UUBILAUMSNUMMER DES VÖLKSBLATTS · DETMOLD 1930
VORKANPE.
VOLKSBLATT
Von Carl Schreck
Mitglied des Reichstags
Zu den Gebieten unsers Bezirks, in denen schon frühzeitig sich Anfänge der sozialistischen Bewegung zeigten, gehört Lippe. Vor allem erfolgte in den Orten ein Zusammenschluß, in denen Tabak verarbeitet wurde. Deshalb finden wir heute auch die größte Zahl unsrer Veteranen in Lemgo, Schötmar und Oerlinghausen. In der„Residenz' Detmold kam die Bewegung viel später auf.
Das gilt auch für jene Gegenden, wo die Wanderarbeiter ihre Heimstätte hatten. Sie waren sehr schwer für die soziistischen Bestrebungen zu interessieren,— Jahr in der Fremde waren. Dort blieben sie eben meist isoliert, da sie in Baracken hausten, die gleich mit den Betrieben verbunden waren. So wurden sie vom Pulsschlag des industriellen und sozialen Lebens wenig berührt. Da nur die Art der Seßhaftigkeit wechselte, blieben sie konservativ.
Darauf war es mit zurückzuführen, daß die„Volkswacht“, die am 1. Juli 18o— also vor bald 50 Jahren— herausgebracht wurde, nur einen kleinen Leserkreis fand. Die Aufrüttelung und Aufklärung mußte sich daher in der Hauptsache auf das gesprochene Wort stützen. Gerade weil der Winter den Zieglern und Maurern viel freie Zeit bescherte, gingen sie gern in Versammlungen. Sie freuten sich sogar besonders, wenn diese recht lange dauerten. Hierfür war die Voraussetzung wieder nur dann gegeben, wenn eine„Käkelei“ zwischen Gegnern stattfand.
Früher trauten sich die Wirte zwar nicht, uns ihre Lokale zu Versammlunngen zur Verfügung zu stellen. Dafür aber waren viele in ihrem Interesse so geschickt, daß sie uns Kenntnis gaben von Versammlungen, die die Gegner bei ihnen angemeldet hatten. Soweit nun Kräfte zur Verfügung standen, wurden diese von uns zu einem Besuch der Gegner veranlaßt. Redefreiheit wurde nicht immer gewährt— in den meisten Fällen aber bekamen wir schließlich ro Minuten zugebilligt. Ohne langes Gebramse gingen wir sofort dazu über, den Gegner anzugreifen und knapp unsere Forderungen und Ziele darzulegen. Diese Art des Auftretens hatte zur Folge, daß wir schließlich in ein und derselben Versammlung das Wort mehrmals erhielten. Die Arbeiter und kleinen Leute verlangten geradezu eine ausgedehnte Debatte. Unsere Darlegungen wurden sehr oft am Schluß mit starkem Beifall bedacht. Die Genossen, die daraus einen Erfolg für die kommende Wahl schlußfolgerten, sahen sich später stets enttäuscht. Der Beifall bedeutete nicht Zustimmung zu den Ausführungen, sondern war nur ein Ausdruck der Freude darüber, daß es den anderen mal„ordentlich gesteckt“ war.
Die Haltung der Wähler war zu einem Teil aber auch darauf zurückzuführen, daß es im ganzen Lipperlande höchstens in zehn Orten der Sozialdemokratie möglich war, eigene Versammlungen abzuhalten. Daraus ergab sich von allein schon äußerlich die Pflicht der Beschränkung. Deshalb ist ein Vergleich zwischen damals und heute hinsichtlich der Art der Versammlungen nur in bedingtem Sinne möglich. Heute können alle Richtungen ihre Veranstaltungen treffen. Mit dem Wachsen der Versammlungszahl mußte verbunden sein eine Regelung der Redezeit. Bezüglich des Verlaufs der Auseinandersetzungen ist heute vielfach ein Tiefstand eingetreten, den man früher nicht kannte. Selbstverständlich wurde vor Jahrsehnten eine derbe Sprache geführt— blöder Radau bildete eine seltene und von allen Richtungen verworfene Ausnahme. Dagegen erblickte niemand darin ein unsachliches Verhalten, wenn ich an einem Tage in mehreren
Teilansicht unseres zweiten Maschinenraumes.
FÜR DAS
gerade weil sie viele Monate im
Verssmmlungen der Gegner zu Gast war. Des öfteren habe ich so an einem einzigen Sonntag in acht Orten sprechen können!
