81. Jahrgang. Nr. 19678.

15. Rovember 1930.

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Kein stäutlicher Zwung für Preis und Löhnsenrung.

Rundgebung des Rabinetts=Ausschusses für Arbeits= und Preisfragen.

zwischen sämtliche Stadtverwaltungen zu tatkräftiger Mit­arbeit an dieser wichtigsten volkswirtschaflichen Aufgabe aufgerufen hat. Es ist nicht zu zweifeln, daß im Zusam­menwirken aller Behörden die Bewegung eine starke Stütze findet, die auf die allgemeine Preissenkung ge­richtet ist.

Als weitere Beispiele für die Abwärtsbewegung der Preife seien erwähnt die Preisrückgänge der ein­zelnen Markenartikel auf dem Nahrungs­mittelgebiete, wie Malzkaffee, Makkaroni um 5 bis 12,7 Prozent, auch einige andere Markenartikel sind dieser Bewegung bereits gefolgt, dies im Ausmaße von 5 bis 20 Prozent.

Auf dem Gebiete der Eisenverarbeitung be­trägt die Preisermäßigung bei einer Anzahl von Waren .25 bis 10 Prozent, bei Messing= und Kupferfabr­katen 25 bis 40 Prozent, bei Alluminium 10 Pro­zent und den Erzeugnissen daraus 8 Prozent. Gummi­reifen weisen eine Preisermäßigung von 10 Prozent, Linoleum im Durchschnitt von 5,3 Prozent, einzelne Sorten von Zündhölzern von 8 bis 20 Prozent,

CNB Berlin, 14. Nov. Der Reichswirtschafts­rat veröffentlicht jetzt das Gutachten, das sein mit der Prüfung der

Preisbindungsfrage für Markenartikt

beauftragter Ausschuß erstattet hat. Der Ausschuß hat zu seiner Untersuchung auch die beteiligten Wirtschaftskreise hinzugezogen. Er hat folgende Warengebiete untersucht: Haferflocken, Kaffee=Ersatzmittel, Schokolade, Backpulver und Puddingpulver, Zahnpflegemittel, Schuhputzmittel, Seifen, Waschmittel, elektrische Bedarfsgegenstände(z. B. Staubsauger, Bügeleisen, Glühlampen), Schallplatten. Schätzungsweise kann der Anteil preisgebundener Marken­artikel am Gesamtumsatz des Einzelhandels auf 350 bis 400 Millionen angenommen werden. Der Anteil der preisgebundenen Waren an den Haushaltsausgaben wird auf etwa 7 bis 10 Prozent geschätzt. Bei der Unter­suchung der Handelsspannen ist der Ausschuß zu dem Er­gebnis gekommen, daß sie im Durchschnitt im Einzel­handel mit Lebensmitteln und Kolonialwaren zwischen 15 und 25 Prozent, im Feinkosthandel zwischen 15 und 33½ Prozent und im Drogenhandel zwischen 25 und 50 Prozent liegen dürften. Die Großhandelsspannen dürften im Durchschnitt 1012 Prozent betragen.

Der Ausschuß hat das Ergebnis seiner Untersuchungen in einer Entschließung zusammengefaßt, die in ihrem ersten Absatz die Reichsregierung ersucht, unver­züglich den Versuch zu machen, die Senkung der Preise für die Markenwaren, insbesondere für Lebens­mittel und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs, durch

Papier von 8 bis 10 Prozent auf. Orthopädische Hilfsmittel haben einen Preisabschlag von 8 Pro­zent, orthopädisches Schuhwerk einen solchen von 10 Pro­zent erfahren.

In manchen dieser und anderer Fälle werden sich die Abschläge vom Preise im Einzelhaushalt nur in Pfennig­beträgen auswirken. Wer sich der Inflationssitte noch nicht entwöhnen kann, auf 5 oder 10 Pfennig=Beträge ab­zurunden, der wird genug Gelegenheit haben, den Erfolg der Preissenkungen zu verkleinern. Tatsächlich aber ist die Zeit dazu zu ernst. Auch der Bruchteil eines Pfennigs gewinnt in der Volkswirtschaft mehr Bedeutung denn je. Darum muß

der Pfennig als Rechnungseinheit anerkannt

und gewertet werden. Die erforderlichen Maßnahmen sind in Vorbereitung, die es ermöglichen sollen, dem auch im Zahlungsverkehr Rechnung zu tragen.

