81. Jahrgang.— Nr. 19678.
15. Rovember 1930.
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Kein stäutlicher Zwung für Preis und Löhnsenrung.
Rundgebung des Rabinetts=Ausschusses für Arbeits= und Preisfragen.
zwischen sämtliche Stadtverwaltungen zu tatkräftiger Mitarbeit an dieser wichtigsten volkswirtschaflichen Aufgabe aufgerufen hat. Es ist nicht zu zweifeln, daß im Zusammenwirken aller Behörden die Bewegung eine starke Stütze findet, die auf die allgemeine Preissenkung gerichtet ist.
Als weitere Beispiele für die Abwärtsbewegung der Preife seien erwähnt die Preisrückgänge der einzelnen Markenartikel auf dem Nahrungsmittelgebiete, wie Malzkaffee, Makkaroni um 5 bis 12,7 Prozent, auch einige andere Markenartikel sind dieser Bewegung bereits gefolgt, dies im Ausmaße von 5 bis 20 Prozent.
Auf dem Gebiete der Eisenverarbeitung beträgt die Preisermäßigung bei einer Anzahl von Waren .25 bis 10 Prozent, bei Messing= und Kupferfabrkaten 25 bis 40 Prozent, bei Alluminium 10 Prozent und den Erzeugnissen daraus 8 Prozent. Gummireifen weisen eine Preisermäßigung von 10 Prozent, Linoleum im Durchschnitt von 5,3 Prozent, einzelne Sorten von Zündhölzern von 8 bis 20 Prozent,
CNB Berlin, 14. Nov. Der Reichswirtschaftsrat veröffentlicht jetzt das Gutachten, das sein mit der Prüfung der
Preisbindungsfrage für Markenartikt
beauftragter Ausschuß erstattet hat. Der Ausschuß hat zu seiner Untersuchung auch die beteiligten Wirtschaftskreise hinzugezogen. Er hat folgende Warengebiete untersucht: Haferflocken, Kaffee=Ersatzmittel, Schokolade, Backpulver und Puddingpulver, Zahnpflegemittel, Schuhputzmittel, Seifen, Waschmittel, elektrische Bedarfsgegenstände(z. B. Staubsauger, Bügeleisen, Glühlampen), Schallplatten. Schätzungsweise kann der Anteil preisgebundener Markenartikel am Gesamtumsatz des Einzelhandels auf 350 bis 400 Millionen angenommen werden. Der Anteil der preisgebundenen Waren an den Haushaltsausgaben wird auf etwa 7 bis 10 Prozent geschätzt. Bei der Untersuchung der Handelsspannen ist der Ausschuß zu dem Ergebnis gekommen, daß sie im Durchschnitt im Einzelhandel mit Lebensmitteln und Kolonialwaren zwischen 15 und 25 Prozent, im Feinkosthandel zwischen 15 und 33½ Prozent und im Drogenhandel zwischen 25 und 50 Prozent liegen dürften. Die Großhandelsspannen dürften im Durchschnitt 10—12 Prozent betragen.
Der Ausschuß hat das Ergebnis seiner Untersuchungen in einer Entschließung zusammengefaßt, die in ihrem ersten Absatz die Reichsregierung ersucht, unverzüglich den Versuch zu machen, die Senkung der Preise für die Markenwaren, insbesondere für Lebensmittel und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs, durch
Papier von 8 bis 10 Prozent auf. Orthopädische Hilfsmittel haben einen Preisabschlag von 8 Prozent, orthopädisches Schuhwerk einen solchen von 10 Prozent erfahren.
In manchen dieser und anderer Fälle werden sich die Abschläge vom Preise im Einzelhaushalt nur in Pfennigbeträgen auswirken. Wer sich der Inflationssitte noch nicht entwöhnen kann, auf 5 oder 10 Pfennig=Beträge abzurunden, der wird genug Gelegenheit haben, den Erfolg der Preissenkungen zu verkleinern. Tatsächlich aber ist die Zeit dazu zu ernst. Auch der Bruchteil eines Pfennigs gewinnt in der Volkswirtschaft mehr Bedeutung denn je. Darum muß
der Pfennig als Rechnungseinheit anerkannt
und gewertet werden. Die erforderlichen Maßnahmen sind in Vorbereitung, die es ermöglichen sollen, dem auch im Zahlungsverkehr Rechnung zu tragen.
