzte, dem Volke menschenwürdige Wohnungen zu bauen, Schulen zu errichten, mehr Lehrer, mehr Richter anzustellen— käme sie da etwa nicht unter die Leute? Und würden durch sie nicht zugleich kulturelle Einrichtungen von dauerndem sittlichem und sozialem Werte geschaffen, während sie so nur zum Bau von Mordinstrumenten verwendet wird?
Wäre das nicht eine bedeutend edlere, fruchtbringendere Art, eines zivilisierten Volkes würdiger?
Der Reichstag wird in den nächsten Tagen zusammentreten und damit wird für den Zeitungsleser die eigentliche„Saison" beginnen. Die Bürgerzeitung wird ihren alten Ruf, den besten Reichstagsbericht zu bringen, auch in diesem Jahre wahren.
Bei aller sachlich ernsten und einschneidenden Kritik wird die Bürgerzeitung dem ehrlichen politischen Gegner stets Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie wird bestrebt sein, sich jeder rerletzenden Sprache zu enthalten.
Wir bitten unsere Leser, uns bei unserer Arbeit im Dienste des Volkes nach besten Kräften zu unter
tützen, uns neue Freunde zuzuführen und uns dadurch in die Lage zu setzen, größere Mittel an die Durchführung unserer ernsten Aufgabe zu setzen und die Bürgerzeitung immer mehr zu vervollkommnen. Düsseldorf, den 1. November 1899.
Die Redaktion und der Verlag.
Gestern zitierten wir zur Flottenfrage einen Artikel, der in verschiedenen Centrumsblättern erschienen war und der den folgenden energischen Satz enthielt: „Das Centrum wird nach den bisherigen Erfahrungen gewiß kein Opfer mehr bringen. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende." Gestern nun schrieb die offizielle Centrumspolitische Korrespondenz nach Verurteilung der uferlosen Flottenpläne das Folgende:
Der Reichstag wird nun zunächst vor die Frage gestellt werden, ob er den neuen Plan genehmigen will. Würde die Frage bejaht werden, so kann, meint die Nordd. Allgemeine Zeitung ganz kavalierement,„der Limit=Paragraph des Flottengesetzes kein Hindernis für die weitere Entwickelung oer Marine sein". Gewiß nicht; den kann man ja leicht ändern! Ob aber der Reichstag ja sagen wird, darauf sind wir sehr neugierig. Ganz gewiß aber wissen wir, daß zu dem Plane erheblich mehr Mitglieder des Centrums Nein sagen werden als zu dem Flottengesetze von 1898. Was uns am meisten an der Sache wundert, ist der Mut des Reichskanzlers und des Staatssekretärs Tirpitz, die 1½ Jahren nach den Verhandlungen über das Flottengesetz diesen neuen Plan zu empfehlen wagen. Wir haben keinen Augenblick geglaubt, daß das vorjährige Gesetz das letzte Wort in der Flottenfrage sei. Die Lawine ist im Rollen, sie wird anwachsen. Die Notwendigkeit einer starken deutschen Flotte wird in immer weiteren Kreisen des deutschen Volkes anerkannt. Aber man soll doch auch mit dem Reichstage und der Opferwilligkeit des Volkes nicht sein Spiel treiben. Wenn jetzt die neue Vorlage an den Reichstag kommt, muß dieser sich doch sagen, man habe ihn vor 1½ Jahren zum Besten gehabt. Und wenn er demjenigen, der ihm sagen wollte, der neue Plan werde bis 1917 in Geltung bleiben, nicht ins Gesicht lacht, dann verdient er, daß man gleich noch ein 5. bis 8. Geschwader von ihm verlangt.
Während also der erstere Artikel vom Centrum schlechtweg sprach, das kein Opfer mehr bringen werde, stellt die Parteikorrespondenz in Aussicht, daß diesmal bloß„meyr Mitglieder" als früher zur Opposition halten werden. Das klingt doch schon erheblich anders. Auch sonst ist der zitierte Absatz sehr bemerkens wert. Wir glauben der zu erwartenden Flottenvorlage mit ziemlicher Sicherheit die folgende Prognose stellen zu können: Wenn die Regierung recht ausschweifend fordert, wird sich leider im Reichstag eine knappe Mehrheit finden, die einen erheblichen Teil der Vorlage, nämlich soviel, als unsere Flottenschwärmer erwarten, bewilligt. Und die Regierung wird diese Abschlagszahlung schmunzelnd einstreichen.
