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Nr. 194.
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Freitag, 17. Juli 1896(Alexius).
30. Jahrg.
A Die Wahlbewegung in Nordamerika.
Die bevorstehende Präsidentenwahl hat in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eine Bewegung hervorgerufen, wie sie selbst dort, wo man an eine ungemein heftige Wahlagitation gewöhnt ist, bisher kaum bekannt war. Man muß schon auf das Jahr 1860 zurückgreifen, um auf eine Wahl von so großer Wichtigkeit und Erregtheit, vielleicht auch etwas größerer, zu treffen. Aber damals handelte es sich auch um die so ungeheuer wichtige Sklavenfrage, bei der es sich schließlich geradezu um die Erhaltung der Union drehte. Das machte damals allen vorhandenen Parteiunterschieden mit einem Schlage ein Ende und vereinigte die Anhänger der Union auf der einen, ihre Gegner auf der anderen Seite. Die Stimmung wurde dabei bekanntlich derart, daß der blutige Bürgerkrieg die Wahlschlacht ablöste.
Jetzt spielt eine weit prosaischere Frage dieselbe Rolle. wie damals die Sklaven= und Unionsfrage: das Geld. Aber bekanntlich ist der Mensch auch in der Gegend des Portemonnais sehr kitzlich und empfindlich, und beim Geldpunkt hört ganz besonders die Gemütlichkeit auf— und nicht zuletzt beim Yankee. Freilich, wenn bei uns von „Goldmännern" und„Silbermännern" spricht, so sollte man kaum glauben, welche Bedeutung dieser Gegensatz gewinnen kann; aber die Leidenschaftlichkeit, mit der auch in unseren Parlamenten über die Währungsfrage gestritten wird, die Thatsache, daß die gegenseitige Erbitterung sich auch im deutschen Reichstage schon bis zu heftigen persönlichen Beleidigungen und Duellforderungen gesteigert hat, zeigt auch hierzulande dem Laien in der Währungsfrage, wie sehr sich die Gegenparteien darüber aufregen können. Kein Wunder daher, daß in Amerika, wo es sich bei der Entscheidung über die Währungsfrage geradezu um die wirtschaftliche Existenz weitester Kreise und um das ganze Finanzgebäude der Union handelt, bei dem obendrein sehr scharf ausgeprägten Geldsinn der Amerikaner der Gegensatz zwischen Gold und Silber schließlich alle anderen Parteigegensätze über den Haufen wirfl.
Von Alters her, darf man heute wohl sagen, stehen sich zwei große Parteien, Republikaner und Demokraten, einander schroff gegenüber. Bei diesem Gegensatze handelt es sich freilich weit weniger um sachliche Meinungsverschiedenheiten, als um die Machtfrage, welche von beiden Parteien auf eine Reihe von Jahren hinaus alle die einträglichen Aemter vom Präsidenten abwärts bis zum letzten Kanzlisten besetzt. Seit der schutzzöllnerischen Hochflut, die in Mac Kinlev, dem Namen nach wenigstens, ihren Hauptvertreter gefunden hat, trennte allerdings auch noch die Zollpolitik die beiden großen Parteien: die Republikaner unter Führung von Männern, unter denen Mac Kinley seinerzeit den Namen zu dem bekannten Zollgesetze hergegeben, waren Hochschutzzöllner, die Demokraten dagegen teils Freihändler, teils Anhänger eines mäßigen Schutzzolles.
Da in dieser Frage, wie bisher auch in allen anderen, Cleveland ihr anerkannter Führer war, so zog er, als die Republikaner den Demokraten unterlagen, als Präsident in das Weiße Haus zu Washington. Bald aber wurde die demokratische Partei bei allen weiteren Wahlen so geschwächt, daß sie sogar die Mehrheit im Kongresse verlor, und außerdem trug die Währungsfrage Verwirrung in ihre Reihen. Der wirtschaftliche Krach, der in Nordamerika so ungeheure Verheerungen angerichtet hat, brachte die Anhänger der Silberwährung und der freien Silberprägung hoch, welche darauf ausgehen, die beim Auslande gemachten Schulden statt in Gold in dem seit lange im Werte tief gesunkenen Silber— von dem überdies Amerika selbst eine Menge hervorbringt— bezahlen zu können. Besonders die Demokraten wurden fast aue Anhänger des Silbergelds, nur ihr Präsident Cleveland stellte sich mit einem kleinen Anhange der Silberpartei hartnäckig entgegen. Darum haben jetzt die Demokraten statt Clevelaud einen Anhänger des Silbers, den als glänzender Redner bekannten Nebraskaer Advokaten Bryan*) als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Bryan ist nur das Werkzeug des sehr radikal
*) Sprich Breien, und den Namen seines Gegners(Mac Kinley) Mek-Kinleh.