So wird der Kabinettsausschuß für Arbeits= und Preisfragen mit allem Nachdruck an die weitere Entlastung der Wirtschaft durch Preisermäßigungen herangehen.
Preissenlung der Markenartikel.
Gutachten des
Zusammenwirken von Erzeugern, Großhandel und Einzelhandel
in dem auf den einzelnen Gebieten als möglich erscheinenden Umfang zu sichern. Das Ausmaß der bisher erfolgten Preissenkungen, die in der Regel zehn Prozent des Endverkaufspreises überschreiten, könne als Richtlinie für die Mindestmöglichkeiten des Preisabbaues angesehen werden. Im zweiten Absatz empfiehlt die Entschließung der Reichsregierung, den Verbänden der in Frage kommenden Erzeuger und Händler kurze Fristen zu setzen, in denen die Preissenkung in ausreichendem Maße gesichert sein müsse. Soweit es innerhalb dieser Fristen nicht gelingt, die erforderlichen Preissenkungen zu erreichen, empfiehlt der Reichswirtschaftsrat der Reichsregierung, aufgrund ihrer Vollmachten auf diesen Gebielen die Preisbindungen im Wiederverkauf für Markenartikel zu lockern, erforderlichenfalls aufzuheben.
Die Entschließung enthält noch einen britten Absatz, über den aber Einstimmigkeit nicht erzielt werden konnte, da ein Teil der Ausschußmitglieder volkswirtschaftliche Schädigungen— z. B. Preisschleuderei— von seiner Durchführung befürchtet. Dieser Teil der Entschließung empfiehlt, falls sich das spezialisierende Verfahren als nicht genügend wirksam oder als praktisch undurchführbar erweisen würde, die allgemeine Aufhebung der Preisbindung für Markenartikel, da sie in diesem Fall mindestens für die nächste Zeit als das geringere Uebel gegenüber der Gefahr einer Preishochhaltung auf den Gebieten der Markenartikel anzusehen sei. Für diesen Absatz haben sich nur 13 Stimmen ergeben, während 16 Mitglieder gegen ihn gestimmt haben.
WTB Berlin, 14. Nov. Die von dem Kabinettsausschuß für Arbeits= und Preisfragen gestern in Aussicht gestellte Verlautbarung hat folgenden Wortlaut:
Wie die Reichsregierung in ihrem Wirtschafts= und Finanzprogramm betont hat, ist die Herabsetzung der Preise auf der ganzen Linie eine Notwendigkeit. Durch Verbilligung von Erzeugung und Verbrauch muß die Wirtschaft neu belebt werden. Verbilligung des Verbrauchs, Senkung der Lebenshaltungskosten, sind insbesondere auch geboten, um die Wirkungen abzuschwächen, die sich aus der Kürzung der Beamtenbezüge und aus Lohnsenkungen ergeben. Ihr Ziel ist ebenfalls, die Lasten zu ermäßigen, die auf der Erzeugung ruhen. Niemand darf und wird sich auf die Dauer dieser zwangsläufigen Entwicklung entziehen können. Sache der Regierung ist es, sie mit allen Kräften zu fördern, damit die Schäden und Nachteile der Uebergangszeit zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage, von Preisen und Kaufkraft, abgekürzt und das Millionenheer der Arbeitslosen so rasch wie möglich der schaffenden Tätigkeit wieder zugeführt wird. Die ungezählten und vielgestaltigen wirtschaftlichen Vorgänge des täglichen Lebens können nun aber nicht durch staatlichen Zwang in diesem Sinne einheitlich und plötzlich gestaltet werden. Zwang ist geboten, wenn der wirtschaftlichen Entwicklung wider besserer Erkenntnis Hindernisse bereitet werden, die anders nicht zu beseitigen sind. In diesem Sinne fördernd diese Verbilligungstendenzen zu stützen, ist die Aufgabe des Kabinettsausschusses für Arbeits= und Preisfragen.
Fast noch wichtiger aber als Zwang ist neben den Verhandlungen des Staates zu
gütlicher Lösung der Fragen der Druck der Verbraucher und der öffentlichen Meinung auf Widerstrebende.