Daß die sogenannten unparteiischen Blätter, welche die Journalistik im Interesse des Geldbeutels des Verlegers betreiben, nichts weiter sind als Regierungsorgane, zeigt wieder einmal die folgende Auslassung des hiesigen General=Anzeigers zur Flottenfrage: „Einer vorurteilsfreien Aufnahme ihrer Forderung nach Verstärkung unserer Seemacht kann die Regierung um so sicherer sein, als eine objektive Prüfung der Dinge anerkennen muß, daß die politische Konstellation sich in einer Weise und so rapid verändert hat, wie man es noch vor wenigen Jahren nicht erwarten konnte Der Glaube, daß die Friedenskonferenz zu einer Pazi
fizierung der Weltlage beitragen könnte, hat sich als eine schwere Täuschung erwiesen, und die Ereignisse in anderen Weltteilen, wie der Samoa=Streit und die Rivalität um die Erbschaft des„kranken Mannes" in China, haben die Notwendigkeit für uns erwiesen, zur See noch stärker, als bisher gerüstet zu sein. Wir werden nicht umhin können, die Konsequenzen dieser Erkenntnis in dem Rahmen unserer Leistungsfähigkeit zu ziehen."— Das sind genau die fadenscheinigen Argumente des Alldeutschen Verbandes, von denen auch nicht eines stichhaltig ist.
Eine Bemerkung über die angekündigte Flottenvorlage, die wir unseren Flottenschwärmern ernstlich ans Herz legen, finden wir im gestrigen Daily Chronicle: „Mr. Goschen— der englische Marineminister— hatte in der vorigen Parlamentssession alle Hände voll mit Rußland zu thun, nächstes Jahr wird er seine Auf merksamkeit Deutschland zu schenken haben. Es ist ein schrecklicher Druck auf die Kraft der Nationen, aber so lange die Völker willig sind, ihn zu ertragen, wird es damit vermutlich vorangehen." Das heißt natürlich mit anderen Worten, sobald wir Deutsche den neuen Flottenplan ausführen, wird Herr Goschen für die englische Marine mindestens dieselbe Verstärkung fordern und einstimmig bewilligt erhalten.
Die„Köln. Volksztg." weist darauf hin, daß das Gesetz sich den Schutz der Arbeitswilligen, d. h. der Arbeiter, zum Ziel setzt. Was geht danach das Gesetz eigentlich die Arbeitgeber an?„Wenn also irgend jemand berufen ist, seine Meinung über das Gesetz zu äußern und Beachtung seiner Meinung zu fordern, so sind es diese Nächstinteressierten. Wo sind aber die Arbeiter, die nach dem Schutz verlangen, den der Gesetzentwurf ihnen zugedacht hat? Tiefe Stille ringsumher. Niemand meldet sich. Selbst die Großindustriellen, die doch so viel über ihre Arbeiter vermögen, haben keine„Bewegung", keine Adressen oder Petitionen zu gunsten der Vorlage veranlassen können. Wo Arbeiter sich geäußert haben, da haben sie entschieden Verwahrung dagegen eingelegt. Das waren nicht blos sozialdemokratische, sondern auch durchaus christlich gesinnte, königstreue Arbeiter, die selbst unter dem Terrorismus leiden. Wenn man bedenkt, wie leicht sonst die Interessenten für einen ihnen zugedachten Vorteil in Bewegung zu setzen sind, so muß es doch zu denken geben, daß sich fär das Gesetz unter den Arbeitern auch rein gar nichts regt. Empfänden sie es als Wohlthat, so würden sie doch Verlangen danach ausdrücken, aber sie weisen es überall weit von sich."
Im bayerischen Landtage haben sich Verhandlungen abgespielt, die in ganz Deutschland freudiges Aufsehen erregen müssen. Die Idee des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hat einen großen Sieg errungen. Unseren Scharfmachern bereiten Sie freilich arges Unbehagen. Sie meinen grollend, die Sozialdemokratie könne über die Vorgänge lachen, und sie preisen die„helleren Sachsen. So schreibt ein Blatt dieser Richtung:
„Als im Landtag zu Dresden vor einigen Jahren die Sozialdemokratie eine Wahlrechtsreform verlangten, gingen die Konservativen, Nationalliberalen und Freisinnigen gleichfalls alsbald darauf ein, aber sie machten die Sache genau im entgegengesetztem Sinne, als die Sozialdemokratie wünschte, nicht nach der demokratischen, sondern nach der„reaktionären“ Richtung: die Dreiklassenwahl nach preußischem Muster wurde eingeführt und infolgedessen sind bei den Neuwahlen die Sozialdemokraten im sächsischen Landtag bereits von 14 auf 4 Sitze reduciert. Ob
sich die Herren in der Münchener Kammer wirklich 20 bis 30 Sozialdemoktaten aufladen werden?",
Inzwischen nehmen die Erörterungen über die Wahlrechtsreform in der bayerischen Abgeordnetenkammer ihren Fortgang. Am Donnerstag meinte der nationalliberale Abgeordnete Aub:
„Ja, selbst auf die Gefahr hin, daß das neuet Wahlgesetzt nur den demagogischen Parteien zu gute komme, werde die liberale Partei für den Antrag der Sozialdemokraten stimmen.
