2 MFA
Mikrotilmarchiv der deutschsprachigen Presse eNV.
Erscheint täglich
mit Ausnahme der Sonn= und Feiertage.
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Druck und Verlag von Ferd. Dienst, Gelsenkirchen.
Telrikriches Hren
für den Lidler u. Tänerreis Gehsenlirchnn
Sincere et constanter.
Früher:„Der Reichsfreund“.
Publikations=Organ der sämtlichen Behörden des Kreises.
Kreis= und lokalpolizeiliche Verordnungen für zer„Steis Gelsenkirchen durch die„Emscher Zeitung“ vert, gntlicht, erlangen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen laut Bekanntmachungen Kgl. Regierung zu arnsberg vom 19. Juli und 30. April 1896 rechtsverbindliche Kraft für die KreisEingesessenen.— Der Kreis umsaßt die Bürgermeistereien Gelsenkirchen und Wattenscheid, die Aemter Braubauerschaft, Eickel, Schalke, Ueckendorf, Wanne und Wattenscheid.
207.
DyC Das Festunwesen— ein schaden des öffentlichen Lebens.
In den geverbefleißigen Bezirken von Rheinland Westfalen wird das Uebermaß der öffentlichen Festlichkeiten je länger, je stärker als ein Krebsschaden empfunden, der am Mark der Arbeiterschaft zehrt. Immer häufiger und lauter tönen die Klagen, die daselbst von den Arbeitgebern und Volksfreunden über die zunehmende Genußsucht und die in der ungezügelten Befriedigung derselben sich ausdrückende Unwirtschaftlichkeit der arbeitenden Klassen erhoben werden. Aber auch die Verrohung der Sitten geht mit der zunehmenden Verschwendungssucht Hand in Hand. Kirmesseiern, die an kirchliche Jahresfeste anknüpfen, haben in manchen Städten oder Pfarrbezirken einen kaum glaublichen Grad von Wüstheit angenommen.
So brachte der„Lokal=Anzeiger“ der ultramontanen „Kölnischen Volkszeitung" am 17. August 1898 folgenden Bericht aus Köln, dem deutschen Rom, wo jede der zahlreichen dortigen katholischen Kirchen ihre besondere Kirchweih hat, sodaß dort den ganzen Sommer über an jedem Sonntag in einem oder mehreren Kirchspielen Kirmesfeier stattfindet.
„Ein widerliches Kirmestreiben spielte sich am Montag auf dem Eigelstein und den ibenachbarten Straßen ab. Männer und Frauen zogen lärmend und schreiend aus einem Wirtshause zum andern oder fuhren auf Karren, Biergefäße schwingend, durch die Straßen. Geradezu toll ging es am Abend zu, wo förmliche Maskenzüge veranstaltet wurden, und Frauenzimmer in Männerkleidern sich besonders hervorthaten. Auch aus der Follerstraße kamen derartige Meldungen. Daß solchen Elementen die kirchliche Bedeutung der Kirmesfeier ganz abgeht, braucht nicht besonders betont zu werden.“
An vorstehender Schilderung ist das Geständnis eines gut katholischen Blattes bemerkenswert, daß gewissen Bestandteilen der Kirmesfeiernden das Bewußtsein von der kirchlichen Bedeutung der Kinnesfeier ganz abgeht. Man wird schwerlich irren, wenn man diese B standteile als die Mehrheit der Festfeiernden betrachtet. Die Kirmessen sind in ihrem weltlichen Teil längst Volksfeste ganz gewöhnlicher, ja oft gewöhnlichster Airt geworden, je nach dem Orte und je nach der Beschaffencheit der Bovölkerung. In den großen Städten stellt jedenfalls der Janhagel ein ganz ansehnliches Kontingent ihrer Besucher. Außerdem wirkt aber die von Alters her gerade mit den niederrheinischen Kirmesfeiern verbundene— sagen wir Zwanglosigkeit des Verkehrs auf diesen Festen häufig nachteilig auf Sitten und Neigungen ihrer Besucher ein. Die Kirmesfeiern sind unter anderen Voraussetzungen, als heute für die Verhältnisse und Anschauungen des Volkes zutreffen, entstanden und im großen und ganzen namentlich in Fabrikorten nicht mehr zeitgemäß. Sie bilden in ihrer Häufung für die großen Städte geradezu einen sittlichen Schaden, weshalb auch schon wiederholt ihre Beschränkung durch Zusammenlegung aller Kirchweihfeste auf einen und denselben Tag oder vielmehr auf eben dieselben drei auf einanderfolgenden Tage im rheinisch
westfälischen Industriebezirk befürwortet worden ist. Eine richtige Kirmes dauert nämlich drei Tage!
