Samstag, den 2. September 1911.

Mittag=Ausgabe.

Nr. 411. 38. Jahrgang.

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Die heutige Mittag=Ausgabe umfaßt 8 Seiten.

% Teuerungsrevolten.

In ganz Europa oder doch in einem großen Teile desselben sind die Lebensmittelpreise in einer recht er­heblichen Aufwärtsbewegung begriffen, und nach allge­meiner Ansicht haben die Preise noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht, sie werden vielmehr weiter steigen, und die Kalamität dürfte namentlich im bevorstehenden Winter sich empfindlich fühlbar machen, dem deshalb die minder bemittelten Klassen mit großer Sorge entgegen­sehen. Wenn auch, wie wir hoffen, die ärgsten Besürch­tungen, die sich insbesondere an den unbefriedigenden Ausfall der Ernte knüpften, sich nicht erfüllen werden, so steht doch den schwächeren Schultern des Volles eine an Einschränkungen und Entsagungen reiche Zeit bevor, die Viele dazu führen wird, mit ihrem Geschicke zu hadern und ihrem Unmute laut Luft zu machen. Aber erfreu­licherweise darf man doch bei uns in Deutschland damit rechnen, daß einem wirklichen Notstande der Bevölkerung, einem Mangel an dem Notwendigsten rechtzeitig ent­gegengetreten wird. Eine Hungersnot ist ja in Deutsch­land angesichts der heutigen Verkehrsmittel vollständig ausgeschlossen, denn im äußersten Falle würden öffent­liche Mittel zur Beschaffung des Notwendigsten in jeder Höhe zur Verfügung zu stellen sein. Daß sich weite Kreise Entbehrungen auferlegen und ihre Bedürfnisse auf die Befriedigung des zum Lebensunterhalt dringendst Notwendigen beschränken müssen, wird sich leider nicht vermeiden lassen, daraus kann aber für die Betroffenen nicht das Recht hergeleitet werden, sich gegen die öffent liche Ordnung aufzulehnen und Gewalttätigkeiten zu be­gehen, wie es jetzt z. B. in Belgien und Frankreich ge­schieht.

Während es in Belgien bei lärmenden Kundgebun­gen geblieben ist, haben die Teuerungskrawalle in Frank­reich einen gefährlichen Charakter angenommen. Der dortige Boden ist ja solchen Ausschreitungen günstig, wie erst noch in letzter Zeit die Winzerunruhen gezeigt haben. Wir möchten vorläufig noch bezweiseln, ob die Lebens­mittelpreise wirklich eine solche Höhe erreicht haben, daß die Erregung, wie sie in einzelnen Teilen Frankreichs herrscht, gerechtfertigt erscheint, vielmehr ist es nicht un­wahrscheinlich, daß die gesteigerten Lebensmittelpreise nur als Deckmantel für die Ausschreitungen dienen, in denen sich vielleicht nur die allgemeine Unzufriedenheit Luft macht. Und wie es bei solchen Gelegenheiten immer der Fall ist, werden diejenigen, von denen es in der Schrift heißt, daß sie nicht säen und nicht ernten und daß sie der himmlische Vater doch ernährt, also die, welche unter den hohen Preisen am wenigsten leiden, weil sie sich auf Kosten ihrer Mitmenschen durchs Lebn fechten, bei den Ausschreitungen am meisten beteiligt sein, nicht uber die Familienväter, die sich in redlicher Arbeit ab­mühen.

Vorgänge, wie sie sich jetzt in Frankreich abspielen, haben sich im laufenden Jahrhundert auch schon in an­deren Ländern zugetragen. So herrschten in Spanien verschiedentlich sogen. Hungerrevolten, namentlich im Süden des Landes. Auch in Rußland sind Unruhen aus gleichem Grunde nicht selten, und auf der Insel Sar­dinien machte im Frühjahr 1906 die Unterdrückung gro­der Ausschreitungen aus Anlaß der Teuerung den Be­hörden große Schwierigkeiten. Ueberall kam es dabei zu revolutionären Kundgebungen, zu Plünderungen und zur Vernichtung von Lebensmitteln. Daß in einzelnen Fällen die Not der Bevölkerung sehr groß war, soll zu­gegeben werden, aber damtt sind die begangenen Exzesse doch nicht zu entschuldigen, sie müssen vielmehr aufs

sante engnant ernten guseun gentgen on hen vorhandene Elend noch zu vermehren.