So wird der Kabinettsausschuß für Arbeits= und Preis­fragen mit allem Nachdruck an die weitere Entlastung der Wirtschaft durch Preisermäßigungen herangehen.

Preissenlung der Markenartikel.

Gutachten des

Zusammenwirken von Erzeugern, Großhandel und Einzelhandel

in dem auf den einzelnen Gebieten als möglich erscheinen­den Umfang zu sichern. Das Ausmaß der bisher erfolgten Preissenkungen, die in der Regel zehn Prozent des End­verkaufspreises überschreiten, könne als Richtlinie für die Mindestmöglichkeiten des Preisabbaues angesehen werden. Im zweiten Absatz empfiehlt die Entschließung der Reichs­regierung, den Verbänden der in Frage kommenden Er­zeuger und Händler kurze Fristen zu setzen, in denen die Preissenkung in ausreichendem Maße gesichert sein müsse. Soweit es innerhalb dieser Fristen nicht gelingt, die erforderlichen Preissenkungen zu erreichen, empfiehlt der Reichswirtschaftsrat der Reichsregierung, aufgrund ihrer Vollmachten auf diesen Gebielen die Preisbindungen im Wiederver­kauf für Markenartikel zu lockern, erforderlichenfalls aufzuheben.

Die Entschließung enthält noch einen britten Absatz, über den aber Einstimmigkeit nicht erzielt werden konnte, da ein Teil der Ausschußmitglieder volkswirtschaft­liche Schädigungen z. B. Preisschleuderei von seiner Durchführung befürchtet. Dieser Teil der Ent­schließung empfiehlt, falls sich das spezialisierende Verfahren als nicht genügend wirksam oder als praktisch undurchführbar erweisen würde, die all­gemeine Aufhebung der Preisbindung für Markenartikel, da sie in diesem Fall mindestens für die nächste Zeit als das geringere Uebel gegenüber der Gefahr einer Preishochhaltung auf den Gebieten der Markenartikel anzusehen sei. Für diesen Absatz haben sich nur 13 Stimmen ergeben, während 16 Mitglieder gegen ihn gestimmt haben.

WTB Berlin, 14. Nov. Die von dem Kabinetts­ausschuß für Arbeits= und Preisfragen gestern in Aussicht gestellte Verlautbarung hat fol­genden Wortlaut:

Wie die Reichsregierung in ihrem Wirtschafts= und Finanzprogramm betont hat, ist die Herabsetzung der Preise auf der ganzen Linie eine Notwendigkeit. Durch Verbilligung von Erzeugung und Verbrauch muß die Wirtschaft neu belebt werden. Verbilligung des Ver­brauchs, Senkung der Lebenshaltungskosten, sind insbeson­dere auch geboten, um die Wirkungen abzuschwächen, die sich aus der Kürzung der Beamtenbezüge und aus Lohn­senkungen ergeben. Ihr Ziel ist ebenfalls, die Lasten zu ermäßigen, die auf der Erzeugung ruhen. Niemand darf und wird sich auf die Dauer dieser zwangsläufigen Ent­wicklung entziehen können. Sache der Regierung ist es, sie mit allen Kräften zu fördern, damit die Schäden und Nachteile der Uebergangszeit zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage, von Preisen und Kaufkraft, abgekürzt und das Millionenheer der Arbeitslosen so rasch wie möglich der schaffenden Tätigkeit wieder zugeführt wird. Die un­gezählten und vielgestaltigen wirtschaftlichen Vorgänge des täglichen Lebens können nun aber nicht durch staat­lichen Zwang in diesem Sinne einheitlich und plötzlich gestaltet werden. Zwang ist geboten, wenn der wirtschaft­lichen Entwicklung wider besserer Erkenntnis Hindernisse bereitet werden, die anders nicht zu beseitigen sind. In diesem Sinne fördernd diese Verbilligungstendenzen zu stützen, ist die Aufgabe des Kabinettsausschusses für Ar­beits= und Preisfragen.

Fast noch wichtiger aber als Zwang ist neben den Ver­handlungen des Staates zu

gütlicher Lösung der Fragen der Druck der Ver­braucher und der öffentlichen Meinung auf Widerstrebende.

