37. Jahrgang. Nr. 12644

Bonn, Montag, 11. Oktober 1926.

Gründungsjahr des Verlags 1725.

General Heye Nachfolger v. Seeckis.

MTB Berlin, 9. Okt. Zum Nochfolger des Generals v. Seeckt ist der bisherige Kommandeur der 1. Division in Königsberg, General Heye, ernannt worden.

Die Ernennung erfolgte nach einer abermaligen Aus­sprache, die der Reichswehrminister Dr. Geßler in den heutigen Vormittagsstunden mit dem Reichspräsidenten v. Hindenburg hatte.

General Heye ist am 31. Januar 1869 in Fulda geboren und 58 Jahre alt. 1888 trat Heye als Leutnant in ein In­santerieregiment ein. Nach Besuch der Kriegsakademie wurde er 1901 in den Generalstab berufen. Von 1901 bis 1908 tat er Dienste bei der Schutztruppe. 1913 war er bereits Kom­mandeur des Infanterieregiments 74. Bei Ausbruch des Krieges bekleidete er den Posten des Chefs des Generalstabs der Heeresgruppe Woyrsch, den er bis zum September 1917 innehatte. Bei Beendigung des Krieges wurde er von der Heeresgruppe Herzog Albrecht zum Chef des Generalstabes des Feldheeres kommandiert. Nachdem er in den Jahren 1920 bis 1922 im Reichswehrministerium Dienste getan hatte, übernahm er seinen bisherigen Posten als Divisionskomman= deur in Königsberg. Heye erhielt im August 1916 den Pour

Das Eide Tenns.

Ambau in Rußland.

Vom Teninismus zum Marxismus.

Wir haben in den jüngsten Tagen öfters Meldungen aus Moskau gebracht, aus welchen sich erkennen ließ, daß die radikalen, bolschewistischen Leninisten(Sinowjew, Trotzki) gegen die gemäßigten Kreise um Stalin immer stärker auftreten müssen. Der Konflikt berührt, nach einer Darstellung der Neuen Züricher Ztg., die immer stärkere Preisgabe dessen, der bis heute, auch als Toter, die bolschewistische Idee aufrecht erhält und lebens­fähig macht, Lenins. Sonderbar, dies festzustellen, wo der Götzenkult, der mit Lenin getrieben wird, noch von allen Wänden des bolschewistischen Staatsbaus herab­schreit. Aber auf welchen Voraussetzungen hatte Lenin diesen Bau ausgeführt? Der Sozialismus schien ihm in

le Mérite und im Sommer 1918 das Eichenlaub dazu. Zur Rußland lebensfähig, wenn erstens in den Nachbarstaaten gleichen Zeit wurde er zum General befördert. General Heye(um nicht von der ganzen Welt zu sprechen) nach erfolg­war derjenige Offizier, der im Auftrag des damaligen Gene= reichen Revolutionen eine sozialistische Staats= und Ge­ralquartiermeisters Gröner dem Kaiser mittellte, daß er, meinschaftsordnung eingeführt werd­

Heye, die Garantiee für eine geordnete Rückfüh=neinschaftvoronung eingeführt werden würde, und wenn rung der Truppen aus dem Felde in die Heimat nicht zweitens das an Zahl allzu geringe russische Proletariat übernehmen könne, wenn der Kaiser nicht abdanke. sich mit der Masse des ländlichen Proletariats, derDorf­

Eine Beschuldigung des Reichspräsidenten.

von Hindenburg soll die Genehmigung zu den Manöver­übungen des Kronprinzensohnes gegeben haben.