Den Kirmesfeiern gleich zu erachten hinsichtlich nachteiliger Wirkung auf die Sittlichkeit und Wirtschaftlichkeit des Volkes sind die massenhaften sonstigen Festlichkeiten der Sänger=, Turner=, Schützen= und anderer Sportvereine, die in vielen Gegenden Deutschlands begangen werden. Sie dienen häufig weniger ihrem angeblichen Bestimmungszweck, als dem Vergnügungstrieb und der Völlerei. Wie nachteilig dieses Festunwesen auf die wirtschaftliche Thätigkeit der Arbeiterbevölkerung einwirkt, erhellt aus einem Rundschreiben, das der Direktor der Kohlenzeche„Alstaden“ bei Oberhausen kürzlich erlassen hat, worin nachgewiesen wird, daß die unter Tage beschäftigten 700 Arbeiter des Bergwerks im Jahre 1897 7326 Schichten ohne Entschuldigung versäumten und dadurch ein Lohneinkommen von 38 400 Mk. willkürlich preisgaben. In letzter Zeit habe aber das willkürliche Feiern in einem noch nicht dagewesenen Umfange zugenommen, sodaß nach diesem Maßstabe auf einen Lohnverlust von 70000 Mk. im Jahre zu rechnen sei. Da im rheinisch=westfälischen Industriegebiet über 150000 Bergarbeiter beschäftigt werden, kann man an diesem Beispiel etwa ermessen, auf welches Einkommen willkürlich feiernde Bergleute verzichten, um ihrem Hange zum Vergnügen zu fröhnen. Was sie dabei an Geld verthun, entzieht sich natürlich jeder Berechnung. Hier wäre für die soziale Wissenschaft, für die Apostel der christlichen Nächstenliebe, die Herren Adolf Wogner, Pastor Naumann u. a. Gelegenheit, sich wohlthätig zu erweisen, indem sie dieser Unwirtschaftlichkeit der Arbeiter zu steuern suchten. Man hat aber noch nicht gehört, daß diese Richtung oder überhaupt die Kathedersozialisten sich mit dieser äußerst wichtigen Seite der sozialen Frage beschäftigt hätten. Das überlassen sie gütigst den von ihnen so scheel angesehenen Unternehmern, die denn auch in der That sich der übel beratenen Arbeiter anzunehmen geneigt sind, wie das aus verschiedenen Kundgebungen einzelner wirtschaftlicher Körperschaften und u. a. auch aus dem erwähnten Rundschreiben der genannten Kohlenzeche hervorgeht. In diesem von einem vortrefflichen Geist der Werksverwaltung zeugenden Schriftstück heißt es über die Ursachen des beregten Mißstandes:
„In unserer Bürgermeisterei mit etwa 30.000 Einwohnern bestanden im Jahre 1897 138 Vereine, welche fast sämtlich Arbeiter zu Mitgliedern haben. Diese Vereine begingen, abgesehen von ihren regelmäßigen Zusammenkünften und kleinen Veranstaltungen, 120 größere Festlichkeiten. Alle diese Feste finden in Wirtschaften statt. Hier liegt der schwere Schaden für die Arbeiter, und es ist bedauerlich, daß es unseren Behörden nicht gelingt, die Arbeiter gegen die Ausbeutung durch dieses Festunwesen zu schützen. Nur zu viele Wirte sind bestrebt, einen oder mehrere Vereine an sich zu ziehen oder neue Vereine ins Leben zu rufen, welche für sie nur den Zweck haben, einen
möglichst bedeutenden Teil des Lohnes der Arbeiter in ihre Tasche zu bringen.“—„Es würde uns freuen", heißt es zum Schluß der ihrem Urheber, Direktor R.