Wenn durch die Hand der Hausfrau jährlich etwa 25 Milliarden deutschen Volkseinkommens gehen, so ist es vornehmlich auch sie, die auf die Preishaltung stärksten Einfluß nehmen kann. Sie kann die Verkäufer und die Waren bevorzugen, durch die sie billiger und besser bedient wird als durch andere.
Die öffentliche Meinung braucht es nicht zu dulden, daß durch Zurückhaltung im Preisabbau Einzelne unberechtigte Vorteile haben, wenn andere in richtiger Erkenntnis der Lage Opfer bringen. Sie kann und muß auch hier der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen. Der Presse jeder Richtung und Größe, besonders auch den Zeitungen auf dem Lande, sind hier wichtige volkswirtschaftliche Aufgaben erwachsen, die verdienstvoll gelöst werden können.
Gerechtigkeit kann insbesondere der Landwirt fordern, dessen Preise weit unter dem Stand derer anderer Waren hinabgeglitten sind. Wird dieser Bewegung Einhalt geboten, wird versucht, in angemessenen Grenzen die Preise der Agrarerzeugnisse unter anderen Waren einander anzunähern, dann braucht daraus für die Lebenshaltungskosten der breiten Massen keinerlei Nachteil zu entstehen. Denn die rückläufige Bewegung der Preise, die der letzte Verbraucher zu zahlen hat, muß dadurch auch weiter möglich sein, daß sich der Unterschied der Preisspannen in gerechter Weise auf die Zwischenglieder verteilt.
Die folgende knappe Zusammenstellung soll eine gewisse Uebersicht darüber geben, welche Fortschritte die Abwärksbewegung der Preise in letzter Zeit auf einzelnen Wirtschaftsgebieten, meist infolge der staatlichen Maßnahmen, gemacht hat.
Gewiß sind an sich die Lebenshaltungskosten für den Verbraucher unmittelbar von sinnfälligster Bedeutung. Trotzdem ist aber auch für ihn gleich wichtig, wenn die Urstoffe der Wirtschaft verbilligt werden. Daher steht die inzwischen erreichte Herabsetzung der Kohlenpreise um 6 Prozent im Vordergrunde. Sie wird sich für den Verbraucher in allen Richtungen auswirken. Ferner sind die Holzpreise um 17 bis 20 Prozent, die Preise für Walzwerksprodukte um 3 Prozent ermäßigt worden. Von den Baustoffen sind im Durchschnitt Zement um 10 Prozent, Ziegel um 10 bis 15 Prozent, Fensterglas um 22 Prozent und Platten um 35 bis 40 Prozent im Preise gesunken. Der Index der gesamten Baukosten ist seit Januar d. J. um 11 Prozent zurückgegangen.
Wenn so die Preise in den Grundlagen der Wirtschaft weichen, dann muß davon der ganze Preisaufbau beeinflußt werden, der darauf ruht. Aehnliches gilt von den Kosten der Nahrungsmittel, die für den realen Wert des Lohnes von entscheidender Bedeutung sind. Von den Nahrungsmitteln ist der Brotpreis von 50 Reichspfennig auf 46 Reichspfennig für das Normalbrot herabgesetzt worden unter gleichzeitiger Erhöhung des Gewichtes von 1225 auf 1250 Gramm. Das bedeutet eine Ermäßigung um 10 Prozent. Ferner soll in Zukunft das Brot einheitlich nach Gewicht verkauft werden. Damit wird einem lange gehegten Wunsche der Bevölkerung Rechnung getragen. Das Pfund Schweinefleisch ist um fünf Reichspfennige billiger geworden. Der Preis für Kartoffeln hat sich auf 23 bis 30 Reichspfennig für je zehn Pfund gesenkt gegenüber einem Preise von 40 bis 45 Reichspfennig im Oktober d. I. Der Literpreis der Milch ist für Berlin um einen Reichspfennig auf 29 Reichspfennige gesenkt worden: Im Oktober 1929 betrug er noch 32 Reichspfennige. Dabei ist zu berücksichtigen, daß durch Einführung der Qualitätsbezahlung für Milch dem Handel Mehraufwendungen entstanden sind, auf deren Einrechnung in den Milchpreis er bei den Verhandlungen verzichtet hat. Bei Gemüse und Obst haben die Verkäufer eine Preissenkung grundsätzlich zugesagt. Die Einzelheiten werden noch im Benehmen mit der Marktforschungsstelle geregelt. Zunächst gelten diese Vereinbarungen nur für Berlin. Das preußische Handelsministerium hat bei ihrem Zustandekommen mitgewirkt. Es wird dafür sorgen, daß auch die zuständigen Behörden im Lande in gleicher Weise eingreifen. Mit den Regierungen der anderen Länder wird die Reichsregierung selbstverständlich ebenfalls in diesem Sinne zusammenarbeiten.