Köln, 1. Sept. Nachdem die Rheinische Landwirt­schaftskammer behauptet hat, daß nicht mit einer Fleischteuerung und Futternot zu rechnen sei, wird darauf hingewiesen, daß der Rheinische Bouernverein in einem längeren Bericht schreibt: Es kann nicht abgeleugnet werden, daß der deutschen Landwirtschaft ein schweres Jahr bevorsteht. Mit großer Besorgnis sieht sie dem kommenden Winter entgegen, zu­mal auch das Erlöschen der Maul= und Klauenseuche noch immer nicht abzusehen ist. Die unausbleiblichen Folgen der trüben Aussichten rücken beängstigend schon jetzt heran. Viele Landwirte werden gezwungen sein, wegen gänzlichen Futtermangels ihren Viehbestand ab­zuschassen. Mit einer starken Verteuerung der Fleisch= und Viehproduktion, aber auch der Kartoffeln und des Brotes werden wir leider rechnen müssen. Der Aussall an Kartof­seln wird rund 40 Prozent betragen. Die Schweine­haltung muß sehr schwer darunter leiden und bereits in zwei bis drei Monaten wird sich der Ausfall in den Schweinefleischpreisen in unbarmherziger Weise fühlbar machen.

Brüssel, 2. Sept. Im Industriezentrum wächst die Erregung der Hausfrauen zum planmäßigen Boykott der Bauern aus, die Milch, Eier und Butter nicht zu den vorgeschriebenen Preisen abgeben wollen. Die Polizei verhinderte gestern die Zusuhr zu den Märkten von La Louviere und Hondeng, um Zusammenstöße mit den Hausfrauen zu vermeiden, die aufrührerische Reden hielten. Die Bewegung richtet sich auch gegen die Fleischer, die wegen der herrschenden Maul= und Klauenseuche sich in einer unangenehmen Lage befinden.

St. Quentin, 2. Sept. Gestern abend kam es zu weiteren Zwischenfällen. Die Menge warf einen Wagen um, errichtete Barrikaden und hielt am Markte eine Patrouille von Gendarmen und Kürassieren aus, die sie mit Wurfgeschossen überschütteten. Auch wur­den einige Revolverschüsse abgeseuert und ein Kürassier und ein Gendarm schwer, mehrere andere Personen leicht verletzt. Die Gendarmerie umzingelte dann ein Haus, in das sich die Ruhestörer geflüchtet hatten. 21 Verhaftungen wurden vorgenommen. Die Menge suchte vergeblich, die Verhafteten zu befreien. Aehnliche Zusammenstöße erfolgten an verschiedenen Punkten der Stadt. Um Uhr war die Ruhe wieder­hergestellt.

Paris, 2. Sept. Ministerpräsident Caillaux be­riet gestern mit dem Ackerbauminister und dem Handels­minister über die durch die hohen Lebensmittel­preise geschaffene Lage. Zahlreiche Depeschen aus der Provinz berichten über Kundgebungen gegen die Lebens­mittelteuerung. In Chagny protestierten die Haus­frauen aufs heftigste, so daß die Kaufleute nach Creusot entflohen. In Monceau=les mines wurden die Waren von der Menge zertreten. Im Departement Pas de Calais sind die Fleischerläden geschlossen worden. Auf den Vieh= und Gemüsemärkten in Lens, Douai und Brest werden fast gar keine Einkäuse gemacht.

In der bereits kurz angedeuteten Nachricht von der Konserenz der Minister über die Lebens­mittelteuerung wurde beschlossen, dem Minister­rat eine Reihe von gesetzlichen und Verwaltungsmaß­nahmen vorzuschlagen, um der Notlage abzuhelsen. Die Minister beschlossen, von einer Aenderung des Zolltarises abzusehen und saßten vornehmlich eine Revision der Bahntarise für die Ein­und Ausfuhr von landwirtschaftlichen

Ase telite ir baste dane eie dir bsch und allgemeinen Marktvorschriften erleichtert werden.

Eine Note des Ministerpräsidenten besagt: Im Verlause verschiedener Versammlungen gegen die Lebensmittelteuerung haben Delegierte der Consederation generale du travail zu Kundgebungen ausgesordert. An mehreren Orten, namentlich in St. Quentin und Valenciennes, arteten die Unruhen in Aufruhr aus. Die Bewegung dehnt sich aus und nimmt einen mehr revolutionären als wirtschaftlichen Charal­ter an. Die Regierung hat alle notwendigen Maßregeln ergrifsen und ist fest entschlossen, mit allen Mitteln, über die sie verfügt, die Ordnung und Freiheit des Handels zu sichern.