gesinnten Gouverneurs von Illinois, Altgeld, der nur deshalb nicht als Bewerber um die Präsidentschaft aufgetreten ist, weil er geborener Deutscher ist, während die Verfassung vorschreibt, daß nur ein in Amerika geborener Bürger Präsident werden kann.
Auf der Gegenseite, bei den Republikanern, hat die Goldpartei gesiegt und Mac Kinley als Kandidaten aufgestellt. Damit ist aber die Präsidentschaftswahl, wenn auch die Republikaner jetzt etwas stärker sein mögen, als die Demokraten, noch keineswegs zugunsten des Goldes entschieden. Denn etwa ein Drittel der Republikaner steht auf der Silberseite und wird bei der Wahl allem Anschein nach für den„Silbermann" Bryan stimmen. Allerdings wird dafür wohl auch die Goldwährungsgruppe unter den Demokraten für den republikanischen„Goldmann" stimmen; aber erstens ist diese Gruppe wohl kaum so stark wie die silberfreundliche Minderheit der Republikaner, und zweitens werden auch die„Populisten", eine neuere Parteibildung von agrarisch-socialistischer Färbung, für den Kandidaten des Silbers eintreten. Die Populisten brachten bei den Nationalwahlen von 1892 von insgesamt 12 Millionen eine Millionen Stimmen auf und dürften inzwischen noch gewachsen sein; man muß also immerhin mit ihnen rechnen.
Die Aussichten erscheinen daher auf beiden Seiten ziemlich gleich. Im übrigen ist aber auch zu beachten, daß die Volksstimmung gerade in Amerika häufig in der unberechenbarsten Weise umgeschlagen ist. Jede Vorausberechnung für die erst im November stattfindenden Nationalwahlen ist daher heute ganz unmöglich. In jedem Falle ist das Ergebnis ungeheuer wichtig nicht nur für die Vereinigten Staaten selbst, sondern auch für die mit ihm handeltreibenden Völker Europas, besonders auch für Deutschland. Der Sieg der Silberpartei wäre für Europa ein schwerer Schlag, aber— wie wir glauben— auch für Amerika kein Segen.
Deutsches Reich.
Berlin, 16. Juli.
* Der Kronprinz von Schweden wird an den diesjährigen Kaisermanövern in Schlesien teilnehmen. Er wird das in Bromberg garnisonierende Dragoner=Regiment Nr. 3, dessen Chef er ist, dem Kaiser beim Manöver vorführen.
* Vom Komité für den Bau der Centralbahn in Deutsch=Ostafrika war bekanntlich Herr Rindermann entsandt worden, um an Ort und Stelle die nötigen Vorarbeiten vorzunehmen. Derselbe ist laut einem soeben eingegangenen Bericht am 15. Mai mit seiner Karawane wohlerhalten in Tabora angekommen. Die Expedition hat damit ihre Aufgabe erfüllt; in drei Abteilungen hat sie ihre Ermittelungen angestellt und dabei 42 astronomische Ortsbestimmungen bewirkt. Herr Rindermann kehrt von Tabora an die Küste zurück und dürfte im August wieder in Deutschland eintreffen.
* Die Meldung, daß Bebel bei der Staatsanwaltschaft die Forderung gestellt hat, es solle die Bestimmung des Vereinsrechts in gleicher Weise gegen den Bund der Landwirte wie gegen die socialdemokratische Organisation gehandhabt werden, wird vom„Vorw." bestätigt. Der Bund der Landwirte erklärt in der„D. Tgsztg.", er könne getrost den Erfolg der Denunziation abwarten, da die Organisatian des Bundes zwar nicht den Voraussetzungen Bebels, wohl aber den Bestimmungen des Vereinsgesetzes entspreche. Es wäre von Interesse, wenn Bebel die Momente, auf die er sich bei seiner Forderung stützt, der Oeffentlichkeit bekannt gäbe.
