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Nr. 219.
Dienstag, den 19. September
1899.
Tages=Ereignisse.
Deutschland. Berlin, 18. Sept. Orientalische Unverschämtheit. Das im Verlage von Rudolf Mosse als Beilage zum Berliner Tageblatt(Chefredakteur Arthur Levysohn) erscheinende, von Siegmar Mehring redigierte angebliche Witzblatt Ulk hat schon oft durch seine nicht nur das katholische, sondern das allgemeine christliche Bewußtsein verletzenden„Leistungen“ in Wort und Bild sich unrühmlichst hervorgethan. Wir haben, so schreibt die„Germania", uns bisher gesträubt, auf diese jüdischen Preßfrechheiten jedesmal einzugehen, aber die neuesten Leistungen jüdischer Frechheit im Ulk, Nr. 37 vom 15. September, können wir doch nicht ungerügt lassen. Die ganze Nr. enthält in Wort und Bild kaum etwas anderes als flegelhafte Beschimpfungen der Jesuiten usw., welche an dem Mißgeschick des Israeliten Dreyfus schuld sein sollen. Ein Gereimsel hat folgenden Wortlaut:
Die feige That in Rennes.
Entrüstet und empört war alle Welt,
Dem Zahmsten mußte es die Ruhe rauben,
Wenn man in Frankreich solches Urteil fällt,
Wie soll man an der Menschheit Fortschritt glauben?
— Horch! In Rennes die Glocke hallt,
Und sie ruft das Volk zur Messe,
Lumpenpack und Staatsanwalt,
Bürgermädel und Maitresse.—
Wie konnl' solch schreiend Unrecht denn gescheh'n Bei den Verkündigern der Menschenrechte?
Wie fanden sich, den Rechtsbruch zu begeh'n,
Im Land der Freiheit will'ge Henkersknechte?
— Und der Bauer macht sein Kreuz Vor dem Christ und seinen Jüngern.
Aus der Nase ein Geschnäuz Holt er mit denselben Fingern.—
Ist dies das Volk, das in dem Ruhm sich wiegt,
Es hab' die Höhen der Kultur erschwungen?
* Ist dies das tapfre Volk, das selbst besiegt Dem Feinde einst hat Achtung abgezwungen?
— Und das Pfäfflein murmelt leis',
Und es neigt die fromme Glatze, Und des Bäuchleins weiter Kreis Wackelt mit bei jedem Satze.—
Kann so fanatisch eine Rotte sein
Und so vom Wahnwitz sich verwirren lassen?
Wie frißt so tief der gift'ge Haß sich ein!
Wo lernten diese Männer so zu hassen?
— Rechter Hand und linker Hand Ehrt das Völk die Jesuiten.
Der Sutanen schmutz'gen Rand Küssen fromm die Hingeknieten.
19! Rita.
(13. Fortsetzung)
(Nachdruck verboten.)
Mich hungerte nicht, ich sagte, daß ich auf die Rückkehr meines Vaters warten werde und das Mädchen entfernte sich.
Der sehnsüchtige Wunsch, meinem Peiniger zu entfliehen, schien nun in Erfüllung gehen zu wollen. Mein Entschluß, koum gefaßt, wurde schnell ausgeführt. Ich nahmnichts mit, als mein Portemonnaie mit einigen kleinen Münze.
Ich fühlte mich sehr unglücklich, als ich durch die Straßen der Stadt wanderte und das erste frohe Gefühl erlangter Freiheit zerstob, einerseits weil ich fürchtete, mein Stiefvater kör#e mich einholen und zurückbringen, andererseits bereute ich fast, ihm davongelaufen zu sein. Wohin sollte ich?
Ich kannte niemand in der großen, weiten Stadt, gar niemand. Planlos wanderte ich kreuz und quer.
Mich begann zu hungern, ich kaufte in einem Bäckerladen ein Stück Weißbrot und verzehrte es gleich dort, dann setzte ich meine Wanderung fort, bis ich zu einem großen Garten kam. Viel Leute gingen darin hin und her, es schien erlaubt, hier zu lustwandeln, ich ließ mich auf eine der Bänke nieder. Ermüdung beschlich mich, ich schlief ein. Erschreckt fuhr ich plötzlich in die Höhe, mir war, als hätte ich meines Stiefvaters Stimme, als hätte ich den Ruf„Rita“ gehört.