Maroklo.

DieKöln. Zig. bestätigt in der Besprechung der Wiederaufnahme der deutsch=französischen Ver­handlungen, daß bei den bisherigen Verhandlungen von einer Gebietsabtretung in Marokko überhaupt niemals die Rede gewesen sei. Un­sere Diplomatie habe niemals diesen Gedanken verfolgt. Das Erscheinen des deutschen Kriegsschiffes vor Agadir wurde durch das Bedürfnis veranlaßt, die bedrohten deut­schen Staatsangehörigen im Sus zu schützen. Es war kein Eingriff im Sinne der Vorbereitung eines etwaigen Erwerbes von marokkanischem Gebiet. Es wird von Burg­schaften abhängen, die Frankreich für Wahrung der Gleich­berechtigung in Marokko gibt, ob man zur Verständigung kommt.

Altenburg, 1. Sept. Aus Anlaß des vierzigsten Ge­burtstages des Großherzogs von Sachsen=Altenburg hielt der Staatsminister Freiherr v. Borries eine An­sprache, in der er sich unter anderem auch zur Marokko­frage äußerte. Er führte etwa aus: In der Ma­rokkofrage steht das gesamte deutsche Volk einmütig zusammen, wie es das in schweren Stunden erlernt hat und nie vergessen wird. Fester, un­bengsamer Wille ist es, der zum Ziele führt, die einzel­nen Menschen, wie die Völker. Schwer im Rate der Vol­ker ins Gewicht fallen soll und muß der Wille eines ge­einten und einigen Volkes von 65 Milionen, das seinen Anspruch geltend macht auf gerechten Ausgleich und Anteil an unerschlossenem Weltge­biet. Eine Nation, die jährlich im ganzen um eine Million sich vermehrt, muß in allen ihren Schichten der Verantwortung sich bewußt sein, die sie dem kommenden Geschlechte gegenüber trägt, und es darf nicht mit Achsel­zucken das Wort entgegengehalten werden:Was tun? Die Welt ist weggegeben. Wir wollen nicht in die höhe­ren Regionen verwiesen werden, in denen der Dichter willkommen ist: wo ernste Arbeit Raum und Boden fin­den, werden wir solchen Gedanken laut Ausdruck geben. So wissen wir uns eins mit unserem Landesherrn.

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Die Fortsetzung des Zwiegesprächs.

In unterrichteten Kreisen bezweifelt man, daß der französische Botschafter Cambon am Sonnabend die Un­terhaltung mit dem Staatssekretär v. Kiderlen=Waechter wieder aufnehmen wird. Wenn man voraussetzt, daß der Feiertag kein Hindernis ist, so würde am Sonntag ver­mutlich die erste Besprechung nach der Pause stattfinden. Als zureichender Grund für die Verzögerung kann das Befinden Cambons gelten, der, wie verlautet, noch unter Mattigkeit zu leiden hat.

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Falsche Einschätzung.

Den jüngsten Auslassungen eines Berliner Blattes über die Marokkofrage ist in der Oeffentlichkeit vielfach

WRest de lice esectane eicencte rasche e glaubt verschiedentlich, daß dieser Artikel direkt vom Aus­wärtigen Amt für einen politischen Tageszweck veranlaßt sei. Diese Annahme trifft, wie wir erfahren, nicht zu. Das Auswärtige Amt hat im gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Anlaß, Marokkoartikel zu inspirieren. Wenn solche Artikel dennoch erscheinen, so sind sie eine private journalistische Arbeit. Daß der Verfasser dabei durch Kenntnis der Vorgänge unterstützt wird, ist nicht ausge­schlossen. Es ist aber ein Unterschied, ob auf Grund der manchem zugänglichen Kenntnisse und des eigenen Ur­teils Beiträge zur Marokkofrage veröffentlicht oder ob Artikel im Auftrage des Auswärtigen Amtes geschrie­ben werden.(Diese Insormation bezieht sich auf der jüngsten Artikel des Berl. Lokalanzeigers. D. Red.)

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Unser Verhältnis zu England.

