Fernsprech=Auschlng Nr. 193.
Amtliches Kreisblatt für den Stadt= und Landkreis Mülheim a. d. Ruhr.
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A 51
Mittwoch, 2. März 1910
38. Jahrgang
Die heutige Nummer umfaßt 6 Seiten.
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Deutsches Reich.
Der Parteitag der Süddeutschen Volkspartei in Bayern,
der in Würzburg stattfand und teilweise recht stürmisch verlief, wählte die Teputierten für den am nächsten Sonntag in Berlin stattfindenden ersten gemeinsamen Parteitag der drei freisinnigen Gruppen, die sich an dem genannten Tage zu der„Fortschrittlichen Volkspartei“ zusammenschließen.— Die Stuttgarter Versammlung beschäftigte sich auch mit der preußischen Wahlrechtsfrage, die mehr und mehr als eine deutsche Frage angesprochen wird, und erklärte in einer Resolution: Die Versammlung erwartet von dem preußischen Wahlrechtskampf die Annäherung der politischen Denkungsweise in Preußen und Süddeutschland und eine Vorarbeit für den künftigen Zusammenschluß eines entschieden freiheitlichen Großblocks.
Zur Frage der Arbeitslosenversicherung,
die in den Parlamenten aller deutschen Bundesstaaten erörtert worden ist, veröffentlicht das Reichsarbeitsblatt eine Uebersicht der bisherigen Verhandlungen. Danach wird bis zur gesetzlichen Regelung der Arbeitslosenfrage wohl noch einige Zeit vergehen, wenn diese auch, wie allgemein anerkannt wird, unabweisbar geworden ist. Im Reichstage erklärte der Staatssekretär des Innern, daß die Frage einer reichsrechtlichen, allgemeinen obligatorischen Arbeitsiosenversicherung durchaus noch nicht reif sei. Im preußischen Abgeordnetenhause schloß sich der preußische Handeisminister dieser Erklärung an. Positive Resultate hat dagegen bereits die bayerische Abgeordnetenkammer in der Frage der Arbeitslosenversicherungerzielt. In der sächfischen Zweiten Kammer erklärte Minister v. Eckstädt zur Sache, daß noch nicht genügend Erfahrungen vorlägen.. Auch würde ohne Schaffung eines zentralisierten Arleitsnachweises, der in Sachsen noch fehle, die Arbeitslosenversivurung im weiteren Umfange nicht wohl durchzuführen sein. In der zweiten Kammer des württembergischen Landtags wurde regierungsseitig erklärt, daß das Problem nur durch Reichsgesetz lösbar sei. Im Großherzogtum Baden hält man die Lösung durch landesgesetzliche Regelung für möglich. In Hessen dagegen hofft man auf Hilffe seitens des Reichs.
Graf Posadowsky gegen die Schiffahrtsabgaben
Die Münchener Halbmonatsschrift„März“ veröffentlicht einen Artikel des Grafen Posadowsky, der 10 Jahre lang Staatssekretär des Reichsamts des Innern war, über die Schädigungen, die dem Reichsgedanken aus der Behandlung der Frage der Schiffahrtsabgaben und des Gesetzentwurfs über die Wahlrechtsänderung in Preußen erwüchsen. Graf Posadowsky betont das verfassungsmäßige Recht jedes einzelnen Bundesstaates, je nach seinen wirtschaftlichen Interessen die Schiffahrtsabgaben anzunehmen oder zu bekämpfen; die Ueberwindung der vorhandenen Widerstände dürfte daher nicht durch Anwendung von Energie, sondern nur auf dem Wege der Ver
handlung zwischen gleichberechtigten Parteien erfolgen.
