Nr. 18.
Sonntag,
6. Mai 1900.
Sonntagsbeilage zum Kölner Local-Anzeiger.
Mit besonderer Abteilung: Für die Frauen und Kinder.
6 Die Ehe im Lande der aufgehenden Sonne.
Von P. Steichen.
In Japan ist die Heirat nicht wie bei uns eine persönliche Sache des jungen Paares, sie ist eine Familiensache, die gänzlich nur von den Eltern beschlossen wird. Denn in Japan verfügen die Eltern mehr über ihre Kinder als bei uns. In Japan ist die Heirat ein Kontrakt, den man nach Belieben aufheben kann. Das Gesetz hat gar nichts damit zu tun, und die Religion noch viel weniger. Der junge Mann wird sehr früh heiratsfähig. In alten Zeiten galt das 16. oder 17. Jahr als heiratsfähiges Alter, heute, weil die Verhältnisse anders geworden sind, ist es ein etwas späterer Zeitpunkt(die meisten Studenten an der kaiserlichen Universität in Tokio sind verheiratet, ebenso viele Soldaten). Der Vater eines erwachsenen Sohnes läßt diesen bei Gelegenheit feierlich rufen und sagt ihm, es wäre Zeit zu heiraten, er habe seine zukünftige Frau auserkoren. Freien gibt es in Japan ganz und gar nicht, es wäre gegen die gute Sitte, in ein Haus zu gehen, um eine Tochter zu freien. Der Sohn muß mit der Wahl seines Vaters einverstanden sein, er ist zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet, ob ihm die Wahl gefällt oder nicht. Daher wird eine persönliche Neigung auch nicht vorausgesetzt und ist auch tatsächlich ausgeschlossen.
Es ist japanische Sitte, sich eines Heiratsvermittlers zu bedienen, denn weder der Vater, viel weniger der Sohn, darf in das betr. Haus gehen, um eine Tochter zu begehren. Als Heiratsvermittler dient ein Freund oder ein Bekannter, dieser geht in das Haus der vom Vater Auserkorenen, spricht zunächst vom Wetter, schönen Blumen u. dgl. gleichgültigen Dingen. Die Sitzung dauert sehr lange. Endlich erst kommt er mit der Sprache heraus: der und der junge Mann begehre eine Tochter des Hauses zur Frau. Wenn die Eltern einverstanden sind, bestimmt man das Mi=ai d. h. eine Begegnung der jungen Brautleute. Diese einzige Begegnung vor der Heirat findet entweder im Hause des Vermittlers statt oder im Hause der Brauteltern. Vom Vermittler begleitet kommt eines Tages der junge Mann in das Haus des vom Vater ausgesuchten Mädchens schön geputzt herein und grüßt meistens nur mit einer einfachen Ver
&a Glück?
Novellette von Hanns Gisbert.
Bahnhofsschild
haglicher in ihrer Ecke zurecht. Jetzt hielt der Zug nicht mehr bis zum Endziel.
Hede Rechlin war mit leichtem Schritt aus dem Abteil erster Klasse gesprungen. Ihre liebenswürdige Reisegefährtin reichte Handtasche und Blumen heraus. Köstlich dufteten die Veilchen und Teerosen, die Mark Paulsen ihr an die Bahn gebracht hatte. Hede steckte ihr hübsches Näschen in den lose gebundenen Strauß und spähte nach einer eleganten Frauenerscheinung umher, nach einer bunten Uniform.
und Hede stand allein.
Niemand kam. Und es war Dreiviertel auf Zehn!
Hede lachte. Ein bischen gezwungen, ein bischen enttäuscht. Ihr Telegramm war wohl zu spät gekommen. Ganz plötzlich hatte sie sich entschlossen, Lily von Marsy auf der Heimreise zu besuchen, als sie die kleine Stadt, in welche deren Mann kürzlich versetzt worden war, so unverhofft auf ihrem Reiseweg entdeckt hatte. Vielleicht waren Marsys überhaupt nicht zu Hause.
Unmutig biß sich Hede auf die Lippen; aber was war denn schließlich Schlimmes dabei? Als Großstädterin läßt man sich
nicht verblüffen; man nimmt einen Wagen und fährt nach der
Wohnung, und wenn man niemand antrifft, gibt es doch auch gute Gasthöfe, selbst hier.