* Der Unterstaatssekretär der Südafrikanischen Republik Herr von Boeschoten hat infolge der plötzlichen Erkrankung seines Söhnchens sich von Berlin nach Hamburg begeben. Wie wir von der„Post“ erfahren, hat Herr von Boeschoten über den ungeheuren Aufschwung Deutschlands und insbesondere Berlins während der letzten Dezennien seine Bewunderung ausgesprochen. Auch über die mehrfach von ihm besuchte Gewerbe=Ausstellung äußerte er sich schmeichelhaft.
* Die Stichwahl in Löwenberg ist zu ungunsten der Konservativen ausgefallen: gewählt wurde der freisinnige Rektor Kovic=Berlin mit 5966 gegen 4797 Stimmen, die auf den konservativen Grafen Nostiz=Zobten
entfielen. Die Mehrheit der Freisinnigen betrug also uahezu 1200 Stimmen. Beim ersten Wahlgange am 4. Juli verteilten sich die Stimmen wie folgt: Kopsch 4594, Graf Nostiz 4498, socialdemokratische und zersplitterte 163. Gegenüber dem ersten Wahlgange sind also die freisinnigen Stimmen um rund 1800, die konservativen aber nur um 300 gewachsen.
* Vom Londoner internationalen SocialistenKongreß sind sämtliche Anarchisten ausgeschlossen worden. Infolge dessen werden dieselben einen internationalen Sonderkongreß am 30. Juli in Baden veranstalten. Zu den teilweise sehr berüchtigten Delegierten gesellt sich auch die bekannte fanatische Lonise Michel.
* Ein Knabenseminar beabsichtigt der Erzbischof von Posen und Gnesen zu errichten. Das gab den hiesigen „Neuesten Nachrichten" Anlaß, ihrer Intoleranz öffentlich Ausdruck zu verleihen und Aufschluß darüber zu verlangen, wie der Kultusminister über die Sache denke. Ein treffende Antwort giebt an offiziöser Stebe die„Nordd. Allg. Ztg."; sie schreibt: Der sich in sehr abfälligen Bemerkungen kundthuenden Wißbegier der„N. Nachr." werde es vielleicht genügen, wenn darauf hingewiesen werde, daß nach der kirchenpolitischen Novelle vom 21. Mai 1886 die kirchlichen Oberen befugt seien, Konvikte für Zöglinge, welche Gymnasien usw. besuchen, zu errichten und zu unterhalten, ohne daß es dazu einer besonderen staatlichen Genehmigung bedürfe. Die kirchlichen Oberen hätten dem Kultusminister nur die Statuten und das Verzeichnis der Lehrer einzureichen. Wie also der Kultusminister über die Sache denkt, ist seine Privatangelegenheit und uns gleichgültig; noch gleichgültiger ist uns, was die„N. Nachr." darüber denken. Uebrigens weiß das Blatt doch wohl, daß man an zuständiger Seite den Katholiken genau auf die Finger sieht, so daß es von ihm überflüssig war, sich zum Hüter der protestantischen Interessen in diesem Falle aufzuwerfen.
* Das„Armee=Verordnungsbl." meldet, daß der Stab der 1. Armee=Inspektion durch Kabinettsordre vom 1. Okt. d. I. von Hannover nach Berlin verlegt werde.