Und der Zentrumsführer Geiger erklärte namens der Fraktionsmitglieder, die bisher den Standpunk vertreten haben, daß während der Regentschaft die Verfassung nicht geändert werden dürfe, sie seien nun überzeugt, das Bedürfnis nach einem neuen Wahlgesetz sei so dringend, daß das Wohl des Staates es verlange.
Die Debatte wurde am Freitag fortgesetzt. In ihr sprach sich der demokratische Abgeordnete Köhl in energischer Weise für das uneingeschränkte allgemeine Wahlrecht aus und auf seine Provokation hin äußerte sich der Minister des Innern, Herr von Feilitzsch wie folgt:„Die Regierung sei bereit, in eine Revision des Wahlgesetzes einzutreten, wenn sie den wirklichen Standpunkt des Hauses kenne. Vorläufig seien die Anschauungen in verschiedenen Punkten noch nicht die gleichen. Man dürfe auch nicht übersehen, das selbst Zweidrittelmehrheit der Abgeordnetenkammer noch nicht allein ein Gesetz machen kann, sondern noch zwei andere Faktoren, die Kammer der Reichsräte und die Regierung, mitwirken müßten. Bisher habe sich die Kammer der Reichsräte den weitergehenden Reformwünschen nicht geneigt gezeigt. Der zu einer Wahrgesetzänderung notwendigen Verfassungsänderung könne die Regierung in diesem Ausnahmefalle zustimmen. Entschieden spricht der Minister gegen die Herabsetzung des wahlfähigen Alters. Eine objektive gerechte Wahlkreiseinteilung gebe es allerdings nicht. Immer würden wieder Benachteiligungen behauptet werden. Die Wahlkreiseinteilung könne nur im Wege eines Kompromisses gemacht werden. Gegen die Proportionalwahl äußerte der Minister Bedenken. Sie habe sich noch nicht bewährt. Der allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahl sei er nicht entgegen. Man müsse nun sehen, zu welchen Ergebnissen der Ausschuß komme."— Das ist für einen Minister eine immerhin anerkennenswerte fortschrittliche Sprache. Bei allem Mißtrauen und bei noch so vorsichtiger Beurteilung wird man doch wohl jetzt erwarten dürfen, daß das bayerische Volk ein besseres Wahlrecht erhalten wird. Für die Regierungen in Preußen und Sachsen hat die einmütige Verhandlung in der bayerischen Kammer die Bedeutung eines entschiedenen Mißtrauensvotums. Erwähnt sei noch aus den Verhandlungen, daß sich sämtliche Centrumsredner für das mit den Sozialdemokraten abgeschlossene Kompromiß ausgesprochen haben.
Das endgültige Wahlergebnis der Reichstagsersatzwahl im fünften württembergischen Wahlkreise(Eßlingen) ist folgendes: Schlegel(Soz.) 7929, v. Geß(nat.lib.) 6090, Brinzinger(Volksp.) 4982 Stimmen. Die Zahlen, die das Wolff'sche Bureau am Samstag mitteilte, waren demnach sehr übertrieben. Das Hauptergebnis, daß der Nationalliberale mit dem Sozialdemokraten in die Stichwahl kommt, ist demnach dasselbe geblieben, und da es sich bei dieser Wahl darum handelt, den in der Zuchthausvorlage zuverlässigsten Kandidaten zu wählen, so müssen die volksparteilichen Wähler unbedingt den Sozialdemokraten wählen.
Der Familienschmuck.
Roman von A. I. Mordtmann. 6
Verwickelter wurde die Sache nur dadurch, daß sie die Geheimhaltung mit einem Versprechen erkaufte, dessen Folgen sie nicht kannte und das alfo zu ganz unabsehbaren Wirrnissen führen konnte. Damit war auf der schiefen Ebene, die von Unrecht zu stets schlimmeren Unrecht führt, bereits der zweite Schritt gethan, dem sicher noch mehr folgen würden. Es war ein naheliegender, aber nur schwacher und trügerischer Trost, daß sie es ja in ihrer Hand habe, zu jeder Zeit von dem bedenklichen Vertrag zurückzutreten.