MTB Berlin, 11. Okt. Die gleiche Quelle, die zuerst von der Teilnahme eines Hohenzollernprinzen an den Reichswehrmanövern in Württemberg zu melden wußte,

armut, zu einem Bunde zusammenschließen könnte. Keine von diesen Voraussetzungen hat sich erfüllt. Ruß­land ist das einzigesozialistische Land geblieben, und der Bauer hat sich mit dem städtischen Arbeiter nicht ver­brüdert, sondern nimmt eher eine Abwehrstellung ein. Der Zweifel. ob diesozialistische" Revolution geglückt sei, ist denn auch inne. halb der Kommunistischen Partei im Grunde schon alt. Trotzki hat vor langem geäußert, daß

will jetzt erfahren haben, daß zwar Dr. Geßler über die der bolschewistische Staatbei weitem keinen proletarischen Dienstleistung des ältesten Kronprinzensohnes nicht unter= Charakter habe, Medwedsew hat gemeint, daßdie richtet worden sei, daß sie aber unter voller Kenn: d Bauernfrage ein hoffnungsloser Fall sei, und heute muß

kichter wolven sei, bug sie über unter voner nenntnis und Bucharin konstatieren, daß marden aufbauenden Kräf­

Billigung des Reichspräsidenten, der Ober­

befehlshaber des Reichsheeres nach Art. 47 der Reichsverfassung sei, geschehen sein soll. General v. Seeckt habe sich durch die Billigung des Reichs­präsidenten, der im Sinne des Art 47 der Reichsver­fassung sein höchster Vorgesetzter sei, absolut gedeckt gefühlt. Eine amtliche Auslassung zu dieser Mel­dung dürfte im Laufe des heutigen Vormittags ergehen.

P DerMontagmorgen gibt hierüber folgende inhalt­

lich gleichlautende Meldung:

In den Kreisen der Regierung und der Verwal­tung, und zwar der höchsten Stellen im Reich und in Preußen werden in der bestimmtesten Form Be­hauptungen weitergegeben, die die Umstände, die zur Entlassung des Generals von Seeckt geführt haben, ganz eigenartig gelagert erscheinen lassen. Danach habe der Gene­ral von Seeckt zwar dem Reichswehrminister Geßler üder die kurzfristige Dienstleistung des Kronprinzensohnes nicht unterrichtet, sie sei aber unter voller Kenninis und Billigung des Reichspräsidenten von Hindenburg erfolgt. General von Seeckt habe sich durch die Billigung des Reichspräsidenten, der als Oberbefehlshaber des Reichsheeres nach Artikel 47 der Verfassung sein höchster Vorgesetzter ist, absolut gedeckt fühlen müssen. In dieser Beziehung und selb iverständlicher Erwar­tung sei General von Seeckt aufs bitterste enttäuscht worden. In Erwartung eines amtlichen Dementt.

Bacharin konstatieren, baß manden aufbauenden Kräf­ten des Proletariats mißtraut, ja daß man von der Leugnung des sozialistischen Charakters unserer Unter­nehmungen zu Zweifeln an den proletarischen Charakter des Sowjetstaates übe. geht". Die Opposition kämpft vor­erst um die Eroberung formaler Rechte, sie erstrebt die Freigabe der Fraktionsbildung innerhalb der Partei, sie wirft sogar die Nützlichkeit der Teilung der einen in zwei, drei und mehr Parteien auf und arbeitet damit natürlich der Legalisierung nichtkommunistischer Parteien und der Anerkennung der demokratischen Methoden vor. Aber alle diese Forderungen, die die Kommunistische Par­tei scheinbar von Ballast befreien, die ihre Macht nicht schmälern sollen, laufen noch einem viel wichtigeren Ziele zu: der Untergrabung des ganzen le

ninistischen Diktaturgedankens innerhalb des russischen Bolschewismus. Die Diktatur im Sinne Lenins als Zwangsherrschaft deraufgeklärten Avantgarde" über die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wird an­gezweifelt! Sie hätte Lenins Politik gerechtfertigt, wenn sie wirklich den Sozialismus in Rußland und in den übrigen Ländern nach sich gezogen hätte. Sein Aus­bleiben führt die neue Generation in Rußland zur Be­sinnung auf die Lehre des Marxismus, die von Lenin so gröblich mißachtet worden ist, zur Verwerfung der gewalt­sam durchgeführten Diktatur und zu der Anerkennung, daß die Voraussetzung des Sozialismus, proletarische Mehr­