* Ein Fall krasser Ausbeuterei wird der„Hilfe“ in Frankfurt a. M. mitgeteilt: Es wird uns ein Knaben anzug gebracht, den die Firma„H. Salomon u. Co., Reichneigrabenstr. 7 hier, Kommandit=Gesellschaft, Herrenund Knaben=Kleiderfabrik" als Musteranzug für Schneiderinnen ausgiebt. Der Anzug ist für 7jährige Knaben bestimmt und hat einen Verkaufspreis von etwa 3 Mark, die Zuthaten von 25 Pfg. Die Arveiterin erhält für den ganzen, sorgfältig zu arbeitenden Anzug 90 Pfg.! Die Arbeit wird von Fachleuten so geschätzt, daß eine durchschnittliche Arbeiterin zu einem Anzuge einen Tag braucht, und daß eine besonders geübte Kraft in zwei Tagen drei Anzüge machen kann, beides nur, wenn von morgens bis in die Nacht ohne Unterbrechung gearbeitet wird. Eine gewöhnliche Arbeiterin verdient also bei Salomon u. Co. in einer Woche 5.40 Mark! Davon soll sie noch Nadeln, Faden und Nähmaschine bezahlen und selber leben! Ist das möglich? Es liegt hier ein Fall vor, der die Verhältnisse in der Konfektionsbranche unheimlich beleuchtet, eine Schande für die Stadt, in der mit solchen Löhnen Kinder angezogen werden.
* Eine häßliche Verleumdung von KatholikenPalästinas findet sich in den Evangelischen Blättern aus Bethlehem Nr. 2, Juli 1896. Dort liest man in einem Aufsatz„Erntezeit" folgendes:
„Die Christen gehören hauptsächlich den griechischen und den römisch katholischen Kirchen an; letztere mit bedeutender Verschiedenheit in manchen Punkten. Was diese zwei Kirchen gemein haben, und das, worüber sie streiten, ist genügsam bekannt. Im Lichte des Wortes Gottes betrachtet(!], ermangeln sie beide gleich dessen, was den christlichen Charakter ausmacht.[!] Eine verdorbene und, mit wenigen Ausnahmen, unwissende Priesterschaft, und eine unwissende, abergläubische, götzendienerische,(!) sinnliche und unsittliche Masse von Mitgliedern machen die Leiche[!] aus, die unter dem Namen Christentum vor die Augen der Moslem gestellt wird. Unter diesen toten Körpern giebt es einzelne, die mit ihrer gegenwärtigen religiösen Lage unzufrieden sind, die ein schwaches Verlangen nach etwas Besserem haben; und sie wissen, daß das bei uns ist, nämlich das Wort Gottes.“
An den Ton dieser Auslassung, so sagt die„Germ.", sind wir nun ja leider aus evangelischen Zeitschriften und
Broschüren schon längst gewöhnt. Was aber die Thatsachen selbst angeht, so hieße es geradezu Eulen nach Athen tragen, wollte man noch näher darlegen, daß gerade der katholische Klerus in Palästina wie im ganzen Orient der Hauptträger und Hauptverbreiter gediegenen Wissens und gründlicher Bildung ist. Die Sittlichkeit der christlichen Bewohner Palästinas aber steht so über allen Zweifel erhaben, daß sie längst sprichwörtlich geworden war, bevor protestantische Missionare mit ihrer Bibelübersetzung und Traktätchen das Land zu„retten" unternahmen. Mit welchen Mitteln die protestantische Mission dort drüben zum großen Teil arbeitet, darüber deckt man am besten den Mantel der christlichen Liebe. Hübsch ist es jedenfalls nicht, wenn man, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, die armen Kinder der katholischen Fellachen den diversen protestantischen Anstalten durch eine täglich fortgesetzte systematische Verleumdung des Katholicismus und speciell des Papsttums von ihrem Glauben abspänstig zu machen sucht. Bei der großen Rolle, die man bei diesem Missionswerk das klingende Geld spielen läßt, könnte es ja nicht Wunder nehmen, daß im einen oder anderen das Verlangen nach „etwas Besserem" sich regte; simmerhin siehen die thatsächlichen Erfolge gottlob in gar keinem Verhältnis zu den enormen Kosten.