Wenn durch die Hand der Hausfrau jährlich etwa 25 Milliarden deutschen Volkseinkommens gehen, so ist es vornehmlich auch sie, die auf die Preishaltung stärksten Einfluß nehmen kann. Sie kann die Verkäufer und die Waren bevorzugen, durch die sie billiger und besser bedient wird als durch andere.

Die öffentliche Meinung braucht es nicht zu dulden, daß durch Zurückhaltung im Preisabbau Einzelne unberechtigte Vorteile haben, wenn andere in richtiger Erkenntnis der Lage Opfer bringen. Sie kann und muß auch hier der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen. Der Presse jeder Richtung und Größe, besonders auch den Zeitungen auf dem Lande, sind hier wichtige volkswirtschaftliche Aufgaben erwachsen, die verdienstvoll gelöst werden können.

Gerechtigkeit kann insbesondere der Landwirt for­dern, dessen Preise weit unter dem Stand derer anderer Waren hinabgeglitten sind. Wird dieser Bewegung Ein­halt geboten, wird versucht, in angemessenen Grenzen die Preise der Agrarerzeugnisse unter anderen Waren ein­ander anzunähern, dann braucht daraus für die Lebens­haltungskosten der breiten Massen keinerlei Nachteil zu entstehen. Denn die rückläufige Bewegung der Preise, die der letzte Verbraucher zu zahlen hat, muß dadurch auch weiter möglich sein, daß sich der Unterschied der Preis­spannen in gerechter Weise auf die Zwischenglieder ver­teilt.

Die folgende knappe Zusammenstellung soll eine gewisse Uebersicht darüber geben, welche Fortschritte die Abwärksbewegung der Preise in letzter Zeit auf einzelnen Wirtschaftsgebieten, meist infolge der staatlichen Maßnahmen, gemacht hat.

Gewiß sind an sich die Lebenshaltungskosten für den Verbraucher unmittelbar von sinnfälligster Bedeutung. Trotzdem ist aber auch für ihn gleich wichtig, wenn die Urstoffe der Wirtschaft verbilligt werden. Daher steht die inzwischen erreichte Herabsetzung der Kohlen­preise um 6 Prozent im Vordergrunde. Sie wird sich für den Verbraucher in allen Richtungen auswirken. Ferner sind die Holzpreise um 17 bis 20 Prozent, die Preise für Walzwerksprodukte um 3 Prozent er­mäßigt worden. Von den Baustoffen sind im Durch­schnitt Zement um 10 Prozent, Ziegel um 10 bis 15 Pro­zent, Fensterglas um 22 Prozent und Platten um 35 bis 40 Prozent im Preise gesunken. Der Index der gesamten Baukosten ist seit Januar d. J. um 11 Prozent zurückge­gangen.

Wenn so die Preise in den Grundlagen der Wirtschaft weichen, dann muß davon der ganze Preisaufbau beein­flußt werden, der darauf ruht. Aehnliches gilt von den Kosten der Nahrungsmittel, die für den realen Wert des Lohnes von entscheidender Bedeutung sind. Von den Nahrungsmitteln ist der Brotpreis von 50 Reichs­pfennig auf 46 Reichspfennig für das Normalbrot herab­gesetzt worden unter gleichzeitiger Erhöhung des Gewichtes von 1225 auf 1250 Gramm. Das bedeutet eine Ermäßi­gung um 10 Prozent. Ferner soll in Zukunft das Brot einheitlich nach Gewicht verkauft werden. Damit wird einem lange gehegten Wunsche der Bevölkerung Rechnung getragen. Das Pfund Schweinefleisch ist um fünf Reichspfennige billiger geworden. Der Preis für Kar­toffeln hat sich auf 23 bis 30 Reichspfennig für je zehn Pfund gesenkt gegenüber einem Preise von 40 bis 45 Reichspfennig im Oktober d. I. Der Literpreis der Milch ist für Berlin um einen Reichspfennig auf 29 Reichspfennige gesenkt worden: Im Oktober 1929 be­trug er noch 32 Reichspfennige. Dabei ist zu berücksich­tigen, daß durch Einführung der Qualitätsbezahlung für Milch dem Handel Mehraufwendungen entstanden sind, auf deren Einrechnung in den Milchpreis er bei den Ver­handlungen verzichtet hat. Bei Gemüse und Obst haben die Verkäufer eine Preissenkung grundsätzlich zugesagt. Die Einzelheiten werden noch im Benehmen mit der Markt­forschungsstelle geregelt. Zunächst gelten diese Verein­barungen nur für Berlin. Das preußische Handelsmini­sterium hat bei ihrem Zustandekommen mitgewirkt. Es wird dafür sorgen, daß auch die zuständigen Behörden im Lande in gleicher Weise eingreifen. Mit den Regierungen der anderen Länder wird die Reichsregierung selbstver­ständlich ebenfalls in diesem Sinne zusammenarbeiten.