Ich hatte mich getäuscht, mein Auge erblickte ihn nirgends, es mußte mir von iym geträumt haben, aber Dämmerung war indes geworden und die Laternen wurden angezündet, da ward mir bange unter den vielen Leuten, die da ab und zu gingen, ich fürchtete meines Stiefvaters Gestalt plötzlich hervortreten zu sehen, und dieser Gedanke verlieh mir neue Kraft, weiter zu schreiten.
Nicht wußte ich, wohin mich meine Schritte führten, es war mir auch völlig gleich, wie diese oder jene Gasse hieß. Daß ich weit fort von dem Gasthof entfernt war, in dem wir abgestiegen waren, tröstete mich; denn immer mehr steigerte sich in mir die Furcht, den Stiefvater wiederzusehen. Und
Mit banger Trauer sieht der Menschenfreund Zerfallen dieses Volks Kultur=Gefüge.
Einst von der Sonne seines Ruhm's gebräunt,
Erstickt es jetzt im Höllenqualm der Lüge!
Und ein hoher General,
Den noch ein paar Lügen pein'gen,
Läßt sich von Gewissensqual In der stillen Beichte rein'gen.
Es liegt uns fern, das gesamte Judentum für solche jüdische Preßflegeleien verantwortlich zu machen; wir wissen, daß es auch anständige Juden giebt, die solche Unverschämtheiten und freche Verhöhnungen ihrer christlichen Mitbürger auf das Schärfste verurteilen und die uns Dank dafür wissen, daß wir solche Ausschreitungen zur Sprache bringen. Daß wir mit den Leitern vom Ulk uns in eine Polemik einlassen, wird man freilich von uns nicht erwarten können— solche Flegel können nicht erwarten, daß man sie anders als mit Dreschflegeln à la Graf Pückler gebührend behandelt. Aber Redaktion und Verlag des Berliner Tageblatt, die für diese Beilage, wenn auch nicht die preßgesetzliche, so doch die politische und moralische Verantwortung tragen, müssen wir doch mit aller Entschiedenheit darauf hinweisen, daß die jüdischen Preßfrechheiten im Ulk schließlich auch den tolerautesten Menschen mit gerechtem Zorn erfüllen und seine Stellung zur Judenfrage im allgemeinen, besonders inbezug auf das Preßjudentum beeinflussen müssen. Wir erwarten deshalb, daß Redaktion und Verlag des Berliner Tageblatt sofort und entschieden Remedur eintreten lassen, um den Frechheiten im Ulk ein Ende zu machen. Wenn nicht, so werden wir wissen, was wir zu thun haben.
□ Die Unternehmer organisieren sich immer mehr; das ist eine Erscheinung, die man gegenwärtig allgemein beobachten kann. In anderen Ländern waren diese Organisationen schon weiter vorgeschritten als in Deutschland; jetzt sucht das Unternehmertum dieses letztern das Versäumte nachzuholen. In Berlin soll nunmehr ein ständiges ArbeitgeberCentralbureau eingerichtet werden, und zwar wird von diesem gesagt, es solle„ein geschlossenes Vorgehen der Unternehmer der verschiedenen Brauchen ermöglichen angesichts der fortwährenden Streiks in Berlin". Verschiedene Ausstände des letzten Sommers sollen nur deswegen erfolgreich gewesen sein, weil sie die Arbeitgeber unvorbereitet und uneinig antrafen, jetzt aber will man„einen Mittelpunkt bilden für die Vertretung der Interessen der Arbeitgeberschaft und den Zusammenschluß in diesen Kreisen nach Kräften fördern". Natürlich müssen Unternehmer wie Arbeiter die gleiche Koalitionsfreiheit haben, und niemand kann es im Ernste den Unternehmern
verargen, wenn sie von dieser Koalitionsfreiheit im vollen Umfange zum eigenen Besten Gebrauch machen. Nur sollte man niemals vergessen, daß da, wo hüben und drüben Interessen=Verbände mauerartig sich zusammenschließen und auftürmen, auch die geeigneten Vermittelungsämter in ausreichender Zahl vorhanden sein müssen, um versöhnend und ausgleichend bei. Streitigkeiten einzugreifen. Bis jetzt sind diese Vermittelungsstellen durchaus noch nicht in hinreichender Zahl vorhanden; und sollte durch den Reichstag nicht dem Centrumsantrage entsprechend diese Lücke wenigstens einigermaßen ausgefüllt werden, dann rückt die Gefahr immer näher, daß wir gelegentlich zu gleich unerquicklichen und gleich gefährlichen und schädlichen Streitigkeiten kommen, wie soeben erst eine solche in Dänemark nach viermonatlicher Dauer beigelegt worden ist, nachdem sie den Unternehmern Schaden und vielen Arbeiterfamilien großes Elend gebracht hat.