* Der Antisemitismus scheint wieder einmal in einer seiner häufigen Krisen zu sein. Aus seinem eigenen Lager kommen Stimmen über die„trostlosen Zustände", so verzweifelt und entrüstet, daß man kaum begreift, wie dieses Gemisch, das sich antisemitische Partei nennt, überhaupt noch so lange zusammenhalten konnte. Der Antisemitismus hat von vornherein laboriert an der Methode und an den Personen. Sobald er als eigene Partei auftrat, war schon sein eigentliches Element das, was der Berliner„Radan" nennt. Maßloße Angriffe auf die Juden in Volksversammlungen und in der Presse, wüstes Geschimpfe und unterschiedloses Schmähen und Verhöhnen aller Juden und alles Jüdischen waren seine Zugmittel. Der Erfolg entspricht nicht dem Radau. Die Männer, die sich an die Spitze der Bewegung stellten, waren zum sehr großen Teile unruhige, nicht ganz einwandfreie Personen. Viele von ihnen sind bereits wieder von der Bildfläche verschwunden, andere werden nächstens verschwinden. Dr. Böckel z. V. hat wohl als Antisemit ausgespielt. Der Reichstagsabgeordnete Ahlwardt wird kaum aus Amerika zurückkehren. Eine ganze Anzahl der Hauptschreier waren bloße Geschäftsantisemiten, die mit dem Antisemitismus Geld verdienen wollten, sei es als Agitatoren, sei es als Kneipwirte, sei es als Zeitungs= und Broschüren=Verleger usw. Friede konnte unter der gemischten Gesellschaft nie bestehen und hat nie bestanden. Schon als sie ein paar Reichstagsmandate erobert hatten, zählten sie so viele Fraktionen wie Abgeordnete. Keiner wollte sich dem andern unterordnen, jeder strebte für sich nach der Volksgunst und dem Geschäftsverdienst und wenn er glaubte, dies am besten durch Angriffe auf den Kollegen erreichen zu können, so griff er ihn an. Wiederholt wurde Friede geschlossen; auf Einigungs=Kongressen schien alles wohlgeordnet zu sein, aber am folgenden Tage brach der Streit wieder aus. Um sich den Anschein zu geben, als sei sie nicht bloß negativ, gab die„vereinigte" Partei sich schließlich den Namen„Deutsch sociale Reformpartei". Als solche ging sie mitt 16 Mann aus den Wahlen von 1893 hervor. Aber diese Wahlen bildeten den Höhepunkt ihres Glückes. Ihre „Reform=Arbeit" begann die Fraktion mit einem kleinen Verrat an den Wählern; diesen hatte man versprochen, gegen die Militärvorlage stimmen zu wollen: als die Herren aber sahen, daß von ihrem Häuflein die Entscheidung abhing, schreckten sie vor der Verantwortung zurück und stimmten mit. Ihre sonstigen Leistungen im Parlament beschränken sich auf Radaureden und auf einige meist undurchführbare Reden oder aussichtlose Initiativ=Anträge, ein Verbot der Judeneinwanderung, Aufhebung des Impfzwanges u. a. In ihrer ganzen Leistungsfähigkeit hat die Fraktion sich am Schluß der eben beendeten Reichstagstagung gezeigt. Diese vorgebliche Mittelstandspartei hat nicht einen einzigen Gedanken, geschweige denn Antrag zu gunsten des Mittelstandes bei Beratung des bürgerlichen Gesetzbuches zu Tage gefördert. Daß in der Fraktion alles
Opfer der Schuld.
Aus dem Holländischen der„Mathilde"(Melati von Java).
Von L. v. Heemstede. 7
Mochte dieser Vater sich während seines Lebens noch so sehr vergangen haben, durch seinen traurigen Tod hatte er schwer genug gebüßt, jetzt hatte er doch ein Recht auf seine kindliche Ehrfurcht, der Arme, Verlassene, Unbekannte, der da im Spital lag, um auf Gemeindekosten begraben zu werden.
Es war schrecklich, aber es war nichts mehr daran zu ändern! Schweigen, schweigen wie das Grab, das war das einzige, was ihn retten konnte— es war eine elende, höchst fatale Geschichte, aber wozu sollte es dienen, die Sache an die Oeffentlichkeit zu bringen?
Der Mann, wer er auch sein mochte, war ja tot, er konnte nichts mehr für ihn thun— nichts, nichts— und doch fühlte er ein fieberhaftes Verlangen, etwas auszuführen, die Zeit wenigstens zur Eile anzutreiben, eine Woche, einen Monat zu überspringen.