Bedeutsam ist in diesem Rahmen, daß der Deutsche Städtetag in Unterstützung der amtlichen Aktion in­

Der freimütige Herr Tardien.

Die Affäre Briand=Tardien. Wie der französische

Ministerpräsident den Friedensvertrag auslegt.

Die französische Regierung erhält ihr Vertrauens­votum.

Wenn in der französischen Kammer wichtige Dinge zur Aussprache stehen, dann kommt es meistenteils zu einer Nachtsitzung. Auch das ist eine Regie, die nicht ungeschickt ist und durch eine Konzentration der De­batte Wirkungen erzielt, die sich vom amtierenden Ka­binett auswerten lassen. Der Sache nach handelte es sich bei der letzten Kammeraussprache um die Ausein­andersetzung über verschiedene Interpellationen, die ihre Spitze sowohl gegen Briand als auch gegen Tardieu hatten. Also um eine Affäre Briand=Tardieu. Besser gesagt um die Feststellung, inwieweit die Politik dieser beiden führenden Männer Frankreichs übereinstimmt, wo sich Gegensätze finden lassen und wo den sich befeh­denden Parteigruppen Frankreichs Handhaben geboten werden, entweder dem französischen Ministerpräsidenten oder dem Außenminister Schach zu bieten. Eine inner­politische Auseinandersetzung also, wenn die Regie nicht gewesen wäre, die geschickt alles umgebogen hat, und aus dem Aneinanderprall der verschiedenen Strömun­gen eine außenpolitische Demonstration machte, die sich sehen lassen kann.

Auf die Rede Briands in der französischen Kammer einzugehen erübrigt sich. Er sprach als parlamentarie scher Taktiker, der seine Mehrheit sucht. Keine Fest­legungen, keine Blößen. Alles in allem eine Verteidi­gung seiner Politik mit den üblichen Schlagworten und den zündenden Formeln, entlehnt dem Geist der und einer Mode, Formeln, die nichts sagen oder auch alles sagen, je nach der Auslegung, die man ihnen gibt. Es bleibt also jedem überlassen, sich die passende Aus­legung herauszusuchen.

Anders die Rede Tardieus. Sie ist offenherziger und freimütiger,weil in einem demokratischen Regime nicht nur der Bürger frei zum Bürger sprechen soll, sondern auch das Volk freimütig zum anderen Volk". Herr Tardieu hatte es also diesmal mit der Freimütigkeit. Sehr interessant diese Freimütigkeit, die Einblicke in die Denkart einer französischen Regierung gibt, eine Denkart, die zumindesten originell ist und der Welt­öffentlichkeit gegenüber dokumentiert, wie präzise und verblüsend sich mit Vertragsbestimmungen jonglieren läßt,

wenn man Meister in der Kunst des Auslegens ist. Der französische Ministerpräsident nennt diese KunstFrei­

mütigkeit". Man könnte auch eine andere Bezeichnung finden, aber wir wollen bei ihr bleiben, um ebenso frei­mütig, wie es Herr Tardieu ttt, dem französischen Mi­nisterpräsidenten zu sagen, daß er sich in seinem Freimut allerlei Unglaublichkeiten, Verdrehungen und, wenn man es derb sagen will, Verfälschungen klipp und klar vorliegender Vertragsbestimmungen ge­leistet hat.