Bedeutsam ist in diesem Rahmen, daß der Deutsche Städtetag in Unterstützung der amtlichen Aktion in
Der freimütige Herr Tardien.
Die Affäre Briand=Tardien.— Wie der französische
Ministerpräsident den Friedensvertrag auslegt.—
Die französische Regierung erhält ihr Vertrauensvotum.
Wenn in der französischen Kammer wichtige Dinge zur Aussprache stehen, dann kommt es meistenteils zu einer Nachtsitzung. Auch das ist eine Regie, die nicht ungeschickt ist und durch eine Konzentration der Debatte Wirkungen erzielt, die sich vom amtierenden Kabinett auswerten lassen. Der Sache nach handelte es sich bei der letzten Kammeraussprache um die Auseinandersetzung über verschiedene Interpellationen, die ihre Spitze sowohl gegen Briand als auch gegen Tardieu hatten. Also um eine Affäre Briand=Tardieu. Besser gesagt um die Feststellung, inwieweit die Politik dieser beiden führenden Männer Frankreichs übereinstimmt, wo sich Gegensätze finden lassen und wo den sich befehdenden Parteigruppen Frankreichs Handhaben geboten werden, entweder dem französischen Ministerpräsidenten oder dem Außenminister Schach zu bieten. Eine innerpolitische Auseinandersetzung also, wenn die Regie nicht gewesen wäre, die geschickt alles umgebogen hat, und aus dem Aneinanderprall der verschiedenen Strömungen eine außenpolitische Demonstration machte, die sich sehen lassen kann.
Auf die Rede Briands in der französischen Kammer einzugehen erübrigt sich. Er sprach als parlamentarie scher Taktiker, der seine Mehrheit sucht. Keine Festlegungen, keine Blößen. Alles in allem eine Verteidigung seiner Politik mit den üblichen Schlagworten und den zündenden Formeln, entlehnt dem Geist der und einer Mode, Formeln, die nichts sagen oder auch alles sagen, je nach der Auslegung, die man ihnen gibt. Es bleibt also jedem überlassen, sich die passende Auslegung herauszusuchen.
Anders die Rede Tardieus. Sie ist offenherziger und freimütiger,„weil in einem demokratischen Regime nicht nur der Bürger frei zum Bürger sprechen soll, sondern auch das Volk freimütig zum anderen Volk". Herr Tardieu hatte es also diesmal mit der Freimütigkeit. Sehr interessant diese Freimütigkeit, die Einblicke in die Denkart einer französischen Regierung gibt, eine Denkart, die zumindesten originell ist und der Weltöffentlichkeit gegenüber dokumentiert, wie präzise und verblüsend sich mit Vertragsbestimmungen jonglieren läßt,
wenn man Meister in der Kunst des Auslegens ist. Der französische Ministerpräsident nennt diese Kunst„Frei
mütigkeit". Man könnte auch eine andere Bezeichnung finden, aber wir wollen bei ihr bleiben, um ebenso freimütig, wie es Herr Tardieu ttt, dem französischen Ministerpräsidenten zu sagen, daß er sich in seinem Freimut allerlei Unglaublichkeiten, Verdrehungen und, wenn man es derb sagen will, Verfälschungen klipp und klar vorliegender Vertragsbestimmungen geleistet hat.