Auf Grund der persönlichen Beobachtungen und gestützt auf die bei Wahlen abgegebenen Stimmen, setzte sich immer stärker die Erkenntnis durch, daßs nachhaltiger mit der Druckschrift gewirkt werden müsse. Deshalb wurden mehrfach im Jahre, auch ohne daß Wahlen stattfanden, entsprechende Flugschriften verbreitet. Unter größten Strapazen und vielen Opfern bildeten sich kleine Trupps, die von Dorf zu Dorf und von Hütte zu Hütte strebten. Bei der Verbreitung der Flugschriften wurde mit den Leuten, die ein gewisses Entgegenkommen zeigten, Verbindung angeknüpft. Bald setzte sich auch die Erkenntnis durch, wie wertvoll es sein würde, wenn ständig ein sozialistisches Blatt in die Arbeiterfamilien kommen würde. Die kühne Tat, die 1890 in Bielefeld mit der Gründung der„Volkswacht“ vollbracht wurde, wirkte im Lande der Rose begeisternd nach. Ueberall wurde versucht, diese Zeitung einzuführen. Leider wuchs die Zahl der Orte, in denen dies geschehen konnte, ebenso langsam wie die der Leser überhaupt.
Der Aufstieg ging schneller vor sich, als es zu Beginn des neuen Jahrhunderts gelang, den lippischen Teil des Blattes auszugestalten. Noch besser wurde die Entwicklung von jener Zeit ab, in der Genosse Drake eine ständig zunehmende Mitarbeit leistete. Vielleicht gerade deshalb trat der Wunsch nach einem eigenen lippischen Blatt immer stärker hervor. Die Parteileitung, die bis rgo8 in Lemgo saß, nahm oft genug zu der Frage Stellung, ohne eine richtige Lösung finden zu können. Erst als der Krieg zusammenbrach und als Abschluß der revolutionären Welle die Republik erstand, konnten im Freistaat Lippe die Voraussetzungen geschaffen werden, die nicht nur die Gründung des„Volksblatts’ ermöglichten, sondern auch dessen Bestand sicherten.
Manche von denen, die heute leichthin große Anforderungen stellen, können sich keine Vorstellungen machen von den Schwierigkeiten, die ein kleiner, aber entschlossener Vortrupp— neben wichtigen Aufgaben in der Revolution— zu überwinden hatte. Der Nachwuchs ist zwar berechtigt, das Erbe anzutreten, er wird es aber nur besitzen und vermehren können, wenn er nie vergißt, das Gesetz der gegebenen Größe zu beachten. Gerade der Sozialist muß wissen, daß er von der Stunde nie mehr verlangen darf, als sie zu geben in der Lage ist. Dann gibt es keine Enttäuschung, sondern immer nur ein, manchmal vielleicht langsames, aber doch tatsächliches Schreiten nach vorwärts und aufwärts.
Eine Anerkennung für die frühere Aufbauarbeit bedeutet nicht ein Beharren, sondern ein Werten unserer Kräfte. Weil heute so manches für selbstverständlich hingenommen wird, liegt darin die Gefahr, daß sowohl die Erfolge als auch die Pflichten im Kampfe verkannt werden könnten. Hierin aufklärend zu wirken und eine starke Erziehungsarbeit zu leisten, gehört zu den wertvollsten Aufgaben des„Volksblatts“: Dann werden auch die ökonomisch-politischen sowie die kulturell-geistigen Abhandlungen eine größere Wirkung bekommen. Die Jungen müssen von den Leistungen der Alten lernen. Sie werden das um so freudiger tun, wenn sie sich stets daran erinnern, daß sie sehr bald auch zu den Aelteren gerechnet werden. Das gilt nicht zuletzt für die Mädchen und Frauen, die es dem früheren Wirken zu verdanken haben, daß ihnen das politische Staatsbürgerrecht in der Revolution gegeben wurde. Gerade sie sollten ihre Erkenntlichkeit dadurch zum Ausdruck bringen, daß das„Volksblatt“ in ihrem Heim stets einen Ehrenplatz einnimmt.
Als vor ro Jahren die erste Nummer des„Volksblatts“ herausgebracht wurde, gab ich im Geleitwort dem Wunsche Ausdruck, daß es gelingen möge, auch die materiellen Grundlagen so zu sichern, daß die Führung im Kampfe unerschütterlich bleibe. Nach sechs Wochen kam der KappPutsch! Vom Kranken! ger gab ich die Parole auch dem„Volksblatt“, die da lautete: Auf die Schanzen! Trotz aller körperlichen Behinderungen befolgte ich sie natürlich selbst und dank der energischen Haltung unserer Presse gelang es, die Massen zu jenem entschlossenen Handeln zu bringen, durch das der Spuk beseitigt wurde. Solcher zeigt sich in unserer Zeit wieder in manchen Gegenden. Wenn das„Volksblatt“ dem entgegenwirkt, durch die Pflege stärkster Pflichterfüllung aller Sozialisten dann erfüllt es in höchstem Maße seine Aufgaben. In diesem Sinne verbinde ich meine Gratulation zum Geburtstage mit dem Wunsche auf weitere Erfolge, die begründen helfen den Sieg des demokratischen Sozialismus
Blick in die Handsetzerei.