Wir geben die vorstehenden Meldungen unter vollstem heit in überwiegenden industrialisiertem Staat, in Rußland Vorbehalt wieder, wobei wir bemerken, daß das halbamt= nicht gegeben ist. Lenin wird wieder von Marx über­liche WTB die Nachricht nicht verzeichnet. Nur der Um= wunden. stand, daß der Montagmorgen, der sonst als ein etwas un­ In der inneren Politik, in der die Leninsche Zwangs­vorsichtiges Sensationsblatt gilt, auch die erste Meldung diktatur mit den Mitteln derTscheka aufrecht erhalten über die Teilnahme des Kronprinzensohnes an den Ma= worden ist, wagt Stalin natürlich noch nicht, die Forde­növern in Münsingen zuerst verbreitete und mit dieser rungen der Opposition zu erfüllen, aber sein Kampf mit der zunächst unglaubwürdigen Meldung recht behielt, veran- Dritten Internationale deutet an, daß es sich nicht um laßt uns, auch diese Darstellung zu registrieren. Wir eine bloße Abschüttelung Sinowjews handelt, daß der Le­halten es angesichts der Tragweite der Angaben, daß ninismus von außen her aufgerollt wird: das russisch von Hindenburg die Teilnahme des Kronprinzensohnes an Gold, das im Ausland den Leninismus ebenso au den Manövern zunächst gebilligt habe, um dann in dies recht zu erhalten hatte, wie dieTscheka im In­Entlassung von Seeckts zu willigen, für ganz ausge- land, es rollt nicht mehr, und schon wird ihm von

den kommunistischen Bruderparteien die Gefolgschaft auf­gesagt. er Verzicht Stalins auf die interna­tionale Propaganda ist schon das indirekte Ein­geständnis, daß die Weltrevolution nicht zu er­zwingen ist, daß also der Leninismus nicht ans Ziel geführt hat. Von hier bis zur eigentlichen Absage an die Leninsche Diktatur und zur Rück ehr zur Marxschen Entwicklungslehre, die als praktische Folge den demokratischen Staat rechtfertigen muß, ist wohl noch ein langer und mühseliger, aber doch schon deutlich erkenn­barer Weg.

Sowjetrußland befindet sich in einem Umbau und wenn die Erschlaffung des Leninismus zuerst an den Beziehungen des russischen zum ausländischen Kommunis­mus deutlich geworden ist, so wird dieser Umbau des ge­samten Staatsweser schon heute ebenso von außen her am ehesten erkennbar: an der beginnenden Neuorien­tierung der russischen auswärtigen Politik.

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Weitere Maßnahmen gegen die Opposition in Sowjetrußland.

TUMoskau, 9. Okt. Der Kriegs= und Revolutionsrat verbiefet durch Armeebefehl die Teilnahme von An­gehörigen der Armee an Versammlungen der Opposi­lon sowie die Veranstaltung eigener Meetings politischen Hintergrundes. Für jedes Regiment, jede Batterie, jedes Kriegsschiff und andere Einzelformationen des Heeres werden sog. außerordentliche politische Kommissare bestellt, die für die Beachtung dieses Verbotes sorgen müssen. Par­keiversammlungen der sog.kommunistischen Zellen in der Armee dürfen nur mit besonderer Genehmigung und unter der Kontrolle des Rates abgehalten werden. Der Chef der ukrainischen Roten Armee erhielt einen offenen Ver­weis, weil er eine militärische Versammlung in Charkow genehmigte, in der Mitglieder der Parteiopposition sprechen konnten.

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Auch die Komintern gegen die Sowjekopposition. TU Moskau, 10. Okt. Das Exekutivkomitee der Kominkern hat mit allen Stimmen bei Stimmenthaltung des englischen Mitglieds Brown beschlossen, das Zentral­komilee der Kommunistischen Partei aufzufordern, mit allen revolutionären Gesetzen und Mitteln die Opposition auszurotten.

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Sinowjew und Trotzki dem Parteigericht übergeben.