Es war ihm zu Mute, als wenn bestimmt irgend etwas sich ereignen müsse, wodurch alles bekannt werden würde — wie, das wußte er selber nicht. So oft die Schelle ging, so oft der Schreiber scheu ins Zimmer trat, meinte er, es müsse irgend eine Botschaft aus dem Spital sein.
Aber es kam nichts, er ging seinen gewöhnlichen Amtsgeschäften nach, es fiel ihm ein, daß er einen Termin außerhalb der Stadt habe und er beschloß, sofort am Nachmittage sich zu entfernen; wenn er heimkehrte, würde der Mann gewiß schon begraben und vergessen sein. Er hatte keine Gelegenheit, vor seiner Abreise unter vier Augen mit Regina zu sprechen— niemand ahnte das Allergeringste. Mit dem Toten sank das drückende Ge heimnis zu Grabe.
Als er zurückgekehrt war, fand er alles beim Altennichts verriet, daß ein Fremder, der sein Vater zu sein vorgab, jemals seinen Weg gekreuzt habe.
Sobald es anging, begab er sich zu seiner Braut. Regina sah ein wenig bleich aus, aber doch war sie erfreut, ihn wieder zu sehen. Sie verlangte, allein mit ihm zu sein;
es war etwas zwischen ihnen, das sie aus dem Wege räumen wollte und mußte.
Als er ihr vorschlug, einen Spaziergang zu machen, erklärte sie sich sofort dazu bereit. Er fühlte sich nicht wenig stolz, sie am Arme zu führen, sie, die das schönste und angesehenste Mädchen der Stadt war, dessen Besitz so Viele ihm neideten und das er mit so großer Mühe errungen hatte; ja dem Himmel sogar hatte er seine Regina abgetrotzt, wie er sich in nicht geringem Hochmut bisweilen sich selber gegenüber rühmte. Erhobenen Hauptes schritt er mit ihr die Straßen entlang, hier und da einen Bekannten mit einem herablassenden Gruß beehrend. Regina sprach über gleichgültige Dinge; ihr Bräutigam war so sehr von seinen eigenen Vorzügen eingenommen, daß es ihm nicht einmal auffiel, wie so ganz anders als sonst seine Verlobte sich ihm gegenüber verhielt.
Erst als sie in der Promenade vor der Stadt waren und Regina eine Weile geschwiegen hatte, fiel ihre Zerstreutheit ihm auf.
„Bilde ich es mir nur ein, oder bist Du schweigsamer als sonst?" war seine Frage.
Sie bedachte sich einen Augenblick, dann sagte sie kurz entschlossen:„Ja, Eduard, das bin ich, und das kommt daher, weil ich etwas auf dem Herzen habe, dessen ich mich entledigen muß."
„So rede doch, liebes Kind! Was giebt es denn? Habe ich etwas verbrochen, oder hat man Dir etwas von mir hinterbracht?"
„Nein, nein! Es ist vielleicht kindisch von mir, aber ich kann es nicht ändern; es ist eine Eigentümlichkeit von mir, daß ich auf alles achte und alles analysiere und dann möglicherweise ganz verkehrte Folgerungen daraus herleite, aber wenn dem so ist, Edy, so mußt Du Geduld mit mir haben."
„Nun, so laß einmal hören, wo thut es Dir weh?"
Er sprach leichthin, fast in spöttischem Ton, sie hatte mehr Herzlichkeit und Sympathie bei ihm erwartet; es machte ihr das Reden noch schwerer.
Endlich faßte sie Mut und fragte ohne Umschweife; „Eduard! Sag' mir die Wahrheit, in welchem Verhältnis standest Du zu jenem Mann?"
„Was für ein Mann?" entgegnete er, auf das Unangenehmste überrascht.
„Jener Mann, Du erinnerst Dich seiner ganz gut, der am Abend unseres Verlobungsfestes erfroren ist, und den Du einen Trunkenbold nanntest—“
„Aber, Regina, wie kommst Du zu diesem Unsinn?" fuhr er zornig auf,„ich weiß nicht, was Dir in letzter Zeit fehlt. Immer wieder dieser Mann— es ist wahrlich zum Uebelwerden!"