Wir wollen dies beweisen. Herr Tardieu sagt in seiner Rede, daß es innerhalb des Völkerbundes zwi­schen Frankreich und Deutschland eine Meinungsver­schiedenheit gäbe. Frankreich halte sich an den Frie­densvertrag, der es Deutschland zur Pflicht mache, abzurüsten, während die Abrüstung für die Alliierten nur eine Möglichkeit sei. Eine wirklich meister­hafte Auslegung der Präambel im Friedensvertrag, die das Kapitel der Abrüstung einleitet und wie folgt lau­tet:Um die Herabsetzung der Rüstungen aller Nationen zu ermöglichen, verpflich­tet sich Deutschland.... Genau juristisch ge­nommen und dem Sinne nach will dieser Satz unseres Erachtens doch nur feststellen, daß, wenn Deutschland seiner Verpflichtung abzurüsten nachgekommen sei, den. Alliierten die Möglichkeit geboten wäre, auch ihrerseits ihre Rüstungen herabzusetzen. Insofern stellt hier diese Möglichkeit eine Verpflichtung dar, als durch die Ver­tragsbestimmungen die Voraussetzungen geschaffen wer­den sollen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Dieser Präambel einen anderen Sinn unterzulegen, heißt bewußt ihren Sinn verfälschen. Aber auch dann. wenn sich Tardieu nur an das WortMöglichkeit" klammert, hat er unrecht. Denn es gibt ja im Versail­ler Friedensvertrag noch einen anderen Passus, der die Abrüstungspflicht der Alliierten festlegt und der, da er noch schärfer formuliert ist, auch der gerissensten Ver­drehungssucht eine nicht zu knackende Nuß vorlegt. Da heißt es im Artikel 8 der Völkerbundsakte:Die Bun­desmitglieder bekennen sich zu dem Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung inter­nationaler Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen vereinbar ist". Niemand auf der Welt mit Ausnahme französischer Verdrehungskünstler wird abstreiten wollen, daß die Sicherheit der militärisch bestgerüstetsten Nation, Frankreichs, durch die gegebenen Verhältnisse. Rüstungsstand, Wehrlosigkeit Deutsch­lands, Locarnovertrag und Kellogg=Pakt gewähr­leistet ist. Da man dies einfach nicht abstreiten kann, so muß man Herrn Tardieu ebenso freimütig, wie er

Streiflichter.

Präventio-Krieg.

Mit dem WortMan kann dem lieben Gott nicht in die Karten gucken" hat Bismarck sich gegen sogen. Präventiv=Kriege, also solche, die vom Zaune gebrochen werden, um sich vor einem später zu erwartenden Angriff zu schützen, erklärt. Wilhelm II., der, wie Bülow in seinen Erinnerungen behauptet, Bismarck einmal verhaften und nach Spandau bringen lassen wollte, hat in diesem Punkte wenigstens der Ansicht Bismarcks Folge geleistet, trotzdem das Gegenteil ihm einmal nahezu sicheren Er­folg verbürgt hätte. Wir erfahren das aus den kürz­lich erschienenen Erinnerungen des Freiherrn von der Lancken=Waknitz, eines Diplomaten der Vorkriegszeit, der einmal während des Krieges im Jahre 1917 eine bedeutende Rolle gespielt hat, worauf wir noch zu sprechen kommen werden. von der Lancken war wäh­rend der Marokko=Krise Botschaftsrat in Paris. Er gibt nun den Schlüssel zu dem eigenartigen Verhalten Bülows, der das englisch=französische Marokko=Abkom­men 1904 als berechtigt anerkannte und dann im Früh­jahr 1905 mit der Kaiserfahrt nach Tanger so drama­tisch bekämpfte. Nach von der Lancken sei die Erklärung hierzu in einer gemeinsamen Intrige Holsteins und Schlieffens zu suchen. Holstein, der allmächtige Vor­tragende Rat im Auswärtigen Amt, dessen unheimliche Figur auch durch Bülows Erinnerungen nicht an Klar­heit gewonnen hat, und Schlieffen, der damalige Gene­ralstabschef, waren Jugendfreunde. Schlieffen war der Meinung, daß vom militärischen Standpunkt aus ein Krieg mit Frankreich damals diePatentlösung aus der damals schon dräuenden Weltkrise sei. England sei vom Burenkrieg her geschwächt, Rußland im japanischen Kriege gebunden, Frankreich also isoliert, und mit Frankreich allein würden wir schon fertig werden. Nun schreckten sowohl der Kaiser wie Bülow vor einem Prä­ventiv=Krieg zurück. Sie haben sich darüber unzwei­deutig geäußert. Da sei Holstein auf den Gedanken verfallen, durch Aufrollung der Marokko=Frage eine deutsch=französische Hochspannung zu erzeugen, die eine große Explosion herbeiführen könnte. Bekanntlich lief aber die Marokko=Frage sich auf der Konferenz von Algeciras tot, und zwar mit einer kaum verschleierten Niederlage Deutschlands. von der Lancken erzählt nun, daß Holstein später seinen Irrtum eingesehen und ihm gesagt habe,ich hätte mir klar sein müssen, daß Bülow schwerlich, der Kaiser keinesfalls sich zum letzten ent­schließen würden.