TU Moskau, 9. Okt. Da die Führer der Opposition ungeachket des Redeverbots in die Arbeiter= und Partel­versammlungen weiter eindrangen, hat das Zentralkomitee der Parlei Sinowjew, Trotzki und Piatakow dem Parteigericht übergeben. Es kann mit der Ver­schickung der drei Verhafteken nach Sibirien gerech­net werden. Ein Teil der Gruppe Stalin hat die Aus­schließung Sinowjews und Trotzkis aus der Partei beantragt, jedoch soll Stalin sich dagegen geäußert haben. In Leningrad, Omsk und Odessa sind über 400 oppositio­nelle Parteimitglieder von der G. P. U. verhafte worden. In Inwanowo-Wosnessensk ist es auf einer Ar­beiterversammlung zu Zusammenstößen gekommen, sodaß die G. P. U. schließlich die Versammlung auflöste. In Kronstadt sind zwei Marineregimenter auf­gelöst worden, weil sie sich zur Opposition bekannt und die Ernennung Sofs zum Oberbefehlshaber der bal­tischen Flotte verlangt hatten.

Mit der Koalitionsfrage beschäftigt sich auch eine Zu­schrift, die der Demokratische Zeitungsdienst aus führenden Kreisen der Demokratischen Landtagsfraktion erhält und in dem es u. a. heißtEtwaige Koalitionsver­handlungen in Preußen werden nicht dadurch gefördert, wenn die Volkspartei behauptet, die Hauptschwierigkeiten lägen bei den Demokraten. Richtig ist, daß die demokra­tische Landtagsfraktion mit Rücksicht auf die Persönlich­keiten, die sie bisher zur Verfügung gestellt hat, und mit Rücksicht auf ihre schwere Aufgabe Mittler zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie zu sein,

schlossen, daß sich die Dinge so abgespielt haben können. Wie Mirbachs Telegr.=Büro ja auch berichtet, ist bereits heute vormittag eine amtliche Aufklärung zu erwarten. Diese Aufklärung dürfte ein glattes

Dementi obiger Behauptungen sein.

Personalveränderungen infolge des Rücktritts Severing.

MTB Berlin, 9. Okt. Wie wir zuverlässig erfahren, hat die preußische Staatsregierung heute mittag den Mi­nisterialdirektor und Leiter des preußischen Polizeiwesens Abegg zum Staatssekretär im preußischen Innenministe­rium ernannt. An die Stelle Abeggs tritt der bisherige sich nicht mit einer Aschenbrödelrolle begnügen kann. Sollte Ministerialrat im Wohlfahrtsministerium Kraußner. in dieser Hinsicht aus diesen selbstverständlichen Forderun­Anstelle des vor vier Tagen zum Innenminister erann=gen Schwierigkeiten entstehen, so werden die Demokraten ten bisherigen Berliner Polizeipräsident Grzezinskises sich überlegen, ob sie bei jeder künftigen Regierungs­wurde der Kölner Polizeipräsident Zörgiebel ernannt. koalition dabei sein müssen. Andererseits herrscht in der Zörgiebels Nachfolger in Köln wird der Ministerialrat im demokratischen Landtagsfraktion grundsätzlich die Auffas­preußischen Innenministerium Bauknecht. Kraußner sung, daß die Große Koalition wünschenswert ist. Es ist steht dem Zentrum nahe, Zörgiebel und Bauknecht sind indessen undenkbar, daß in Preußen eine Große Koalition Sozialdemokraten. geschaffen werden kann und Bestand haben soll, wenn im

Reich die Große Koalition an der Haltung der Deutschen

Die Frage der Großen Koalition Volkspartei scheitert. Man wird nun abwarten müssen, in Preußen.: was im Reich geschieht.

Berliner Presseäußerungen.] DieGermania richtet eine ernste Mahnung an die

MTB Berlin, 10. Okt. Die Berliner Sonntagspresse Deutsche Volkspartei, sich in der preußischen Koalitionsfrage beschäftigt sich wieder lebhaft mit der Frage der Großen nicht durch die Deutschnationalen irre machen zu lassen. Das Koalition in Preußen, die durch die letzte Verhandlungs= Blatt schreibt u..:

bereitschaftserklärung der Deutschen Volkspartei wieder stark]Die Bemühungen der deutschnationaten Blätter sind in den Vordergrund des Interesses gerückt ist. Deutsch= darauf gerichtet, wenigstens die Deutsche Volkspartei fest­nationale Blätter sprechen die Erwartung aus, die Deutsche zuhalten, die im Begriffe steht, die Konsequenz aus der Volkspartei werde angesichts der von ihr nicht gewünschten politischen Lage zu ziehen und den Fehler wieder gut zu Ernennung des Ministerialdirektors Abegg zum Staats-machen, den sie 1925 begangen hat. Erfolgt dieser Schritt, sekretär nun die Verhandlungen abbrechen und die Bereit= dann ist die Isolierung der Deutschnationalen vollständig. schaftserklärung zurückziehen. Das scheint jedoch nicht der Die deutschnationale Politik hat auf der ganzen Linie ver­Fall zu sein. Die der Deutschen Volkspartei nahestehende sagt und bildet heute keine Gefahr mehr für den Bestand Tägliche Rundschau glaubt zwardaß aus der oder die Stärke der Deutschen Volkspartei. Diese ist in Ernennung Abeggs die Absicht spreche, die Verhandlungen ihrer parteipolitischen Bewegungsfreiheit weniger ge­durch einen Affront möglichst zu erschweren" und meint hemmt als früher und hat gegenüber den Deutschnationalen dann weiter,daß man unter diesen Umständen von den eine taktisch viel vorteilhaftere Position als noch im Vor­Koalitionsverhandlungen kaum noch etwas erwarten jahre. Wir brauchen der Volkspartei keine guten Rat­könne. Indessen ist man in politischen Kreisen trotzdem schläge zu geben, aber ihre Leitung ist zu klar, als daß sie der Ansicht, daß die Deutsche Volkspartei die Verhandlun= ihr Schicksal mit dem einer im Niedergang begriffenen Par­gen nicht abbrechen wird. Man verweist darauf, daß die tei verbinden könnte. In Preußen hat die Deutsche Volks­Notiz derTäglichen Rundschau es ausdrücklich vermieden partei erfahren müssen, wohin ihr Techtelmechtel mit den habe, von einem Abbruch der Verhandlungen zu sprechen Deutschnationalen geführt hat. Der Wunsch, diesen Zustand oder devon, daß die Volkspartei nun nicht mehr verhand##frecht zu erhalten, entspricht einem deutschnationalen lungsbereit sei. Parteibedürfuis, nicht aber den Interessen der Volkspartei

Eine Rede des Reichskanzlers in Essen.

MTB Essen, 11. Okt. Reichskanzler Dr. Marx hielt im Rahmen der von der Reichszentrale für Heimatdienst veranstalteten staatspolitischen Vortragsreihe am gestrigen Sonntag eine Rede über Wirtschaft und Politik. Marx be­rührte auch das Problem der Volksgemeinschaft, dessen Verwirklichung seiner Auffassung nach noch fern sei. Sein Bedauern äußerte der Kanzler darüber, daß die Ausfüh­rungen Silverbergs keine allseitige Zustimmung gefunden hätten. Was die augenblickliche wirtschaftliche Lage anbe­langt, so warnte der Kanzler vor einem allzugroßen Opti­mismus. Das Reich, das im gegenwärtigen Haushalts­jahr nur mit Mühe ein Defizit werde vermeiden können, gehe in das Rechnungsjahr 1927 ohne Reserven hinein. Weitere Steuererleichterungen seien nur möglich bei einer befriedigenden Lösung des Finanzausgleichs, für die der günstige Zeitpunkt noch nicht gekommen sei. Das zu einer Reichstagsdebatte notwendige Material könne nicht bis zum April nächsten Jahres beschafft werden. Daß schon jetzt alle Gemeinden auf ihre eigene örtliche Steuerkraft gestellt würden, sei nicht möglich. Nach Ausführungen über das Arbeitsbeschaffungsprogramm in Preußen und dem Reich erklärte der Kanzler, daß durch Abschluß des Eisenkartells die Rentabilität der deutschen Eisenindustrie erhöht werde und das Abkommen für die eisenverarbeitende Industrie jedenfalls günstig wirken würde. Redner erhoffte von dem Abkommen günstige politische Rückwirkungen.