Die Wahrheit zu sagen, empfand sie eigentlich keine Reue, sondern nur Mißbehagen über die Abhängigkeit, in der sie von einem gewissenlosen Menschen geraten war. Und daher kehrte sie immer wieder zu der Frage zurück, ob sie sich nicht habe überrumpeln und dupieren lassen. Wie, wenn die ganze Geschichte doch nicht wahr wäre? Zwar, der Einwand, daß Lundby klüger gehandelt hätte, wenn er dem alten Scudamore ohne weiteres, was er wußte, mitgeteilt und sich dadurch einer gefürchteten Feindin entledigt hätte, war leicht zu beseitigen; was er beabsichtigte wäre möglicherweise nicht eingetreten, und dann hätte er jeden Halt an der Dame verloren, es war für ihn wirklich vorteilhafter sich dadurch die Furcht vor bösen Folgen eine Bundesgenossin zu sichern. Aber die ganze Geschichte von St. Jean=Pied=de=Port, so glaubwürdig sie auch hergerichtet sein mochte, trug so sehr den Stempel des Unwirklichen, daß es unmöglich war, sie ohne weitere Prüfung als der Wahrheit vollkommen entsprechend hinzunehmen.
Wie aber sollte man sie genauer prüfen? Dazu, das war das Endergebnis aller Erwägungen, würde sich wohl in Thirwall besser Gelegenheit finden lassen; jetzt stand allen Versuchen in dieser Richtuog der leidige Geldmangel im Wege; war es damit anders und besser geworden, so hatte ein Unternehmen, das jetzt unmöglich schien, gar keine nennenswerte Schwierigkeit zu verzeichnen.
Bei dieser Anweisung auf die Zukunft beruhigte sich Frau Scudamore so vollständig, daß sie ihren heimkehrenden Töchtern eine heitere Miene zeigen
konnte, der niemand anmerkte, welche sorgenvolle Stunde sie eben durchlebt hatte.
3. Kapitel.
Es war ein etwas wunderliches Paar, das wenige Tage nach der Unterredung zwischen Herrn Lundby und der Frau Scudamore auf dem Kieler Bahnhof in Altona eintraf und sich eine Droschke nahm, um zunächst einen Gasthof zweiten Ranges und dann, nach Zurücklassung des nicht allzu umfangreichen Gepäcks, die Mühlenstraße in Hamburg, aufzusuchen. Es waren Edith und Dirk Holmfeld, die es unternommen hatten, sie zu begleiten, bis sie unter anderen Schutz kam. War auf der Düne von Wittenaes der Gegensatz zwischen ihm und dem blühend schönen Kinde groß gewesen, so war er jetzt in einer Beziehung ganz verschwunden, seitdem Edith sich ebenfalls in städtische Kleidung gesteckt hatte, in der sie sich unbehaglich fühlte und ungelenk bewegte! beide machten den Eindruck eines Brautpaares aus einer jener versteinerten Kleinstädte, die in unserer Zeit der Stadtungeheuer kaum noch existieren. Nur durch ihre ungewöhnliche Schönheit stach die Enkelin des Herrn Scudamore nach wie vor nicht nur gegen Dirk, sondern gegen ihre ganze Umgebung ab.
Der Zug war um 2 Uhr nachmittags eingetroffen, und die Scudamoreschen Damen hatten nach gastlicher Hamburgischer Manier einen mit allen möglichen guten Dingen reichlich versehenen Kaffeetisch zum Empfang des ihnen angekündigten Besuchs hergerichtet. Als der Wagen vorfuhr, eilten Ellen und Fanny hinunter, um ihre Kousine zu bewillkommnen.
Der Empfang ließ an Herzlichkeit nichts zu wünschen übrig. Umarmungen und Küsse wurden ausgetauscht, und Dirk Holmfeld erhielt von allen drei Damen seinen Händedruck, als gehöre er zu ihnen. Edith verlor rasch ihre anfängliche Befangenheit, da sie ihre Verwandten so liebenswürdig fand, und diese, die eine bäurische Fischerstochter erwartet hatten, fühlten sich zu der überaus großen Anmut Ediths nicht minder hingezogen wie durch Dirks treuherziges Wesen gefesselt. Man war bald auf einem ganz vertrauten Fuße mit einander, und Holmfeld konnte sich mit einem Seufzer der Erleichterung sagen, daß die Gesell
schaft, unter deren Schutz er sein Kleinod zurücklassen mußte, nicht die Befürchtungen rechtfertigte, die er in seiner Unerfahrenheit bis dahin gehegt hatte.