„Besorgen Sie mir mein Gepäck an den Wagen," wandte sie sich an einen Dienstmann, indem sie ihm ihren Gepäckschein einhändigte.
„Wagen? Das soll wohl schwer halten; wir sind ja gleich um Zehne! Aber die Elektrische wird bald da sein; die fährt alle zwölf Minuten.“
Die Elektrische war eben abgefahren; volle zehn Minuten
mußte sie warten. Ging man da nicht besser zu Fuß?
„Nä, Fräulein, der Weg is lang und dunkel, und die Königsallee liegt ganz draußen. Sie können von Glück sagen, wenn Sie den letzten Wagen noch kriegen. In anderen Städten hätten Sie's nicht einmal so gut.“
Das sagte er mit dem Stolze des Kleinstädters auf die neue Errungenschaft.
„Das ist ja zum Verzweifeln!“ Ungeduldig schreitet Hede auf und ab.
„Wenn ich dem Fräulein meine Begleitung anbieten dürfte..
Hede tut dem auffällig gekleideten„Ladenschwips“ mit dem
beugung, das ist die ganze Unterhaltung der Brautleute. Zuweilen auch kann die Braut einige Worte mit ihrem zukünftigen Gatten sprechen, sie zieht sich aber dann wieder zurück. Auch der Vermittler spricht mit dem Mädchen ein paar Sätze, während der junge Mann mit dem Vater über den Heiratstag redet.
Zu diesem wählt man in der Regel einen Glückstag, denn die Japaner sind sehr abergläubisch. Es findet eine Beschenkung statt, gewöhnlich sind es Kleider oder Geld, um Kleider zu kaufen. Der junge Mann muß ein oder zwei Toiletten für die Braut kaufen. Der Vermittler kauft dem jungen Manne ebenfalls einige Kleider. Von Mitgift oder dgl. ist nicht die Rede. Mädchen erben überhaupt nichts. Ihr ganzes Vermögen besteht in den Kleidern, die sie mitbekommen. Erben kann nur der älteste Sohn, gerade wie in England.
Die eigentliche Heirat findet folgendermaßen statt: Das Mädchen verläßt das väterliche Haus in weißem Kleide, in der Trauerfarbe, denn es stirbt an demselben Tage für das väterliche Haus: auch verläßt es das Haus bei der Dunkelheit. Bei reichen Familien ist der Zug feierlich, die Braut wird in einer Säufte getragen. Gewöhnlich gehen die Eltern nicht einmal mit bei dem Hochzeitszuge, nur der Vermittler und einige Freunde begleiten sie. Ist die Braut in dem Hause des jungen Mannes angekommen, dann legt sie zunächst das weiße Trauerkleid ab und zieht ein Festgewand an, das der zukünftige Gatte ihr vorher geschenkt. Hierauf beginut die Zeremonie. Eine winzige Schale wird mit Reiswein(Sake) gefüllt. Die junge Frau, noch als Gast betrachtet, trinkt zuerst, und zwar benetzt sie nur eben ihre Lippen. Dann gibt sie ihrem Manne zu trinken Dreimal wird die Schale gefüllt und geleert. Damit sind die ganzen Empfangszeremonien beendet. Der Vermittler führt nun die jungen Leute ins Brautzimmer, wo die Zeremonie wiederholt wird, aber diesmal trinkt der Mann zuerst. Das ist der Schluß der ganzen Hochzeitsfeierlichkeiten. Auch eine Hochzeitsreise oder derartiges kennt man in Japan nicht.
Durch die Heirat ist die Frau für das Vaterhaus völlig verloren. Am dritten Tage nach der Heirat kann sie noch mal die Ihrigen besuchen. Damit haben aber diese Besuche für gewöhnlich ihr Ende erreicht.
Friseurkopf und dem unglaublichen Stehumlegkragen gar nicht die Ehre an, zu tun, als ob sie seine Worte gehört hätte; aber sie setzt ihre Promenade in entgegengesetzter Richtung fort, in der hellen Gasbeleuchtung von Billettschalter und Gepäckhalle Endlich kommt die Elektrische.
„Königsallee... Zweimal umsteigen... Kirchplatz und Gartenfeld.“
Neugierigen Blickes mustern die Mitfahrenden die elegante junge Dame mit dem prächtigen Bukett. Gereizt erträgt Hede die Blicke. Man hält sie wohl für eine reisende Künstlerin, wer weiß für was? Warum hat sie auch dem Geväckträger die Blumen nicht mitgegeben? Und doch umklammert ihre Hand die Stiele fester, und sie atmet den herrlichen Wohlgeruch ein Sie kommen ja von Mark Paulsen...