Von unterrichteter Seite wird uns geschrieben:

Man gewinnt den Eindruck, daß aus dem vom Reichskanzler v. Beihmann Hollweg angekündigten deutsch=englischen Austausch von Nachrichten über die bei­derseitige Flottenentwickelung tatsächlich nichts geworden ist. In amtlichen Kreisen äußert man sich freilich ent­weder gar nicht oder nur mit größter Zurückhaltung zu dieser Sache. Es scheint, daß man nicht Oel in das Feuer der Erregung über das Dazwischentreten Eng­lands in der Marokkofrage gießen will. Außerdem schwebt die Angelegenheit de britischen Botschafters in Wien, Cartwright, noch. Zwar begegnet man in der Diplo­matie auch der Anschauung, daß Sir Fairsax die Möglich­keit, weiteren Schaden anzurichten, sich verbaut habe, in­dem er sich selbst gleichsam die Schelle umhängte. Doch erscheint diese Auffassung allzu spitzfindig. Als natür­licher und angemessener Zustand kann es kaum ange­sehen werden, daß bei dem mit Deutschland verbündeten Reiche ein Diplomat beglaubigt ist, für dessen deutsch­seindliche Agitation auch dem, der noch an der Urheber­schaft des Interviews zweifelt, vollgültige Beweise vor­gelegt werden können. Da es sich hier jedoch um Fragen des diplomatischen Taktes handelt und Herrn Cartwright ein Mangel und zwar ein sehr erheblicher an dieser Diplomatentugend vorgeworsen wird, so glauben wir, daß man von deutscher Seite ein um so größeres Maß von Korrektheit bei Erledigung des Falles aufwenden

*

Die Cartwright=Affäre.

Wien, 1. Sept. Von dem durch Reuter verbreiteten Dementi der englischen Regierung, wonach für das in der Neuen Freien Presse veröffentlichte Interview eines englischen Diplomaten in wichtiger Stellung kein eng­lischer Diplomat verantwortlich sei, sagt man hier:Ge­logen wie gedruckt! Hier in Wien hat niemand dies Dementi ernst genommen. Von den Wiener Blättern ha­ben daher nur wenige Reuter Dementi gebracht und zwar die, die in dem derNeuen Freien Presse geg­nerischen Lager stehen. Die maßgebenden Blätter, darun­ter auch das halbamtlicheWiener Fremdenblatt, die Zeit, und dieReichspost haben es einfach in den Pa­vierkorb geworfen. Das will, wie die Zeitungsverhält­nisse hier liegen, etwas heißen. Hier ist eben der Her­gang der Dinge jedem Eingeweihten von vornherein zu klar gewesen, als daß er durch irgendwelche sogenannte Dementis hätte getrübt werden können. Selbst wenn Cartwright gezwungen werden sollte, die Urheberschaft der Aeußerungen derNeuen Freien Presse direkt ab­zuleugnen, so würde er in Wien kein Glück damit haben. weil man hier ganz genau weiß, daß jene Aeußerungen, die übrigens nicht in der landläufigen Form eines In­terviews mit Frage und Antwort gebracht wurden, eine Zusammenstellung von Aussprüchen des Botschafters

* Schlangenlist.

Erzählung von F. Arnefeldt.

(3. Fortsetzung.)

Er ist schon unterwegs, fuhr er fort.Er hat sich bereits eingeschifst, wird aber zunächst nach England geben, wo er sein Verhältnis zu der Gesellschaft in deren Diensten er gestanden, erst ordnungsmäßig zu lösen hat. Dort erwartet er noch einen Brief von mir und von London aus wird er uns den Tag seiner Ankunft mel­den. Ich freue mich unbeschreiblich.

Ich auch, sagte Melanie mit weicher Stimme und einem schmachtenden Aufschlag der jetzt feucht schimmern­den Augen;dennoch kann ich mich eines gewissen Ban­gens nicht erwehren.

So lies selbst, liebe Zweiflerin, was er über Dich schreibt. Er hielt ihr den Brief unter die Augen und las, mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle deutend, die Worte:

Steht mir die Frau, welche meinen Vater so unaus­sprechlich glücklich macht, im Alter auch zu nahe, als daß ich sie Mutter nennen konnte, so ist mein Herz doch für sie erfüllt von der aufrichtigsten Dankvarkeit und Ver­ehrung, und ich hoffe, sie wird mir gestatten, ihr ein treuer und ergebener Freund zu sein.

Wie bübsch der Junge das ausdrückt, schmunzelte Herr Helldorf. Was sagst Du jetzt, mein Herz! Bist Du nun zufrieden?

5hr sehr! beteuerte sie,ich will ihm gewiß eine gute, treue Freundin sein.