Wir wollen dies beweisen. Herr Tardieu sagt in seiner Rede, daß es innerhalb des Völkerbundes zwischen Frankreich und Deutschland eine Meinungsverschiedenheit gäbe. Frankreich halte sich an den Friedensvertrag, der es Deutschland zur Pflicht mache, abzurüsten, während die Abrüstung für die Alliierten nur eine Möglichkeit sei. Eine wirklich meisterhafte Auslegung der Präambel im Friedensvertrag, die das Kapitel der Abrüstung einleitet und wie folgt lautet:„Um die Herabsetzung der Rüstungen aller Nationen zu ermöglichen, verpflichtet sich Deutschland....“ Genau juristisch genommen und dem Sinne nach will dieser Satz unseres Erachtens doch nur feststellen, daß, wenn Deutschland seiner Verpflichtung abzurüsten nachgekommen sei, den. Alliierten die Möglichkeit geboten wäre, auch ihrerseits ihre Rüstungen herabzusetzen. Insofern stellt hier diese „Möglichkeit“ eine Verpflichtung dar, als durch die Vertragsbestimmungen die Voraussetzungen geschaffen werden sollen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Dieser Präambel einen anderen Sinn unterzulegen, heißt bewußt ihren Sinn verfälschen. Aber auch dann. wenn sich Tardieu nur an das Wort„Möglichkeit" klammert, hat er unrecht. Denn es gibt ja im Versailler Friedensvertrag noch einen anderen Passus, der die Abrüstungspflicht der Alliierten festlegt und der, da er noch schärfer formuliert ist, auch der gerissensten Verdrehungssucht eine nicht zu knackende Nuß vorlegt. Da heißt es im Artikel 8 der Völkerbundsakte:„Die Bundesmitglieder bekennen sich zu dem Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabsetzung der nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß erfordert, das mit der nationalen Sicherheit und mit der Erzwingung internationaler Verpflichtungen durch gemeinschaftliches Vorgehen vereinbar ist". Niemand auf der Welt— mit Ausnahme französischer Verdrehungskünstler— wird abstreiten wollen, daß die Sicherheit der militärisch bestgerüstetsten Nation, Frankreichs, durch die gegebenen Verhältnisse—. Rüstungsstand, Wehrlosigkeit Deutschlands, Locarnovertrag und Kellogg=Pakt— gewährleistet ist. Da man dies einfach nicht abstreiten kann, so muß man Herrn Tardieu ebenso freimütig, wie er
Streiflichter.
Präventio-Krieg.
Mit dem Wort„Man kann dem lieben Gott nicht in die Karten gucken" hat Bismarck sich gegen sogen. Präventiv=Kriege, also solche, die vom Zaune gebrochen werden, um sich vor einem später zu erwartenden Angriff zu schützen, erklärt. Wilhelm II., der, wie Bülow in seinen Erinnerungen behauptet, Bismarck einmal verhaften und nach Spandau bringen lassen wollte, hat in diesem Punkte wenigstens der Ansicht Bismarcks Folge geleistet, trotzdem das Gegenteil ihm einmal nahezu sicheren Erfolg verbürgt hätte. Wir erfahren das aus den kürzlich erschienenen Erinnerungen des Freiherrn von der Lancken=Waknitz, eines Diplomaten der Vorkriegszeit, der einmal während des Krieges im Jahre 1917 eine bedeutende Rolle gespielt hat, worauf wir noch zu sprechen kommen werden. von der Lancken war während der Marokko=Krise Botschaftsrat in Paris. Er gibt nun den Schlüssel zu dem eigenartigen Verhalten Bülows, der das englisch=französische Marokko=Abkommen 1904 als berechtigt anerkannte und dann im Frühjahr 1905 mit der Kaiserfahrt nach Tanger so dramatisch bekämpfte. Nach von der Lancken sei die Erklärung hierzu in einer gemeinsamen Intrige Holsteins und Schlieffens zu suchen. Holstein, der allmächtige Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, dessen unheimliche Figur auch durch Bülows Erinnerungen nicht an Klarheit gewonnen hat, und Schlieffen, der damalige Generalstabschef, waren Jugendfreunde. Schlieffen war der Meinung, daß vom militärischen Standpunkt aus ein Krieg mit Frankreich damals die„Patentlösung“ aus der damals schon dräuenden Weltkrise sei. England sei vom Burenkrieg her geschwächt, Rußland im japanischen Kriege gebunden, Frankreich also isoliert, und mit Frankreich allein würden wir schon fertig werden. Nun schreckten sowohl der Kaiser wie Bülow vor einem Präventiv=Krieg zurück. Sie haben sich darüber unzweideutig geäußert. Da sei Holstein auf den Gedanken verfallen, durch Aufrollung der Marokko=Frage eine deutsch=französische Hochspannung zu erzeugen, die eine große Explosion herbeiführen könnte. Bekanntlich lief aber die Marokko=Frage sich auf der Konferenz von Algeciras tot, und zwar mit einer kaum verschleierten Niederlage Deutschlands. von der Lancken erzählt nun, daß Holstein später seinen Irrtum eingesehen und ihm gesagt habe,„ich hätte mir klar sein müssen, daß Bülow schwerlich, der Kaiser keinesfalls sich zum letzten entschließen würden“.