Dach, zur Ehre gereichenden bemerkenswerten Kundgebung,„wenn diese Darlegungen dazu beitragen sollten, den einen oder anderen Arbeiter zum Nachdenken zu bringen, damit, wenn einmal wieder weniger günstige Verhältnisse eintreten, ihm von der heutigen besseren Zeit mehr übrig bleibt, als die Erinnerung an Festlichkeiten und Trinkgelage.“
Eine ähnliche Rechnung wie die genannte Bergwerksdirektion stellt die Handelskammer zu Düsseldorf in ihrem Jahresbericht für 1897 auf, indem sie den durch die Kirmesfeier erlittenen Lohnausfall einer bestimmten Arbeiterzahl aufgrund von bestimmten Angaben der betreffenden Arbeitgeber ermittelt hat. Er berechnet sich nach ihren Angaben auf rund 78000 Mk. für rund 13000 Arbeiter an der Hauptkirmes und mit 4500 Mk. für rund 1700 Arbeiter an den Nebenkirmessen. Die Handelskammer hofft, daß die von ihr mitgeteilten Zahlen dazu beitragen werden, die Berechtigung, eine Beschränkung der Kirmessen und Schützenfeste in ihrem Bezirk herbeizuführen, von neuem klarzulegen und den einschlägigen Bestrebungen der Kammer zu dem erwünschten Erfolg zu verhelfen.
Gegenüber diesem immer mehr um sich greifenden sozialen Uebel des rheinisch=westfälischen Industriebezirks scheinen nun dessen wirtschaftliche Körperschaften ernstlichere Maßregeln ergreifen zu wollen, wie aus einem Rundschreiben heivorgeht, das dieser Tage der Verein der Industriellen des Regierungsbezirks Köln an die Handelskammern und wirtschaftlichen Vereine von Rheinland und Westfalen versandt hat. Er regt darin den Gedanken gemeinschaftlicher Schritte an, da er sich von einem einheitlichen und gemeinsamen Vorgehen gegen das Kirmes= und sonstige Festunwesen mehr Erfolg verspricht als von den vereinzelten Schritten wirtschaftlicher Körperschaften in den durch den beregten Mißstand hauptsächlich betroffenen Ortsbezirken. Man kann dieser Anregung nur eine volle Wirkung im Interesse unserer Arbeiterschaft und Nationalwirtschaft, wie auch der Sittlichkeit wünschen. Denn diese leiden alle unter dem Uebermaß der öffentlichen Feste und unter ihrer Ausartung zu Stätten der Völlerei und anderer Rohheiten, durch die der Volkscharakter verdorben und der Volkswohlstand geschädigt wird.
Berlin, 2. September.
— Am 3. September waren es 25 Jahre, daß Kaiser Wilhelm I. an Papst Pius IX. jenen bekannten Brief schrieb, in welchem er dessen Anspruch, daß„jeder, welcher die Taufe empfangen hat, in irgend einer Weise dem Papste angehöre", mit unmißverständlichen Worten würdig zurückwies: „Der evangelische Glaube, zu dem ich mich, wie Eurer Heiligkeit bekannt sein muß, gleich meinen Vorfahren und mit der Mehrheit meiner Unterthanen bekenne, gestattet uns nicht, in dem Verhältnis zu Gott einen anderen Vermittler als unseren Herrn Jesum Christum anzunehmen". In demselben Schreiben findet sich auch ein Urteil des Kaisers über das Zentrum:„Zu meinem tiefen Schmerze hat ein Teil meiner katholischen Unterthanen seit 2 Jahren eine politische Partei
organisirt, welche den in Preußen seit Jahren herrschenden konfessionellen Frieden durch staatsfeindliche Umtriebe zu stören sucht. Leider haben höhere katholische Geistliche diese Bewegung nicht nur nicht gebilligt, sondern sich ihr bis zur offenen Auflehnung gegen die bestehenden Landesgesetze angeschlossen.“
— Die Ursachen des Kulturkampfs. In seiner neuesten Veröffentlichung erzählt Busch über die Veranlassung zum Kulturkampfe und die Stellung Bismarcks zu demselben:
„Der Kanzler nahm in dem Streite nur die Stellung eines sich notgedrungen Verteidigenden ein. Er verhehlte sich die Schwierigkeiten, die jeder Kampf der weltlichen Macht mit der geistlichen hat, durchaus nicht und wies anfänglich das Ansinnen, sich an diesem zu beteiligen, beharrlich von der Hand. Wenn er schließlich doch mit eingriff, so bewog ihn dazu nicht das neue Dogma von der Unfehlbarkeit des römischen Pontifex und überhaupt kein Gegenstand dogmatischer Natur, sondern etwas völlig anderes, ein vorwiegend politischer Vorgang: die Unterstützung der polnischen Propaganda im Osten Preußens, die von der römischen Priesterschaft betrieben und von der katholischen Abteilung im Berliner Kultusministerium nach Kräften gefördert, bedenkliche Erfolge gehabt hatte und mit gefährlichen Fortschritten drohte. Hiergegen schritt er— sicherlich auch mit einem Blick auf Rußland, das sein Interesse in Polen von gleichen national=klerikalen Ränken unterminirt sah und in dem deutschen Kanzler hier von neuem den natürlichen Bundesgenossen erblicken mußte— entschlossen ein, indem er den Antrag auf Beseitigung jener staatsgefährlichen Behörde stellte und diesem den ferneren auf Einführung der weltlichen Schulaufsicht folgen ließ. Endlich hat er auch die Verfassungsveränderungen angeregt. Dagegen ist seine Beteiligung an den eigentlichen Maigesetzen nur eine passive gewesen, und ich habe bei wiederholten Anlässen von ihm selbst vernommen, er habe, als diese Maßregeln nachträglich zu seiner Kenntnis gelangt seien, sofort starke Zweifel an ihrem Werte und an ihrer Durchführbarkeit geäußert.“
Die„Germania“ thut gewaltig erstaunt über diesen „neuen Grund“, für den Kulturkampf. Sollte ihr die Darstellung von Busch wirklich etwas völlig neues sagen? Daß die Unterstützung der polnischen Agitation durch die katholische Geistlichkeit und der daraus zu erklärende Rückgang des Deutschtums im Posenschen mindestens ein wesentlicher Anlaß für den Rücktritt des Kultusministers v. Mühler wie für die veränderte Stellung der preußischen Regierung zur Politik der katholischen Kirche überhaupt gewesen ist, das könnte die„Germania" nachgerade in jedem Geschichtswerk nachlesen. Die damalige Situation in den ehemals polnischen Landesteilen hat eben der preußischen Regierung hoffentlich endgültig die Augen über den Charakter des Ultramontanismus geöffnet.
h Unter dem Vorsitz des Reichskommissars für die Welt=Ausstellung in Paris, Geh. Regierungsrats Dr. Richter, hat am 27. v. Mts. eine Sitzung des Arbeits=Ausschusses der kunstgewerblichen Kom
32)
Die Herren von Krischacken.
Roman von Herbert Fohrbach.
—[Nachdruck verboten.]
Er schob ihr das mit Kognak gefüllte Weinglas hin, und Erna leette es, die Augen schließend, auf einen Zug. Als er ihr krampfhaftes Husten hörte, in welches sie nach dem Genuß des ungewohnten Getränkes ausbrach und das ihren schwachen Körper heftig erschütterte, beugte er sich zu ihr hinüber und sah ihr grinsend in das blasse, verzerrte Gesicht.
„Ach, wie schlecht versteht sich doch mein Schwiegertöchterchen aufs Trinken!“ sagte er.„Hahaha! Sie prustet wie eine Katze, die sich aus dem Wasser, in welches sie gefallen ist, mühsam ans Ufer rettete. Nun, trinken Sie noch ein Gläschen? Sie werden sehen, daß Ihnen der Kognak jetzt schon viel besser
bekommt!“.. 24 mkri: Rammest
„Nein, heute nicht— heute nicht mehr!“ stammelle Erna, nach Atem ringend.„Ein andermal, morgen, wenn Sie wollen, nur jetzt nicht!“
Er lachte noch immer.