— Das ist aber auch die Meinung der Reichsregierung, die erst vor wenigen Tagen durch die„Nordd. Allg. Ztg.“ erklären ließ:„Bei der weiteren Behandlung der Frage ist lediglich der Weg freundschaftlicher Verständigung gangbar.“ Auf diesem Wege steht, wie wir hinzufügen können, eine Verständigung Preußens mit Baden und Sachsen ja auch in Aussicht. Etwas dem föderativen Reichsgedanken Abträgliches geschieht hier also nicht. Die Aussiellungen des Grafen Posadowsky an der Behandlung der Wahlrechtsvorlage und sein Eintreten für das Reichstagswahlrecht lassen zwischen den Zeilen gleichfalls Angriffe auf die gegenwärtige Reichsregierung erkennen. Graf Posadowsky konstatiert mit Recht, daß ein zu starkes partikulares Selbstbewußtsein nur geeignet ist, die vorhandenen Reibungsflächen zwischen den einzelnen Bundesstaaten zu verschärfen, und daß der Widerhall, den solche Stimmungen im Auslande finden, die Vertretung des Reichsgedankens erschwert.— Dieser Kritik gegenüber muß man jedoch darauf hinweisen, daß der Reichskanzler von Bethmann Hollweg das Recht jedes Bundesstaates auf seine Eigenart anerkannt hat.
Der jüngste„Wahlrechts=Sonntag“ in Berlin.
Ueber den Verlauf des jüngsten Wahlrechtssonntags in Berlin äußert sich die konservative„Kreuzzeitung“ mit großer Erbitterung. Das Blatt spricht von dem freisinnig=jungliberalen Wahlrechtssonntag, an dem Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Kunst des Temonstrierens wetteiferten und der erstere den Vogel abschoß.
Was den Genossen unter ihrer eigenen Führung nicht gekungen war, das haben sie gemeinsam mit dem liberalen Bürgertum und unter freifinniger Führung durchgesetzt. Sie sind bis zum Kaiserschlosse vorgedrungen und haben dort demonstriert.„Das Recht auf die Straße“ ist mit Hilse des Freisinns erkämpft worden. Die Sozialdemokraten können mit ihren„Todfeinden“, den freisinnigen Sachwaltern, zufrieden sein.
Der Kaiser hat, wie das„Berl. Tagebl.“ entgegen anders lautenden Angaben mitteilen kann, keinerlei Einwirkung auf die politischen Maßnahmen ausgeübt, also nicht die Zurückziehung der berittenen Schutzmannschaft angeordnet. Demselben Blatte zufolge wollte der Kaiser gerade in dem Augenblicke, als der Zug der Demonstranten sich dem Schlosse näherte, eine Spazierfahrt unternehmen. Die Ausfahrt unterblieb, nicht der Demonstranten wegen, sondern infolge des eingetretenen heftigen Regens.
Unter dem Schnaps=Boykott der Sozialdemokraten,
der von den organisierten Genossen schärfer ausgeübt wird, als man zunächst erwartet hatte, leiden bisher nicht die Schnapsbrenner, wohl aber die kleinen Gastwirte, die Destitiateure, Böttcher, Glasbläser, Korkschneider und die im Branntweingewerbe und seinen Hilfsbetrieben beschäftigten Arbeiter. Der Verein der Großdestillateure Sachsens beschloß deshalb laut„Deutscher Tageszeitung“ Schritte zu tun, um auf irgend welche Weise Aufklärung über diese nichtgewollte Wirkung des sozialdemokratischen Schnapsboykotts zu schaffen. Zur indirekten Wahl.
Zu welchen Möglichkeiten die indirekte Wahl, d. h. die Wahl durch Wahlmänner, führen kann, zeigen folgende Beispiele:
1. Fall: Gesetzt, 100 Wähler zerfallen in 10 Wahlkreise zu je 10 Wählern, die einen Wahlmann zu wählen haben, so können diese mit einer Mehrheit von 6: 4 Stimmen gewählt werden. Von den 10 Wahlmännern büden wieder 6 die absolute Mehrheit. Sie vertreten 6X6=36 Wähler. Diese haben also von insgesamt 100 Wählern die Mehrheit gegen die übrigen 64 Stimmen.
2. Fall: Es sind 1000 Wähler in 10 Wahlkreisen zu je 100 Stimmen vorhanden. Die Mehrheit in den einzelnen Kreisen beträgt 51 Stimmen: von den 10 gewählten Wahlmännern haben 6 die Mehrheit; sie vertreten 6X51—306 Stimmen, gegen die übrigen 694.
3. Fall: Es sind 100000 Wählev in 10 Wahlkreise zu je 1000 Stimmen geteilt. Die Mehrheit im einzelnen Kreise beträgt 501 Stimmen, die Mehrheit der Wahlmänner 51. Also 51X501=25551 Wähler haben von 100.000 die Mehrheit gegen 74 449, d. h. zirka ein Viertel kann die übrigen drei Viertel der Wähler völlig majorisieren. Je höhere Zahlen angenommen werden, desto größer wird dieses Mißverhältnis.