Oesterreich=Ungarn. Wien, 15. Sept. Der„Ritualmord“ in Polna. Neben dem Dreyfusprozeß beschäftigt der sogenannte„Ritualmordprozeß" in Polna jetzt unsere öffentliche Meinung parteimäßig. Semiten= und Antisemitenblätter sind gefüllt mit endlosen, stellenweise recht unsaubern Berichten und Darstellungen über den Mord eines 19jährigen Mädchens im„Brezina=Walde" bei der tschechischen Stadt Polna. Mit besonderm Behagen drucken die antisemitischen Blätter die Anklageschrift ab und wälzen sich mit ihren Lesern förmlich im Kot, aber anderseits haben die Juden den Fehler gemacht— wenigstens anfänglich—, daß sie den von der Anklage als Mörder bezeichneten Strolch, einen 23jährigen Taugenichts Namens Hilsner, weil er ein Jude ist, zu sehr in Schutz nahmen. Ein Wiener jüdischer Verein sammelte 5000 Gulden, um ihm einen Verteidiger zu bestellen. Flugs„gewannen“ deutsche und tschechische Antisemiten den Parteiführer der radikalen Tschechen Dr. Baxa, der heute vor dem Kuttenberger Kriegsgericht auch in tschechischem National=Phantasie=Kostüm auftrat als Ankläger, das heißt als Privatvertreter der Mutter des Ermordeten. Dr. Baxa führt das Wort für den Antisemitismus, teils des Ruhmes wegen, teils gegen ein„Ehrengeschenk“ der Antisemiten im Werte von 1000 Gulden. Drei lange Bänke des Schwurgerichtssaales sind mit Journalisten gefüllt, darunter sogar Vertreter französischer Antisemitenblätter, und der an sich nicht sehr bedeutsame Prozeß um einen Mädchenmord wird zum Tummelplatz toller Parteileidenschaften. Die Anklageschrift scheint von der Idee des„Ritualmordes“ auszugehen, und zwar geleitet und bedingt durch das„gerichtsärztliche“ Gutachten zweier in Polna lebender Aerzte Namens Dr. Michalek und Dr. Prokesch, die ihrerseits wieder durch die von dem Ankläger sehr hochachtungsvoll behandelte„Volksstimme von Polna" beeinflußt sein mochten. Das 19jährige„bildschöne Bauernmädchen“. Agnes Hruza, die täglich durch den Brezina=Wald zur Stadt Polna wandert, wird am 29. März im Walde ermordet. Die„Volksstimme von Polna“ bezeichnet den in der dortigen Judenstadt lebenden beschäftigungslosen jungen Strolch Leo Hilsner als den Thäter, dem auch andere Ueberfälle auf weibliche Personen in der Umgebung von Polna zur Last gelegt werden. Die Polizei sammelt beachtenswerte Verdachtsgründe gegen Hilsner. Die„Volksstimme“ in Polna kommt ihr in anderer Richtung zu Hülfe: man
immer dämmeriger ward es, immer dämmeriger und mir versagten endlich die Füße den Dienst.
Ich sah vor einem Gebäude eine Laterne brennen, auf dem roten Glase standen in weißen Lettern die Worte: „Gasthof zum Kometen". Gewohnt viel zu reisen und häufig einzukehren, faßte ich einen Entschluß, trat unter das Thor und begehrte ein Zimmer, um zu übernachten.