Dirk wurde von Fanny in ein Gespräch über das Leben in dem kleinen Fischerdorfe verwickelt, und sie wußte dies so harmlos und natürlich zu führen, daß er darüber bald seine Schüchternheit und Schweigsamkeit abstreifte; er ward ganz beredt, und Fanny erkannte rasch, daß ihr erster Eindruck von dem ländlichen Verehrer ihrer Eousine falsch gewesen war. Er drückte sich geläufig und fließend aus—, dieser Sohn eines armen Landpastors konnte sich mit seiner Bildung schon sehen lassen.
Unterdessen hatten Ellen und Edith rasche Mädchenfreundschaft geschlossen; zu der älteren Schwester fühlte sich Edith mehr hingezogen als zu der ernsteren Fanny. Das verwandtschaftliche„Du" zu dieser wurde ihr schwer, während es ihr bei der andern so leicht von den Lippen floß, als wenn sie sich seit Jahren gekannt hätten.
„Warum trägst Du Dein Haar so glatt gescheitelt?" fragte Ellen.
„Ich kann es mir nicht anders machen. Wie sollte ich es auch anders tragen?" fragte Edith naiv dagegen.
„So wie ich oder Fanny. Du hast so wundervolles, reiches Haar— und das kommt gar nicht zur Geltung. Du mußt es mich einmal arrangieren lassen — willst Du?"
Edith errötete vor Vergnügen. Hatte sie sich doch schon beim Anblick der Kusinen mit heimlichem Neide eingestehen müssen, daß deren Haartracht ganz anders und vorteilhafter hergerichtet war, als sie es bis dahin gekannt hatte. Und seit sie an dem Kaffeetisch saß, studierte sie die Art, wie die beiden Schwestern ihre keineswegs reichen Kleider doch so geschnitten und mit kleinen Zuthaten geschmückt hatten, daß ihre eignen daneben den Eindruck des Bäuerischen und Kleinstädtischen machten.
„Du mußt es mir einmal machen— und mir überhaupt bei meinen Kleidern etwas raten und beistehen," antwortete sie.
Ellen sprang auf.„Komm!“ rief sie und zog Edith mit sich ins Schlafzimmer,„Wir wollen Dich
einmal ein wenig städtisch herrichten. Der Großvater soll staunen, wenn seine drei Enkelinnen vor ihm aufmarschieren!“
Beide verschwanden im Schlafzimmer; aus dem Blicke, mit dem Dirk der schönen Edith nachsah, würde Fanny das Geheimnis seines Herzens erraten haben, wenn sie es nicht schon vorher herausgefunden hätte. Sie lächelte unmerklich und unterdrückte ein unbehagliches Gefühl, das in ihr aufstieg.
Mit weiblichen Scharfblick hatte Fanny erkannt, daß zwischen dem unschönen, aber gemütstiefen Pastorssohn und der oberflächlicher gearteten Edith kaum eine besonders große Seelengemeinschaft bestehen könnte. Auch glaubte sie zu bemerken, daß Dirks Neigung nur gleichgültige Erwiderung fände; was sollte daraus erst werden, wenn Edith in eine ganz neue Lebenssphäre eingetreten wäre, worin es ihr bei ihrer Schönheit und der Anwartschaft auf ein großes Vermögen doch nicht an aristokratischen Bewunderern fehlen könnte?
Sie ward schweigsamer und hörte zu, wie Dirk ihrer Mutter von Ediths bisherigem Leben erzählte. Wieder fiel ihr auf, wie rasch er stets den richtigen Ausdruck fand, wie anschaulich seine Schilderungen waren, wie in allen Wendungen und Bildern, die er gebrauchte, eine dichterische Veranlagung durchschimmerte. Den merkwürdigen Kirchhof, die meilenlangen Dünenreihen, die von den vorherrschenden Westwinden alle nach einer Seite gekrümmten Bäume, die schäumend heranrollenden Brandungswellen glaubte sie zu sehen und dazu das Rauschen des Sturmes, das Kreischen der Möven und Seeraben, das Donnern der Meereswogen zu hören.
„Er steht geistig hoch über Edith! Sie ist seiner nicht würdig!" entschied sie in ihrem Innern.
Bon dieser Entscheidung kam sie jedoch gleich zurück, als nun Edith verschämt und errötend wieder erschien. Mit dem freier behandelten Haar und dem durch unscheinbare Zuthaten aufgeputzten Kleide war sie aus einer ländlichen Schönheit in eine junge Weltdame verwandelt worden, die auch auf den Promenaden und in den Salons einer Großstadt nicht mehr unangenehm auffiel. Dirk sah sie mit glühenden Blicken an, und ein tiefer Seufzer schwellte seine Brust; beinahe hätte Fanny mit ihm geseufzt.