„Ein wahres Fressen für die britischen Deutschenhetzer“,
so schreiben die„Münchener N. N.“, ist der Artikel eines freisinnigen Berliner Blattes, in dem„enthüllt“ wird. Deutschland baue nicht 38 Linienschiffe, wie das Flottengesetz von 1900 vorsieht, sondern tatsächlich 58, da die großen Panzerkreuzer doch nichts anderes als Linienschigfe seien. Die großen Londoner Blätter veröffentlichen den Berliner Artikel unter den sensationellsten Ueberschrrften: Eine deutsche Marineüberraschung!, Die Grenzen des Flottengesetzes überschritten!, Die wahre Lage der Dinge!, 58 Linienschiffe!, 20 Extra=Linienschiffe!, Deutschland maskiert die Stärke seines Programms! u. dergl. Das gibt nun natürlich eine maßlose Agitation gegen Deutschland, und es wird nicht leicht oder ganz unmöglich sein, die Aufgeregten zu überzeugen, daß der Schiffbau des deutschen Reiches sich streng im Rahmen des Flottengesetzes hält, da darüber hinaus keine Mittel zur Verfügung stehen.
Ausland.
Frankreich.
— Die antideutschen Fiegenschuh=Demonstrationen in Paris können uns natürlich kalt lassen, aber beachtenswert sind sie doch insosern, als sie zeigen, wie groß die Partei derer in Frankreich ist, die Eisaß=Lothringen nicht rerloren geben. Ein deutsches Elsaß Lothringen ist eine Mauer, ein französisches Elsaß=Lothringen wird eine Brücke sein, so lautet nach wie vor die Tevise.
Amerika.
— Amerika erregt mit seinen Kriegsschiffen den Neid Englands. Die Panzerkolosse der Nordamerikaner nehmen einen immer gewaltigeren Umfang an. Nachdem sie bereits mit den in diesem Jahre begonnenen Treadnoughts ron je 28000 Tons den Weltrekord geschlagen hatten, wollen sie im kommenden Jahre mit dem Bau zweier Kriegsschiffe beginnen, von denen jedes 32 000 Tonnen Wasserverdrängung hat. Diese Ungetüme sollen mit 14zöligen Geschützen bewaffnet werten, welche Geschosse im Gewichte von 1650 Pfund schleudern sollen. Jeder dieser Ueber=Treadnoughts wird 72 Mislionen Mark kosten.
Orient.
— Die Lage auf dem Balkan gilt trotz der blutigen Bandenkämpfe an der türkisch=bulgarischen Grenze für friedlich. Die leitenden Staatsmänner in Konstantinopel wie in Sofia haben einen tiefen Blick in ihre Kassen getan und sie leer befunden. Und da zum Kriege bekanntlich dreimal Geld gehört, so sind sie entschlossen, den Frieden aufrecht zu erhalten. Taz: in Athen auch die Geldklemme zur Ernüchterung der erregten Gemüter beiträgt, möchte man in dem vorliegenden Falle als eine erfreuliche Tatsache bezeichnen.— Im Uebrigen ist man in Athen guter Hoffnung. Man hofft, daß bis zum Tonnerstag dieser Woche die Mitglieder des Parlaments in ge:= Gra##er Anzahl in der Hauptstadt eingetrosfen sein werden, um den Beschluß über die Einberufung der National=Versammlung zu fassen. Nicht weniger als 22 Artikel der gegenwärtigen Verfassung sollen von der National=Versammlung abgeändert werden, natürlich zugunsten der Mililärliga u. dergl.— Der Militärbund hat als Vorbedingung seiner Auflösung, die demnächst stattfinden soll, folgende Forderungen an die Regierung gestellt, die ihre Erfüllung zugesagt hat: 1. sämtliche Professoren der Universität werden zu gleicher Zeit abgesetzt, 2. Reinigung aller Zweige der Verwaltung durch Beseitigung aller unfähigen und unwürdigen Beamten von den höheren Posten. — Zu der letzten Sitzung des leitenden Ausschusses des Militär
bundes wurde eine Eingabe von dreihundert Offizieren der Landarmee vorgelegt, die eine Reinigung ihres Standes, genau wie es bei der Marine beabsichtigt ist, verlangen. Der leitende Ausschuß hat sich mit dieser Forderung einerstanden erklärt.