„Es thut mir leid, Eduard, wenn ich Dich erzürne, aber alles muß zwischen uns klar sein— sonst fürcht' ich— wird immer etwas Störendes übrig bleiben.“
„Aber was in des Himmels Namen soll denn aufgeklärt werden? Was weiß ich von jenem Unglücksmenschen!"
„Er ist doch bei Dir gewesen am Tage vor seinem Tode, und——"
„Nun, und wenn dem so wäre? Glaubst Du denn, es kämen nicht öfters dergleichen Menschen zu mir?! Was geht Dich jener arme Teufel denn weiter an? Komm, plaudern wir von anderen Dingen, und verderben wir uns den herrlichen Spaziergang nicht mit dergleichen Alfanzereien!"
„Noch einen Augenblick, Eduard! Sag' es mir doch aufrichtig! Er bat Dich um ein Almosen und Du hast ihm die Thür gewiesen?"
„Es ist, als wenn Du mich einem Verhör unterziehst. Nein, ich habe ihn nicht abgewiesen, ich habe ihm Geld gegeben, und es war nicht meine Schuld, daß er es nicht annahm."
„Er nahm es nicht an, dann hat er gewiß etwas anderes gewollt— o Gott! Dann ist es wahr, dann hatte er ein Recht, mehr zu fordern!"
Sie ließ seinen Arm los und wandte ihr Gesicht von ihm ab.
„Regina, was soll das heißen? Meine Geduld hat auch ihre Grenzen. Du behandelst mich wie einen Knaben!"
Aber während er so sprach, war sein Gesicht aschenfarben geworden; das schreckliche Gespenst kam näher und naher und drohte ihn mit den scharfen Krallen zu erfassen.
„Eduard!" fragte sie mit tonloser, trauriger Stimme, „ist es wahr? War jener Mann Dein Vater?"
„Mein Vater, was fällt Dir ein? Wer hat Dir das gesagt?" entgegnete er rauh und heftig.
„Ich habe gehört, daß sein Name de Wal lautete, und dann brachte ich alles mit einander in Verbindung, daß er zu Dir gekommen ist, daß Du nichts von ihm hören wolltest— daß Du— daß Du so bleich wurdest, als Anna Dir erzählte, er sei gestorben.“
Aber de Wal=Felsen hatte seine Selbstbeherrschung wiedergefunden; er vermochte wieder zu lächeln.
„Kind, Kind! Welch eine lebhafte Phantasie Du hast, wie Du Dich davon hinreißen lässest. Nimm an, daß alles wahr ist, daß jener Mann den ganz gewöhnlichen Namen de Wal trägt, daß er zu mir gekommen ist, weil ich die Ehre habe, zufällig sein Namensvetter zu sein, ist das denn etwas so Außergewöhnliches, darfst Du Dich dadurch so aufregen und verstimmen lassen? Komm', sei nicht so sensitiv!" Er legte seinen Arm auf den ihrigen.
„Komm', schau mich an und lache wieder freundlich!"
Aber sie blieb ernst und schüttelte den Kopf.
„Nein, ich weiß mehr, ich habe den Toten gesehen."
Unwillkürlich zuckte Eduard's Arm, der auf dem ihrigen ruhte.
„Welch eine besondere Liebhaberei für ein junges Mädchen, die Leiche eines erfrorenen Vagabunden zu schauen!"
Dieses Wort klang wieder viel zu scharf; entrüstet trat Regina einen Schritt zurück.
„Eduard, das würdest Du nicht sagen, wenn— wenn Du Dich nicht einer Schuld, einer schweren Schuld gegenüber Deinem Vater bewußt wärest!“
„Das ist stark, Regina! Wer beweist mir, daß jener Mann wirklich derjenige war, für welchen er sich ausgab?"
„Ich habe ihn gesehen, wie er im Sarge lag und die Aehnlichkeit mit Dir war treffend!"
„Und haben andere das auch gesehen, andere das auch bemerkt?“
Es war, als wenn in Reginas Innern plötzlich etwas kalt wurde; sie blickte ihn an und fragte sich, wie sie diesen Mann hatte lieben können, wie sie ihn— dem anderen Bräutigam, der sie gerufen hatte, vorziehen konnte?
(Schluß folgt.)