Da fiel mir bei, ich müsse meinen Namen in das Fremdenbuch eintragen lassen, und wenn der Portier mich darnach fragte, was sollte ich antworten?„Felic Gingliette, nein, es konnte der Stiefvater mir auf diese Weise auf die Spur kommen, ich mußte einen Namen erfinden, unter welchem er mich nicht vermuten konnte, im Falle er Forschungen nach mir anstellen sollte.
Vor dem Gasthofe stand ein Gefährt, an welchem zwei Pferde vorgespannt waren, ein Schimmel und ein Fuchs.
Der Kutscher war abgesprungen und streichelte die Tiere. „Ruhig Fuchs“, sagte er, als der letztere ungeduldig mit dem Hufe scharrte,„ruhig
Mich durchzuckte es, da war nun gleich ein Name gefunden, und noch dazu ein sehr gewöhnlicher.
Der Portier, welcher eben mit dem Kutscher gesprochen, wandte sich zu mir, fragte mich, wo ich mein Gepäck hätte.
„Unterwegs“, gab ich zur Antwort. So hatte mein Stiefvater oft gesagt, und nun ersuchte mich der Mann, ihm meinen Namen, meinen Stand, woher ich gekommen, zu nennen.
„Stephan Fuchs, Student aus Breslau", sprach ich mutig und folgte dem vorangehenden Aufwärter die Treppe hinauf.
Ich trat in das einfach möblierte Gemach, welches man mir auf mein Begehr angewiesen und sah mich dort ganz allein.
Anfangs empfand ich ein süßes Gefühl, das Gefühl der Ruhe, der Abgeschiedenheit, des Entferntseins von meinem Peiniger. Ich schloß die Thüre ab, legte mich auf das Sofa und sah vor mich hin. Irgend etwas mußte in meiner Seele vorgegangen sein, während ich da stille lag, was es
aber war, ich weiß es nicht, ich war mir nur eines stumpfen, dumpfen Dahinbrütens bewußt.
Indessen war es im Hause sehr lebendig geworden, ich hörte ein beständiges Ab= und Zugehen, den Lärm verschiedener Stimmen, endlich ergriff jemand die Klinke meiner Thüre, aber, wie froh war ich, daß ich zugeschlossen hatte, es konnte Niemand mich hier überfallen.
Ich hatte früher von dem Aufwärter eine Flasche Wein begehrt und erquickte mich nun daran. Für den Moment kühlend und dann gleich darauf wieder mein Inneres erwärmend, war der Trank in meine Kehle hinabgelitten.
Mit dem Trank kam erneute Kraft in mich, aber mit ihr erwachte auch die Verzweiflung, welche Ermüdung in Bande geschlagen hatte. Das Schreckliche„meiner Lage trat klar vor mich hin, was sollte ich beginnen?
Ich war hier fremd in der Stadt, meine ganze Barschaft so gering, daß sie kaum hinreichte, das Obdach einer Nacht und ein frugales Frühstück zu bestreiten. Was sollte nach dieser Nacht mit mir geschehen?
Meine Verkleidung, mir günstig, als ich das Hotel betrat, erschwerte meine Lage von dem Momente, als ich es verließ. Und verlassen mußte ich es mit dem frühesten Morgen. Was sollte ich unternehmen, womit mir Unterhalt verschaffen, an wen mich deshalb wenden? Des männlichen Anzuges konnte ich mich nicht entledigen, weil ich nicht die Mittel hatte, ihn gegen einen für mein Geschlecht passenden zu vertauschen.
Ich sann hin und her. Mir mangelt jede Fähigkeit, etwas zu erwerben, und morgen mußte ich Geld in Händen haben, um nicht zu verhungern; sollte ich auf den Straßen betteln? Wer hätte dem jungen anständig gekleideten Manne eine Gabe gereicht? Sollte ich den Versuch machen, in einen Dienst zu treten? Wie konnte ich es?—
Mir ward immer banger zu Mut, immer banger. Meine Verzweiflung erreichte den höchsten Punkt. Was sollte ich thun, wenn der Morgen begann— was thun?„Könnte ich sterben!“
Dieser Gedanke erfaßte mich mit Allgewalt. Der Tod