Asien.
— Der vertriebene Talai=Lama von Tibet scheint nicht gewillt zu sein, das Feld leichten Kaufs zu räumen. Einer seiner Abgesandten traf in Petersburg ein, um sich vom russischen Minister des Auswärtigen empfangen zu lassen. Er erklärte, China habe Machtgelüste, die auch den europäischen Mächten zu denken geben müßten. Der Lalai=Lama selbst sitzt zurzeit auf englischem Boden und daß auch er seinerseits nicht untätig ist, ist anzunehmen.
Von Hah und Fern.
Der 100. Geburtstag des Papstes Leo XIII. am heutigen Mittwoch wird von der katholischen Christenheit als ein seierlicher Gedenktag begangen werden. Als Pius IX. am 7. Februar 1878 gestorben war, wurde der päpstliche Kämmerer Joachim Pecci, der damals schon nahezu 68 Jahre zählte, nach nur anderthalbtägigem Konklave am 20. Februar 1878
zum Papst gewählt und am 3. März, einem Tage nach seinem Geburistage, feierlich gekrönt. Die Feier des 25jährigen Papstjubiläums beging der Greis noch in seitener Frische des Geistes und Körpers. Im Hochsommer begann er zu krankeln und am 20. Juli 1903 entschlief er im Alter von 93 Jahren 4½ Monaten. Kurz vor seiner letzten Krankheit hatte Papst Leo XIII. noch unseren Kaiser als Gast empfangen. Und Kaiser Wülhelms Beileids=Telegramm, das als eins der ersten bei dem KardinalsKollegium einging, gedachte dieses Besuchs, bezeichnete den Papst als persönlichen Freund des Kaisers und rühmte die außierordentlichen Gaben des Geistes und Herzens, die den Verstorbenen ausgezeichnet hatten. Auch der damalige Reichskanzler, Graf Bülow, sprach in warmen Worten seine Anteilnahme an dem Hinscheiden des Kirchenfürsten aus, der seines ethabenen Amtes in Gerechtigkeit, Milde und Weisheit gewaltet. Unter der Mitwirkung des Papstes Leo XIII. gelang es, in Teutschland den Kulturkampf beizulegen. 1885 übertrug Fürst Bismarck dem Papst das Schiedsgericht in der zwischen Spanien und Teutschland wegen der Karolinen=Inseln entstandenen Streitfrage. Die Niederlage Spaniens durch die Amerikaner bereitete dem Papste tiefen Schmerz. Den Kirchenkampf in Frankreich hat er nicht mehr erlebt.
13. Landesverbandstag preußischer Haus= und Grundbesitzervereine.
Berlin, 27. Febr. Der in diesen Tagen in Berlin zusammengetretene Landesverbandstag preußischer Haus= und Grundbesitzervereine nahm u. a. folgende Resolution einstimmig an:
„Der 13. Landesverbandstag preußischer Haus= und Grundbesitzervereine protestiert dagegen, daß die bisher schon ungebührlich hohe Sonderbesteuerung des Hausbesitzes noch weiter verschärft worden ist durch die außerordentliche Erhöhung des staatlichen Mietsvertragsstempels, der Reichsumsatz= und der Talonsteuer in der heutigen Form, wozu als weitere Belastung noch eine Reichswertzuwachssteuer kommen soll. Er verlangt im Interesse der Gerechtigkeit eine weitere Heranziehung des mobilen Kapitals und beschließt bezüglich der Talonsteuer, beim Bundesrat und dem Reichstag um eine Abänderung der Talonsteuer nach der Richtung vorstellig zu werden, daß auch die Reichsund Staatspapiere der Talonsteuer unterworfen werden, um das Renteneinkommen möglichst gleichmäßig zu erfassen. Eventuell sollen Bundesrat und Reichstag gebeten werden, darauf hinzuwirken, daß die heutige Talonsteuer in eine allgemeine Kapitalrentensteuer umgewandelt wird.“
Ferner wurde beiont, es sei dringend notwendig, daß in allen Provinzen die Hausbesitzervereine sich in einen Provinzialverband zusammenschlössen und jeder dieser Provinzialverbände dem preußischen Landesverbande beiträte und über die Baugenossenschaftsfrage diskutiert. Der Etat für 1910 wurde auf 10200 Mark festgesetzt.