Zum Schluß verbreitete sich der Kanzler über die durch den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund geschaffene Lage und versprach sich eine befriedigende Lösung der letzten Besprechungen zwischen den deutschen und franzö­sischen Staatsmännern in Genf und Thoiry. Da sowohl in Deutschland als auch in Frankreich der ernsthafte Wille, zu einer Verständigung zu gelangen, vorhanden sei, so würde trotz mancher Schwierigkeiten eine Lösung ge­funden werden. Redner schloß mit dem Wunsch auf eine baldige Befreiung der besetzten Gebiete.

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Dr. Bells Reise ins besetzte Gebiet.

MTB Berlin, 11. Okt. Am Sonntag abend hat der Reichsminister für die besetzten Gebiete und Reichsjustiz­minister Dr. Bell die geplante Reise ins besetzte Gebiet angetreten. Das erste Reiseziel ist Darmstadt, wo er heute vormittag dem hessischen Staatspräsidenten und dem Staateministerium einen Besuch abstatten wird.

Von Darmstadt reist der Minister nach Mainz. Dort ist für heute nachmittag eine Besprechung mit führenden Per­sönlichkeiten des öffentlichen Lebens vorgesehen.

Am morgigen Dienstag wird Dr. Bell in Speyer ein­treffen und dort dem Bischof von Speyer einen Besuch ab­statten. Auch den Kirchenpräsidenten sowie der Oberpost­behörde wird er einen Besuch abstatten. Am Nachmittag empfängt er eine Abordnung der Stadt Germersheim. So­dann erstattet eine Abordnung der Arbeitnehmer aus dem Saargebiet dem Minister Bericht. Am Nachmittag findet eine allgemeine Aussprache im Regierungsgebäude statt.

Am Mittwoch wird der Minister Wiesbaden besuchen, am Donnerstag Kreuznach, Birkenfeld und Trier, am Frei­tag Aachen, am Samstag Düren und Euskirchen. Von dort erfolgt die Rückreise nach Berlin.

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Reitpeitsche und Revolver im ikalienischen Heer.

* Zürich, 9. Okt. Die Neue Züricher Zeitung gibt einen ihr durch einen Gewährsmann aus Italien zuge­gangene Nachricht über einen blutigen Zwischenfall wieder, der sich kürzlich in Genua zwischen Miliz und Militäk er­eignet haben soll. Danach ohrfeigte ein Leutnant der faschi­stischen Miliz auf der Straße einen Soldaten, der ihn nicht grüßte. Auf die Beschwerde des Soldaten bei seinem Vor­gesetzten wurde der Leutnant in der Kaserne von einem Obersten vernommen. Im Verlaufe der Vernehmung soll der Leutnant den Obersten mit dem Ausdruck:So hat uns Mussolini gelehrt, auf Unverschämtheiten zu antwor­ten mit seiner Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen haben, worauf ihn der Oberst mit den Worten:Und so antworten die Offiziere des Königs" durch einen Revolverschuß tötete. Auf die Nachricht von dem Zwischenfall versuch­ten die Faschisten die Kaserne zu stürmen, was nur durch Einsatz von Maschinengewehren vekhindert wer­den konnte, wobei es zahlreiche Verwundete gab. Eine militärgerichtliche Untersuchung kam zu einem Frei­

pruch ds Obersten, worauf Milizgeneral von Gongazza seinen Rückt itt erklärte.

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Tschitscherin schwer erkrankt.

* London, 9. Okt. Die Londoner Presse meldet; daß Tschitscherins Erkrankung jetzt sehr ernsthaft gewor­den sei. Die Aerzte hätten ihn aufgegeben.

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Poincaré in Metz.

WTB Paris, 11. Okt. Ministerpräsident Poincars ist gestern abend in Metz eingetroffen.

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Ein Friedensabkommen im Kanton=Gebiet.

WTB London, 11. Okt. Reuter meldet aus Schang­hal: Ein zuverlässiger Berichterstatter aus Hankau besagt, einigen Wochen in Wutschang gelagerten Streitmacht und ein Frieden sabkommen zwischen der seit den angreifenden Kantontruppen am Freitag unterzeichnet worden ist. Die Kankontruppen haben am Samstag nach­mittag Kanton besetzt.

WTB London, 11. Okt. Times berichtet aus Hon­kong: Am Sonntag nachmittag ist der Streik entspre­chend den Vereinbarungen von dem Kantoner Streik­komitee als beendet erklärt worden. Alle Streikposten sind eingezogen worden. Es soll dagegen ein passiver Boykott britischer Waren aufrecht erhalten bleiben.