Das weiß ich, darauf kenne ich Dich. versetzte er L, wie glücklich würden wir sein; jetzt, wo die Trennung bald vorüber ist, weiß ich erst, wie schwer sie auf mir gelastet hat.: Die Augen des trotz mancher Schwächen guten und ehrenwerten Mannes füllten sich mit Ttönen.

Wird Erwin in Berlin bleiben? fragte Melanie. Darüber spricht er sich nicht aus, aber ich hosse es. Wenigstens wird er auf längere Zeit unser Gast sein: denn naturlich wird er bei uns wohnen:: Die Frage kam so zogernd heraus und er sah seine Frau dabei so erwartungsvoll an, als ob diesesnatürlich doch noch nicht so über jeden Zweisel erhaben sei.

Welche Frage! rief sie eifrig,vorausgesetzt, daß

ihm die Villa nicht zu entlegen vom Mittelpunkte der

Stadt ist, fügte sie dann nachdenklich hinzu.

Helldorf ward dadurch ein Tropsen Wasser in den Wein geschuttet; ein Schatten flog über sein freudeglän­zendes Gesicht.

Meinst Du? fragte er gedehnt, schüttelte aber die ihm aufsteigende unangenehme Empfindung schnell wie­der ab, indem er hinzusetzte:Nun, das wird sich alles finden, wenn er hier ist; wir wollen ihm den Ausenthalt bei uns schon so angenehm machen, daß er das Fortgehen bleiben läßt. Ich will sogleich an iyn schreiben.

Erlaubst Du, daß ich ein paar Zeilen hinzufüge? bat sie.

Melanie, das wolltest Du! Du bist ein Engel! rief er, sie umarmend.

Also nach London schreibst Du! Er hat Dir die Adresse angegeben. Wie lautet sie doch?

Ja, wie lautet sie? wiederholte Helldorf mit einer gewissen Verlegenheit;lies sie selbst, mit meinem Eng­lisch ists, wie Du weißt, nicht zum besten bestellt.

Er reichte ihr den Brief und sie las:12 Bloomsield Terrace Belgravia, Hotel Bristol.

Er wiederholte die Adresse ein paarmal und ent­fernte sich dann eilig, wie er gekommen, seine Frau bit­tend, nur sogleich zu schreiben, denn es lasse ihm keine Ruhe, bis er den Brief an seinen Sohn unterwegs wissc, obwohl Erwin erst in etlichen Tagen in London ein­tressen könne.

Auch Melanie begab sich in ihr reizend eingerichtetes Boudoir, aber sie setzte sich nicht an den Schreibtisch, sondern ging mit hastigen Schritten in dem nicht allzu großen Raume auf und ab, so daß die in stilvoller Un­regelmäßigkeit umberstebenden Möbel und kostbaren Klei­nigkeiten in ernstliche Gefahr gerieten, umgeworsen und beschädigt zu werden. Bald riß sie das Fenster auf, weil der im Zimmer zerrschende Dust von Blumen und starkem Parsüm sie zu ersticken drohte, bald schloß sie es wieder, fürchtend, einen Zeugen ihrer Aufregung zu be­kommen.

Was tun! Was tun! stöhnte sie.Beide wieder hier, die ich für alle Zeiten fern geglaubt! Und das in dem Augenblick, wo auch Theobald mir meldet, daß er in Berlin eingetrossen ist!

Lebt denn die ganze Vergangenheit wieder auf? fuhr sie in ihrem Selbstgespräch fort.Soll ich nie zur

Ruhe kommen? Sie ließ sich wie in tiefster Ermüdung nieder und stützte den Kopf in die Hand, aber schon nach wenigen Minuten fuhr sie wieder auf:

Ich will mich nicht verloren geben, ich brauche es nicht! Es muß, es wird sich ein Weg finden lassen. Gut, daß Theobald jetzt gerade hier ist. Ins Haus darf ich ihn nun freilich nicht kommen lassen, das wäre gefähr­lich. Aber ich muß ihn sprechen, er wird mir raten, er wird mir beistehen, er wird, wenn die Not es erheischt, handeln!