***
Eine Wahlrechtskundgebung unter freiem Himmel
hat am Sonntag in Frankfurt am Matn stattgefunden. Aus Platz hatte man eine Wiese vor der Stadt gewählt, auf der die Schulen ihre Spiele abzuhalten pflegen: Von acht Tribünen wurde gleichzeitig 25 Minulen lang geredet. Flaggensignale von einer neunten Tribüne in der Mitte des Platzes gaben das Zeichen zum Anfang und— zwei Minuten vorher— zum Ende der Rede. Es sprachen Stadtverordneter Gastwirt Goll(freistunig), Landtagsabgeordneter Stadtrath Dr. Flesch (Temokrat), Graveur Haag(national=sozial), Chemiker Dr. phal(Neudemokrat), Chefredakteur Dr. Quarck(Sozialdemokrat), Redakteur Wendel(Sozialdemokrat), Stadtverordneter Krankenkassenvorsitzender Gracf(Sozialdemokrat) und ein Herr Möller (Sozialdemokrat). Eine Resolution war durch Ordner, deren Zahl 500 betrug, verteilt worden, sie hat folgenden Wortlaut:„Viele Tausende von Männern und Frauen in Frankfurt a. M., versammelt zu gemeinsamer Kundgebung unter freiem Himmel, protestieren auf das entschiedenste gegen die reaktionäre preußische Wahlrechtsvorlage und ihre schmähliche Ausgestaltung durch die Wahlrechts=Kommission des Abgeordnetenhauses. Die Beibehaltung des ungerechten Treiklassen=Wahlsystems, der veralteten Wahlkreiseinteilung und der Bevormundung der Wähler durch die indirekte Wahl verfälscht den Willen des Volkes und gibt dem platten Lande zugleich eine Tiktatur über die Städte. Die Versammelten erblicken darin die ernsteste wirtschaftliche und politische Gefahr für die große Mehrzahl des preußischen Volkes. Sie erklären daher, mit allen Kräften für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht kämpfen zu wollen.“ Nachdem die vorgenannten Redner geendet hatten, begannen sofort andere Redner(und zwar wechselweise dort ein bürgerlicher, wo zuvor ein sozialdemokratischer Redner gesprochen hatte und umgelehrt) um nach einigen allgemeinen Sätzen die Resolution zu verlesen und die Umstehenden aufzufordern, sich durch Aufheben der Hände damit einverstanden zu erklären. Tann wurde jede der acht Versammlungsgruppen, deren Teilnehmerzahl schätzungsweise 50.000 betrug, mit einem Hoch auf das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht geschlossen *—
— Unterschlagungen und Betrügereien, die im französischen Marincarsenal zu Toulon aufgedeckt worden sind, stehen den größten russischen Verwaltungsgannereien nicht
Die Schwarmgeister.
Historischer Roman von Gustav Lange.
26. Fortsetzung.
Tivara war so erschüttert, daß sie die Tragweite dieser Trohung gar nicht zu erfassen imstande war. Sie fühlte sich vielmehr erleichtert, daß der ihr so verhaßte Mann sie wieder verlassen hatte. Welche Galgenfrist zwei Stunden in einer so wichtigen Lebensfrage bedeuketen, bedachte sie ebenfalls nicht.
Da vernahm sie draußen nochmals Tritte und sie fürchtete schon, daß es Matthys sein könne, der schon wieder komme. Aber es war Jan, der seinen Kopf vorsichtig erst zur Türe hereinstreckte, und als er sah, daß seine Schwester allein war, vollends in das Gemach hereinschlüpfte und sich mit geheimnisvoller Miene umschaute.
„Endlich!“ rief Divara und atmete erleichtert auf, als sie ihres Bruders ansichtig wurde.
„Bst! Nicht so laut, Tivara, die Wände könnten Ohren haben,“ warnte Jan.