Sie schließt die seidigen Wimpern und sieht wieder seine guten ernsten Augen, hört seine Abschiedsworte:„Wenn Sie mich
brauchen, so wissen Sie, wo ich zu finden bin. Sie wissen, daß es meine größte Freude ist, zu Ihren Diensten zu sein. Ich hoffe, Sie gedenken meiner als Ihres besten Freundes...“
Die Blicke waren wärmer als die Worte: und erst der Druck seiner Hand! Nun, da sie fort ist, empfindet sie Sehnsucht nach ihm, nach seinem ritterlichen Schutze; aber solange sie zusammen gewesen sind, hat sich alles in ihr aufgelehnt gegen die Zumutung, sich beschützen zu lassen— sie, die Großstädterin, die Weilgereiste, Weltersahrene mit ihren zweiundzwanzig Jahren! „Umsteigen, Kirchplatz!“
Der Wagen hält schon. Im Aufsteigen hat Hede die Vision eines elegant, etwas salopp gekleideten Herrn mit matten, ver schleierten Augen, aus denen ihr aber doch ein eigentümliches Leuchten entgegenstrahlt. Sie tritt ins Jnnere des Wagens und nimmt zwischen heimfahrenden Ladengehülfinnen, Bürgersfrauen und Handwerksleuten Platz; noch sind einzelne Läden hell erleuchtet.
Surrend fährt der Wagen weiter, wie es scheint, durch die Geschäftsstraßen; die gibt es also doch hier! Amüsiert schaut sie nach einem grotesk dekorierten Schaufenster— da begegnet ihr wieder der aufsprühende Blick von der Außenseite des Wagens Die Türe öffnet sich und der elegante Herr nimmt ihr gegenüber Platz.
Hede ist viel zu gewandt, um sich ihren Aerger anmerken zu lassen. Sie ist mit allem beschäftigt, mit den Insassen des Wagens, mit den vorüberkommenden Gebäuden, mit ihren Blumen nur nicht mit ihrem Gegenüber. Aber sein beständiges Fixieren bringt ihr Blut in halb zornige, halb verlegene Wallung, die Farbe steigt in ihre Wangen.
Ein Insasse nach dem anderen verläßt den Wagen; sie ist allein mit ihm.
„Das Glück ist uns günstig, meine Gnädigste,“ sagt der Herr und lächelt.
Ruhig erhebt sich Hede und stellt sich auf den Vorderverron,
Iu einem Hause, wo kein Sohn ist, wo nur Mädchen vor handen sind, wird oft ein junger Mann eingeheiratet. Es is rechtlich aber mehr eine Adoption als eine Heirat, denn der junge Mann muß, indem er sich einheiratet, seinen Namen ab legen und den Namen des Mädchens annehmen. Diese Art Heirat ist nicht hoch angesehen. Nur junge Leute, die wirklich nicht anders können, willigen in eine solche Ehe ein.
Die Heirat kann nach Belieben aufgehoben werden, und oft erfolgt die Trennung aus den geringsten Ursachen. Es kommt selten vor, daß ein Japaner mit seiner ersten Frau die silberne Hochzeit feiert, denn häufig wird die Frau gewechselt. Der Japaner heiratet nur, um eine Frau zu haben, die ihm gefällt und die ihm Kinder schenkt, an denen der Vater sehr hängt Eine Frau wird, indem sie heiratet, zur Sklavin der Schwiegereltern; sie muß sich alken Launen der Schwiegermutter unterwerfen. Selbst wenn Diener im Hause sind, hat sie die Aufgabe, persönlich die Schwiegereltern zu versorgen, bei Tisch zu bedienen, kurzum alles für sie zu tun.
Eine japanische Frau wird, wenn sie einmal Schwiegermutter it. unbegreiflich hart, sie behauptet, sie wolle sich nun rächen.