Sie hielt inne und schaute erschrocken um sich, als sürchte sie, den Wänden schon zu viel von ihrem Geheim­nis verraten zu haben; mit entschlossener Miene setzte sie sich an den Schreibtisch, warf hastig einige Zeilen auf ein Blatt Papier, das sie in ein Kuvert sieckte, dies be­schrieb und verbarg. Nun war sie ruhig genug gewor­den, um bedächtig den versprochenen Brief an den Stief­sohn zu schreiben, den sie selbst ihrem Gatten hintrug, wobei sie ihm gleichzeitig sagte, sie fühle sich doch nach dem gehabten Anfall ein wenig angegriffen und glaube sich am besten durch einen Spaziergang herzustellen.

Er sprang erschrocken auf, prüfte ihr Aussehen, fragte, ob er nicht lieber nach dem Arzt senden sollte, und erbot sich, als sie dies lächelnd ablehnte, sie zu begleiten; aber auch das wies sie zurück, indem sie kosend sagte:

Laß mich allein gehen, ich kenne mich; nichts schafft mir eine solche kleine Indisposition schneller und gründ­licher sort, als eine Stunde des Alleinseins in der freien Natur. Wenn wir uns wiedersehen, hast Du Deine frische Melanie wieder.

Mit einem Kuß auf seine Wange schlüpfte sie hinaus, und eine Stunde später verließ sie in einem einfachen, aber sein gewählten staubgrauen Straßenkostüm die Villa. Erst als sie in ansehnlicher Entfernung von der letzteren war, sah sie sich nach einem Briefkasten um und steckte, nachdem sie einen solchen gefunden, den mitgenommenen Brief hinein.

II.

Der jetzige Rentier Helldorf war der Sohn eines Seisensieders, der in der größten Stadt eines dicht an Preußen grenzenden Herzogtums mit Geschick, Fleiß und recht gutem Erfolge sein Geschäft betrieben hatte. Es war Heinrich ganz selbstverständlich erschienen, daß er den gleichen Beruf ergreisen müsse um das Geschäft des

Vaters sortzusetzen; ebenso willig hatte er sich den An­ordnungen des letzteren inbetreff seiner Heirat gefügt und ohne sonderliche Reigung die Tochter eines reichen Bierbrauers heimgeführt.

Unter dem gestrengen Regiment des alten Helldorf hauste das junge Paar ganz einträchtig miteinander und arbeitete im Schweiße seines Angesichts. Heinrich mußte morgens der erste und abends der letzte in der Werk­statt sein. Gewissermaßen zur Erholung ging er da­zwischen hinaus auf die zum Hause seines Vaters ge­hörenden Aecker und Wiesen, wo er die Arbeiter beauf­sichtigte und selbst mit Hand anlegte. Seine Frau schaffte inzwischen unermüdlich in Küche und Haushalt und be­sorgte den Einzelverkauf an Seise und Licht.

So verging eine Reihe von Jahren. Der alte Hel­dorf starb; Heinrich, der zwar nur eine mäßige Schul­bildung genossen, aber ein intelligenter Geschäftsmann war, erweiterte das Geschäft zu einer Fabrik, knüpfte zahlreiche Verbindungen an und erzielte Umsätze, die ihn zu einem sehr reichen Manne gemacht haben würden, auch wenn seiner Frau nicht aus dem Nachlasse ihres Vater­ein sehr bedeutendes Vermögen zugefallen wäre. Dazu kam noch, daß ein Teil seiner Ländereien zu einem hohen Preise für die Anlage eines neuen Bahnhoses angekauft werden mußte, und daß er spekulativ genug war, auf dem anderen Teil neue Straßen zu erbauen, deren Häu­ser er dann mit großem Nutzen verkaufte. Trotzdem änderte sich nicht viel in dem Lebenszuschnitt der Familie. In Frau Lotte Helldorfs Wohnzimmer herrschte die größte Einsachheit, und als ihr Gatie schon für einen Millionar galt, stand sie noch immer mit glatt gescheitel­tem Haar, in einem bedruckten Kattunkleide und weiter gestreifter Leinwandschurze in ihrem Laden, unverdrossen den einsprechenden Käufern ein Pfund Seife oder Licht abwägend.

Wäre es lediglich nach Helldorfs Sinn gegangen, so würden sich die Dinge allerdings schon seit längerer Zett ganz anders gestaltet haben. Der Kramladen in seinem Hause war ihm ein Stein des Anstoßes, den er am liebsten aus dem Wege geräumt hätte, er hätte gern sein Hauswesen auf einen vollständig anderen Fuß ein­gerichtet und mit den Honoratioren der Stadt gesellig verkehrt, von denen ein Teil sich den reichen Leuter gegenüber nicht spröde verhalten haben würde. (Rortsetzung folgt.)