„Wie, bin ich denn von Spionen umgeben? Soll ich mich hüten in dem eigenen Wohngemach ein lautes Wort zu dem Bruder zu sprechen? O, Jan, warum hast du mich aus dem Frieden der Sparenburg herausgerissen und durch dein Erscheinen einen edlen Jüngling von der Seite seiner Mutter getrieben?“
„Verstehe mich nicht falsch, Tivara. Es braucht doch kein Mensch, vor allen Dingen auch deine Dienerin nicht zu hören, was wir miteinander sprechen, denn gerade wegen des Junkers komme ich—“
„O, meine Ahnung— meine Ahnung!“ unterbrach Divara ihren Bruder schmerzlich aufstöhnend.
„Ja, der Junker von Rauschenburg ist es,“ fuhr Jan fort.“„Ich weiß nicht, wie er in die Stadt gekommen Man hatte ihn aber bemerkt und nahm erst an, das schöne Töchterlein locke ihn in das Haus des schwerreichen Goldschmieds—“
„Du lügst!“ rief das junge Mädchen aus.
„Nein. Aber höre meine Worte bis zu Ende. Als er nach einiger Zeit das Haus wieder verließ, setzten
ihn einige der Leute, die für die Ruhe und Ordnung in der Stadt zu sorgen haben, zur Rede. In seinem junkerlichen Uebermut und auf sein Schwert pochend, schtug er einen tot zu Boden. Als man Ion überwältigt hatte, da siellte es sich heraus, daß er die Schätze zu den Johannitern schleppen wollte. Wegen des Mordes hat er sich jetzt vor den Richtern zu verantworten und es steht schlecht um seinen Kopf.“
„Jan, in jener Stunde, als ich mit dir aus der Sparenburg floh, da schwurst du mir einen Eid, jede Person zu schützen, die mir lieb und teuer ist. Löse setzt dein Versprechen ein— der Junker darf nicht sterben!“
„Tivara, hier bin ich machtlos— infamer Mord—“
„Elender Feigling!“ Mit flammenden Augen schleuderté Divara ihrem Bruder das Wort entgegen.„Verlasse mich, denn ich kann den Anblick eines Meineidigen nicht ertragen!“
Jan fand kein Wort der Entgegnung, mit solcher Wucht hatte ihn die Anklage seiner Schwester getroffen und wortlos schritt er aus dem Gemach
20. Kapitel.
Divara raufte verzweiflungsvoll ihr Haar; von allen Seiten sah sie sich verlassen und fand nirgends einen Ausweg aus diesem Labyrinth. Der Tod allein dünkte ihr eine Erlösung und doch konnte und durfte sie ihn jetzt nicht herbeiwünschen, wo Kuno von Rauschenburg in so großer Gefahr schwebte und vielleicht gerade sie, die vom Schicksal bestimmte Person war, die über ihn wachen, die ihn aus den Händen seiner Feinde noch einmal zu retten vermochte. O. wie tröstlich wäre es, wenn sie sich jetzt an die Brust ihrer Mutter werfen und dieser ihr Leid klagen konnte. Aber welche Scheidewand hatte die Verblendung zwischen ihr und ihrer Mutter aufgerichtet? Zum Verhängnis wurde ihr, was ihre Blutsverwandten als ein großes Glück für sie erachteten und auf alle Weise zu verwirklichen suchten.