Zum Geständnis des angeblichen Mittäters beim Leiferder Eisenbahnunglück.

* Luxemburg, 9. Okt. Das Geständnis des in Luxemburg verhafteten Theodor Bischof aus Köln, er habe das Eisenbahnunglück in Leiferde mitverschuldet, ist nach hier veröffentlichten Meldungen nicht ernst zu nehmen, da die deutschen Gerichtsbehörden mitgeteilt haben, daß die wirklichen Eisenbahnattentäter festgenom­men sind. Man nimmt an, daß Bischof nur einen Vor­wand suchte, um auf billige Weise nach Hause be­fördert zu werden.

Die Rheinische Mielerschaft zur Miekerpolitik des preußischen Wohlfahrtsministers.

* Köln, 10. Okt. Zu dem Aufruf des preußischen Wohl­fahrtsministers zur Behebung der Wohnungsnot und Ar­beitslosigkeit die Mieten auf 130 Prozent der Friedens­miete zu erhöhen, nahmen die Vorstände des Rheinischen Mieterschutz=Verbandes für die Regierungsbezirke Köln, Aachen, Koblenz und Trier heute in einer außerordent­lichen Sitzung wie folgt Stellung.

Die Rheinische Mieterschaft lehnt jede Mieterhöhung als wirtschaftlich untragbar ganz entschieden ab. Jede Nliet­erhöhung bedeutet eine weitere untragbare Belastung aller Verbraucherkreise. Hierfür sind die Wohlfahrtsämter, die nach§ 10.Sch.G. für den bedürftigen und in unverschul­deten Mietzahlungsverzug geratenen Mieter einzutreten haben, beredte Zeugen. Die Gemeindehaushalte stehen ge­rade aus diesem Grunde unter einer steten Anspal. ung, zur Flüssigmachung weiterer Gelder. Jede Mietssteigerung bedeutet im weiteren eine starke Belastung unserer gesam­ten Wittschaft, die zu sozialen Umwälzungen fuhren müßte, weil unsere Wirtschaftsführer bei ihrer bekannten Ein­stellung die notwendig gewordene Lohn= und Gehalts.if­besserung erfahrungsgemäß nicht bewilligen würden. Aus diesem Grunde ist der vom Wohlfahrtsminister herange­zogene Vergleich mit dem Auslande völlig abwegig, weil unsere Wirtschaft mit Kriegskosten zu stark vorbelastet ist. Da die Bevölkerungskreise, für welche der Wohnungsneu­bau in erhöhtem Maße gefördert werden soll, wirtschaftlich so schwach sind, daß sie die Altraummieten kaum zu er­schwingen vermögen, kann der Vorschlag des Wohlfahrts­ministers, durch eine erneute Mieterhöhung die Altraum­Mieten an die Neubau=Mieten heranzubringen, gar nicht zum Ziele führen. Vielmehr müssen zur Erreichung des Zieles die Neubau=Mieten auf den Stand der Altraum­Mieten herabgedrückt werden. Das aber ist nur durch Be­schaffung billigen Baugeldes möglich. Billiges Baugeld bedingt die Senkung der Hypotheken= und aller sonstigen Zinsen im Wirtschaftsleben auf den Vorkriegsstand. Nur so ist es möglich, Wohnungen zu erschwinglichen Mieten zu erstellen.

Die Rheinische Mieterschaft, lehnt den Vorschlag des Wohlfahrtsministers insbesondere deshalb ab, weil die sozial am schlechtesten gestellten Volkskreise wie bisher die Neubelastung fast ausschließlich wieder zu tragen hätten. Die Belastung dieser Kreise ist zu verringern, statt zu ver­größern, der Ausfall an Hauszinssteuer ist den leistungs­fähigeren Schichten aufzuerlegen. Das vom Wohlfahrts­minister erstrebte Ziel wird schon dann erreicht werdin, wenn das bisherige Aufkorimen an Houszinssteuer restlos für den Wohnungsneubau, statt für fiskalische Zwecke ver­wandt würde.