„Nun, so gehen Sie! Aber ich nehme Sie beim Wort, hören Sie? Morgen trinken wir wieder zusammen! Gute Nacht! Her mit dem Pätschchen So! Ein mageres Händchen, aber von aristokratischer
Form!“
Sie machte sich rasch frei und verließ, beinahe
laufend, nach kurzem Gruß das Gemach.
„O, es war entsetzlich!“ klagte sie Frau Donalies, als sie das Wohnzimmer erreicht hatte.„Nie mehr überschreite ich seine Schwelle, nie mehr! O, warum hat Heinz mich nur hier gelassen?“
Allmählich erst gelang es Frau Anna, die Aufgeregte zu beruhigen, und Erna suchte ihr Lager auf. Allein noch während der Nacht stellte sich infolge des gehabten Schrecks und der Aufregung ein heftiges Fieber ein, welches sie tage=, ja, wochenlang an das
Beit fesselt..„ I. G. S2s. Cr.4
„Bringt mich fort! klagte bie Kranke beinahe unausgesetzt.„Ich kann hier nicht bleiben! Ich fürchte mich! Ich muß sterben, wenn ich nicht fort darf!“ Frau Donalies sandte Depesche auf Tepesche an
Heinz, aber erfolglos; er kam nicht. Dafür traf jedoch statt seiner ein Brief ein, in welchem er seiner Mutter mitteilte, daß er, um seine Verhältnisse besser zu gestalten, gespielt und alles verloren habe und deshalb Berlin nicht verlassen könne, bevor ihm die „chère maman“, nicht das nötige Reisegeld schicke.
Frau Donalies war der Verzweiflung nahe. Daß sie von ihrem Gatten auch nicht einen gebogenen Heller bekommen würde, wußte sie, und sie dachte schon daran, einen Teil ihres Schmuckes zu veräußern, als sie sich noch rechtzeitig erinnerte, daß Minchens Mittel noch nicht erschöpft waren, und wirklich gelang es ihr, das alte Fräulein zur Herausgabe ihrer letzten Ersparnisse zu bewegen.
Das Geld wurde abgeschickt, und wenige Tage später traf von Heinz eine Depesche ein, in welcher er sich nach Ernas Befinden erkundigte. Als die Antwort lautete:„Es geht ein wenig besser," sandte er einen Brief, in welchem er sich für die Geldsendung bedankte und gleichzeitig erklärte, daß er nur dann nach Krischacken kommen werde, wenn Ernas Zustand ein bedenklicher sei. Andernfalls würde er es für eine unverzeihliche Dummheit halten, mit Reisen den Notgroschen zu vergeuden. Er hatte einzig wieder einmal in seiner gewohnten Weise manöverirt und keine innere Stimme warnte ihn vor dem Ende vom Liede
13.
Wilhelm war noch immer nicht dazu gekommen, Busses Wunsch erfüllen zu können, denn Frau Donalies hatte ihm seine Bitte, den Kleinen für ein paar Stunden seiner Obhut anzuvertrauen, damit er ihn nach dem Kirchdorf mitnehmen könne, einfach rundweg abgeschlagen, und an Erna konnte er sich nicht wenden, weil sie noch immer das Zimmer hütete.
Endlich, an einem hellsonnigen Julitag, verließ die Kranke zum erstenmal wieder das Haus. Bleich und verfallen wankte sie, auf Minchen und ein Mädchen gestützt, ins Freie und ließ sich in dem Blumengärtchen an der Giebelseite des Hauses auf eine Bank nieder.
Wilhelm, der gerade vom Felde nach Hause zurückkehrte, sah sie von der Landstraße aus und suchte sie sogleich auf.
Höflich grüßend, trat er auf sie zu und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
„O, es geht mir schon besser, schon sehr viel besser!“ versicherte sie ihm eifrig mit ihrer bedeckten, beinahe tonlosen Stimme.„Die Sonne thut mir wohl. Sie werden sehen, in vierzehn Tagen bin ich völlig wiederhergestellt!“
„Ja, das glaube ich auch,“ sagte er und seine sonst hart und kalt klingende Stimme war weich und teilnahmsvoll, während er aufmerksam ihr Gesicht betrachtete, welches bereits die Züge einer Sterbenden trug.„Ich komme als Bittender zu Ihnen!“ fuhr er gleich darauf fort.