Sie dachte jetzt nicht mehr an Matthys, sondern ihre Gedanken waren allein darauf gerichtet, wie sie den Pflegebruder— den Geliebten, retten konnte. Sie achtete nicht auf die Glockenschläge vom Turme des Ordenshauses, die verkündeten, wie eine Biertelstunde nach der
anderen an den zwei Stunden Bedenkzeit verfloß, die ihr Johannes Matthys gestellt hatte, damit sie sich entschließe, ob sie sein Weib werden wollte. Als aber jetzt mit einem neuen Glockenschlag hastig die Türe geöffnet wurde und Matthys eintrat, erinnerte sie sich mit Schrecken daran
Johannes Matthys blieb zunächst in der Mitte des Gemaches mit über der Brust gekreuzten Armen stehen lud richtete seinen finsteren Blick fragend auf Divara. Als diese aber schwieg und nur die Hände abwehrend gegen ihn ausstreckte, begann er:
„Tivara, aus deinem Benehmen schließe ich, daß du bei deiner Weigerung verharrst. Seit einer Stunde kenne ich auch den Grund, aber ich werde denselben beseitigen, denn du mußt mein Weib werden— so wahr ich vom Bäckergesellen zum Herrn von Münster emporgestiegen bin und mich noch lange nicht am Ende meiner Laufbahn sehe...“
„Furchtbarer Mann, was wollt Ihr damit sagen!“ rief Tivara angstvoll.„Tötet mich, aber verschont diejenigen, die mir nahe stehen.“
„Nein, Divara! Du sollst leben, sollst meinen Ruhm und mein Glück mit mir teilen! Jener Junker aber hat sein Leben verwirkt. Du wirst ihn vergessen. Ich keune die Geschichte, die dich mit diesen Leuten verbindet, aber bedenke, um eines Haares Breite wären deine Eltern auf den bloßen Schein hin auf der Sparenburg gerichtet worden. Der Junker aber ist schuldig seine Schuld ist ohne Zweifel.“
„Er ist ebenso unschuldig“ entgegnete Tivara, indem sie ihre ganze Kraft zusammenraffte.„Wenn man ihm vorwirft, einen Menschen getötet zu haben, so ist es sicher nur in berechtigter Notwehr geschehen!“
„Ich bin nicht gekommen, um mit dir darüber zu streiten— sein Urteil ist schon gesprochen— und wird in wenigen Minuten vollzogen!“
„Nein, er darf nicht sterben!“ mit diesem Aufschrei sank sie vor dem Manne auf die Knie, der wieder die Arme über die Brust kreuzte und kalt lächelte, denn vor zwei Stunden hatte er vor der schönen Jungfrau auf den Knien gelegen und sie angefleht ihn zu erhören.
„Wenn noch ein Rest menschliches Empfinden in
Eurem Herzen lebt,— er darf nicht sterben!“ rief Tivara abermals händeringend.
„Gut! Sein Schicksal soll in deiner Hand liegen du sollst über Leben und Tod entscheiden! Stehe auf und folge mir!“
Wie eine geknickte Blume erhob sich Divara, dabei die Hand ihres Peinigers verschmähend, die ihr dieser helfend entgegenstreckte. Jeder Blutstropfen war aus ihrem Gesichte gewichen, die Haare hingen ihr wirr um die Schläfe und ihre Augen flimmerten in irrem Glanze. Sie glich einem jener unglücklichen Geschöpfe, die die Nacht des Wahnsinns für die Leiden der Welt unempfindlich macht. Doch was kümmerte dies den selbstsüchtigen Mann, der sich unterstand, der Welt eine neue Ordnung zu geben und leider auch bei Tausenden Gehör fand. Hart und gefühllos klang sein abermaliges:
„Komm, folge mir!“
Wenn auch widerstrebend, so folgte Divara doch dem voranschreitenden Johannes Matthys ohne ein Wort der Erwiderung. Es fröstelte sie, als sie durch die hohen gewölbten Gänge des Ordensgebäudes ihm folgte, wohin nur selten ein Sonnenstrahl drang und daher eine niedrige Temperatur herrschte. Welch ein seltsamer Kontrast gegen sonst, wo die Steinfliesen widerhallten von den schweren Tritten gewapxneter Ritter und jetzt, wo ein verzweifelndes Mädchen wankenden Schrittes zur Opferstätte geführt wurde.
Vor einer mächtigen Eichentüre machte Matthys Halt und öffnete den einen Flügel, der sich geräuschlos in den Angeln drehte. Die beiden Ankommenden standen am Eingange eines großen Saales; das Tageslicht fiel nur gedämpft durch die großen, bunten Glasfenster und erzeugte seltsame Reflexe auf dem getäfelten Fußboden. Es war dies der Rittersaal, wo sonst die Johanniterritter ihre Versammlungen abzuhälten pflegten.
Divara vermochte auf den ersten Blick doch nicht gleich zu erfassen, was sich hier abspielte, bis sich ihr Auge an das farbige Licht gewöhnt und sie den ganzen Raum überschaut hatte.
„Keinen Laut. oder es ist vorbei!“ raunte Johannes Matthys seiner Begleiterin zu, die jetzt wie zu einer Bildsäule erstarrt schien.
Fortsetzung folgt.