Es gehört zum ständigen Inventar und zum Aufbau der Kriegsschuldlüge, daß Deutschland und insbesondere der ehemalige Kaiser den Weltkrieg Jahrzehnte hindurch vorbereitet haben und stets dazu entschlossen gewesen seien. Nun sehen wir hier, wie denKriegsverbrechern der Sieg förmlich angetragen wird, und sie lehnen ihn ab. Heute, nachdem wir die Leistungen des deutschen Heeres im Krieg gegen eine Welt von Feinden gesehen haben, können wir sogar sagen, daß der Schlieffensche AusdruckWir werden mit Frankreich allein schon fertig werden", recht matt war. Aber auch jahrelang nach dem russisch=japanischen Kriege, auf den die erste russische Revolution folgte, waren die Chancen für uns viel günstiger als 1914. Bis 1910 hätten wir kaum mit einem Zweifrontenkrieg zu rechnen brauchen. Erst von da ab war der russische Wiederaufbau mit französischem Gelde vollendet. Trotzdem sind Deutschland und sein früherer Kaiser in Versailles als Alleinschuldige an der Weltkatastrophe gebrandmarkt worden.

es selbst beliebte, sagen, daß die innere Wahrheit, die Logik und die Gesinnung seines Freimuts äußerst krumme Wege gehen.

Auch für die mit den Lebensinteressen Deutschlands und der Weltvernunft im schärfsten Gegensatz stehenden Grenzziehungen im Osten des Reiches hat der französische Ministerpräsident eine Lanze zu brechen versucht: Wenn man die territorialen Klauseln wieder in Frage stellen würde, und wenn es eine Mehr­heit für die Revision geben sollte, dann würde einige Monate später, nicht durch den Willen von einzelnen Männern, sondern durch die Gewalt der Dinge zunächst einmal wieder Krieg ausbrechen und dann die Re­volution. Wenn also das koloniale Gebilde Ost­preußen wieder innerhalb der deutschen Grenze dem Volkskörper einverleibt würde, zu dem es von Natur aus gehört, dann soll es Krieg und Revolution geben? Wer will dann den Krieg und die Revolution? Gewiß nicht Deutschland. Also was soll der Hinweis? Eine Drohung? Anders kann hier derFreimut" Tardieus nicht gedeutet werden. Er ist nicht schlecht, denn er zeigt uns, wie sich in maßgebenden Köpfen des regie­renden Frankreichs und damit auch des Völkerbundes der Kriegsächtungspakt und alle die schönen Dinge, die den Frieden verewigen sollen, abspiegelt.

In der Kammer fand die französische Regierung nach der Rede Tardieus das Vertrauen einer Mehrheit. Auch das ist Freimut. Nehmen wir ihn zur Notiz.

Die Genfer Abrüstungsberatungen.

WTB Genf, 14. Nov. Der Vorbereitende Abrüstungs­ausschuß hat heute den deutschen Antrag, für das Land­rüstungsmaterial das Prinzip der direkten Herab­setzung anzunehmen, mit 9 gegen 9 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen abgelehnt. Gegen die Stimmen Deutschlands, Rußlands und Ita­liens nahm der Ausschuß dann eine Entschließung an, in der festgestellt wird, daß die Mehrheit des Ausschusses sich für eine Herabsetzung des Heeresmaterials durch Be­schränkung der Heeresausgaben ausgesprochen habe.

*

Neues Vertrauensvokum der Kammer.

Paris, 14. Nov. Die Interpellationsdebatte über die Finanz= und Börsenkrise(Fall Oustric) ist heute kurz von 22 Uhr mit einem Vertrauensvotum für die Regierung von 318 gegen 271 Stimmen zu Ende ge­gangen.

Die heutige Nummer umfaßt 40 Seiten