„Sie?“
Sie blickte ihn ungläubig lächelnd an.
„Ja, das heißt, eigentlich bitte ich nicht für mich!“ verbesserte er sich.
„Das habe ich mir denken können!“ meinte Erna. „Menschen, wie Sie, bitten nicht, wenigstens nicht für sich!“
„Würden Sie mir wohl Ihr Söhnchen für ein paar Stunden anvertrauen?" fuhr er, ohne ihren Einwurf zu beachten, fort.„Fräulein Suttkus möchte den kleinen Burschen gern einmal sehen!“
„Fräulein Suttkus?" wiederholte Erna.
„Ja!“ antwortete er.„Damals, als Sie noch mit Heinz verlobt waren, wohnte die Dame mit ihrem Vater auf dem Nachbargute Abschruten. Jetzt steht sie allein da und hat sich in dem Kirchdorfe E. angekauft.“
„Abschruten?“ Erna legte die Hand an die Stirn. „Ach, ja, richtig,— ich besinne mich! Ich war einmal mit Heinz nach dem Abschruter Walde geritten, — mir ist es, als ob hundert Jahre darüber vergangen seien! Aber warum will Fräulein Suttkus eigentlich meinen Kurt sehen?“
„Vermutlich, weil sie Kinder gern hat, und dann ist sie ja auch mit unserer Familie gewissermaßen verwachsen und nimmt daher an allem, was uns angeht, sei es Freude, sei es Leid, innigen Anteil!“ suchte Wilhelm zu erklären.„Heinz und ich sind mit ihr durch Feld und Wald getollt, damals, als sie noch in kurzen Kleidern und Hängezöpfen umherlief, und
auch später haben wir in Busse stets eine Schwester gesehen.“
„Ah, eine Schwester!“ Erna lächelte.„Ist diese Busse eigentlich hübsch?“ forschte sie.„Ich vermag mich selbstverständlich ihrer nur sehr dunkel zu erinnern, da sie mir nur einmal im Leben vor Augen gekommen ist.“
„Ich weiß kein lieberes Gesicht auf der Welt, als das ihre!“ erwiderte Wilhelm fast überhastig.
Erna kniff leicht die Augen zusammen und blinzelte ihn an.
„Aber warum nehmen Sie denn Fräulein Suttkus nicht zur Frau?“ fragte sie mit der ihr eigenen, leicht verletzenden Dreistigkeit.
„Ich sagte Ihnen doch bereits, daß ich in Busse nur eine Schwester sehe!“ kam es stockend über seine Lippen.„Und dann— liebt sie mich auch nicht!“
„Woher wissen Sie das?“ fragte sie.„Haben Sie Busse danach gefragt?“
Er runzelte die Brauen, als er sah, wie sie bei ihrer Frage lächelte, und sie fuhr, schneller sprechend fort:„O, zürnen Sie mir nicht! Ich wollte Sie nicht verletzen! Sie lieben diese Busse also nur wie eine Schwester! Und Heinz? Hat er sich nie wärmer für die schöne Nachbarin interessirt? Aber Sie werden mir ja doch nicht die Wahrheit sagen!“ fügte sie gleich darauf hinzu.„Nun, wenn er sie wirklich einmal geliebt hat, so kann aus den beiden ja am Ende doch noch ein Paar werden,— wenn ich gestorben sein werde!“
Ihr Blick verschleierte sich und ihre Stimme erlosch. Wilhelm fühlte, wie sich ihm das Herz in der Brust zusammenkrampfte, und gewaltsam nach Atem ringend, stieß er erregt hervor:„Sie werden nicht sterben! Sie dürfen nicht sterben!“
Es traf ihn ein erstaunter Blick.
„Aber was geht denn nur mit Ihnen vor?“ fragte sie mit leichtem Spott.„Früher beachteten Sie mich nicht mehr, als ein Hälmchen Stroh, und jetzt sind Sie auf einmal in wahrhaft rührender Weise für mein Wohl besorgt!“
(Fortsetzung folgt.)