„„„„„„„ 1y Wbiee fich Ann Tirl
geschieht auch redlich. Deshalb wird gewöhnlich die L
age
der jungen Frau im Hause mit der Zeit unmöglich. Das ist der Grund, daß manch' eine Frau davonläuft und sich noch am Tage einer Hochzeit zu ihrer Eltern zurückbegibt. In besseren Kreisen ist diese Geschwindigkeit zwar nicht Brauch, da kann die Frau nicht so augenblicklich das Haus verlassen, das hängt hier auch von ihren Eltern ab. Es kommt auch vor, daß sie im Hause des Gatten bleiben muß, dieser aber nimmt sich eine andere Frau dazu. Wenn die verlassene Frau Kinder hat, so bilden diese iyren einzigen Trost. Japaner der reichen Klassen nehmen oft eine oder mehrere Nebenfrauen in ihr Haus, wodurch natürlich Eifersucht zwischen den Frauen entsteht. Jede Frau erzieht ihre eigenen Kinder. Solche Eheverhältnisse sind nach dem Urteil aller gründlichen Beobachter der Hauptgrund, weshalb das japanische Volk so arm ist. Die Regierung ist erst neuerdings sehr beflissen, diesem Uebel abzuhelfen. Von drei Ehen ist stets eine, die auseinandergeht. Die Regierung hat daher die alte Vorschrift wieder hervorgeholt, man dürfe nicht
in den Schutz des Wagenlenkers; aber ihre Pulse fliegen. Eine solche Unverschämtheit!...„Schade!“ klingt es ihr noch in den Ohren.
„Umsteigen nach Gartenfeld, Königsallee! Anschluß in fünf Minuten!"
Erlöst verläßt Hede den Wagen; aber noch im Fortfahren springt eine hellgekleidete Gestalt vom Wagen ab— ihr Verfolger!
Hede erkennt im grellen Scheine des fortsausenden Wagens die schön geschnittenen, aber etwas schlaffen Züge, das gebräunte Gesicht, die befriedigte Miene, sieht, wie der Herr auf sie zukommt. Und fünf Minuten Aufenthalt!
r sie erreicht, hat, dreht sie sich wie zufällig um und hält Mark Paulsens Blumen instinktiv als Schutz vor das Gesicht.
In ein paar Sekunden ist er neven ihr.
Schicksal, meine Gnädigste! Darf ich
Eine Galgenfrist!
„Wir haben dasselbe
Ihre Einsamkeit teilen? Ich stelle mich ganz zur Verfügung.“
„Ich verzichte auf jede Gesellschaft, verbitte mir jede Unterhaltung!“
Spöttisch fuchtelt er mit dem Stöckchen in der Luft. Seine Augen funkeln sie bewundernd und unternehmend an, und sie ist ganz allein mit ihm in der Dunkelheit, die nur von einer entfernten Gaslaterne etwas aufgehellt wird! Hede geht
chrittes auf und ab, als
aufgeregt, aber anscheinend ruhigen S sei sie allein auf dem Platze.
„Schade um den angebrochenen Abend! Wollen Sie mir nicht erlauben, Ihnen die Genüsse der Kleinstadt zu zeigen?“ des Empörung läßt sich nicht mehr zügeln:„Wenn Sie mich nicht auf der Stelle verlassen, rufe ich einen Schutzmann!"
Er lacht hell auf.„Schutzmann, in diesem Krähwinkel! Nee ibts nicht! Aber ich bin doch gar nicht so fürchterlich. Ich nur Ihnen und mir den Aufenthalt in diesem Neste etwas angenehm machen.“
Heiß steigt es in Hedes Kehle auf vor ohnmächtiger Emporung. Ratlos geht sie hin und her. Sprechen kann sie nicht mehr aus Furcht, in Tränen auszübrechen. Da horcht sie auf:
gleichmäßige terne auf. Hermandad!
Mit einer lante Ritter v Minuten kommt Ende ihrer Leiden
chritte ertönen; silbern blitzt es unter ie ist befreit, erlöst!„Ein Jünger der
der Laheiligen
gleichgültigen Frage tritt sie auf ihn zu; der ga erliert sich in der Dunkelheit. Nach ein paa die Vorstadtbahn— ganz leer.
sar Hede ist am
Das Haus Königsallee vierzehn ist hell erleuchtet. Im Vestibül stürzt ihr schon Lily im lang nachschleppenden Morgenrock von lichtblauer Seide entgegen:
„Was mußt du gedacht haben, Hede, Liebste! Kein Mensch am Bahnhof, um dich abzuholen? Aber dein Telegramm kam viel