Es gehört zum ständigen Inventar und zum Aufbau der Kriegsschuldlüge, daß Deutschland und insbesondere der ehemalige Kaiser den Weltkrieg Jahrzehnte hindurch vorbereitet haben und stets dazu entschlossen gewesen seien. Nun sehen wir hier, wie den„Kriegsverbrechern“ der Sieg förmlich angetragen wird, und sie lehnen ihn ab. Heute, nachdem wir die Leistungen des deutschen Heeres im Krieg gegen eine Welt von Feinden gesehen haben, können wir sogar sagen, daß der Schlieffensche Ausdruck„Wir werden mit Frankreich allein schon fertig werden", recht matt war. Aber auch jahrelang nach dem russisch=japanischen Kriege, auf den die erste russische Revolution folgte, waren die Chancen für uns viel günstiger als 1914. Bis 1910 hätten wir kaum mit einem Zweifrontenkrieg zu rechnen brauchen. Erst von da ab war der russische Wiederaufbau mit französischem Gelde vollendet. Trotzdem sind Deutschland und sein früherer Kaiser in Versailles als Alleinschuldige an der Weltkatastrophe gebrandmarkt worden.
es selbst beliebte, sagen, daß die innere Wahrheit, die Logik und die Gesinnung seines Freimuts äußerst krumme Wege gehen.
Auch für die mit den Lebensinteressen Deutschlands und der Weltvernunft im schärfsten Gegensatz stehenden Grenzziehungen im Osten des Reiches hat der französische Ministerpräsident eine Lanze zu brechen versucht:“ Wenn man die territorialen Klauseln wieder in Frage stellen würde, und wenn es eine Mehrheit für die Revision geben sollte, dann würde einige Monate später, nicht durch den Willen von einzelnen Männern, sondern durch die Gewalt der Dinge zunächst einmal wieder Krieg ausbrechen und dann die Revolution“. Wenn also das koloniale Gebilde Ostpreußen wieder innerhalb der deutschen Grenze dem Volkskörper einverleibt würde, zu dem es von Natur aus gehört, dann soll es Krieg und Revolution geben? Wer will dann den Krieg und die Revolution? Gewiß nicht Deutschland. Also was soll der Hinweis? Eine Drohung? Anders kann hier der„Freimut" Tardieus nicht gedeutet werden. Er ist nicht schlecht, denn er zeigt uns, wie sich in maßgebenden Köpfen des regierenden Frankreichs und damit auch des Völkerbundes der Kriegsächtungspakt und alle die schönen Dinge, die den Frieden verewigen sollen, abspiegelt.
In der Kammer fand die französische Regierung nach der Rede Tardieus das Vertrauen einer Mehrheit. Auch das ist Freimut. Nehmen wir ihn zur Notiz.
Die Genfer Abrüstungsberatungen.
WTB Genf, 14. Nov. Der Vorbereitende Abrüstungsausschuß hat heute den deutschen Antrag, für das Landrüstungsmaterial das Prinzip der direkten Herabsetzung anzunehmen, mit 9 gegen 9 Stimmen bei 7 Stimmenthaltungen abgelehnt. Gegen die Stimmen Deutschlands, Rußlands und Italiens nahm der Ausschuß dann eine Entschließung an, in der festgestellt wird, daß die Mehrheit des Ausschusses sich für eine Herabsetzung des Heeresmaterials durch Beschränkung der Heeresausgaben ausgesprochen habe.
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Neues Vertrauensvokum der Kammer.
Paris, 14. Nov. Die Interpellationsdebatte über die Finanz= und Börsenkrise(Fall Oustric) ist heute kurz von 22 Uhr mit einem Vertrauensvotum für die Regierung von 318 gegen 271 Stimmen zu Ende gegangen.
Die heutige Nummer umfaßt 40 Seiten