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Dienstag, 17. März 1896(Gertrud).
30.
7 Das Richtergesetz.
Dem preußischen Abgeordnetenhause ist ein Gesetzentwurf zugegangen, welcher das System der Gehaltssteigerung durch Dienstalterszulagen auch auf die richterlichen Beamten ausdehnen will. Dieser Gedanke ist an sich recht gut, und insofern wird daher der Gesetzentwurf kaum eine ernste Anfechtung erfahren. Und doch erhebt sich gegen diese Vorlage von verschiedenen Seiten sehr energischer Widerspruch, und das kommt daher, daß— gerade wie bei der dem Reichstage vorliegenden Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz und zur Strafprozeßordnung— auch hier wieder die Regierung den Versuch macht, eine Machtverstärkung der Staatsgewalt zu erreichen, indem sie darauf abzielende Paragraphen in ein Gesetz hineinschmuggelt, dessen übrige Ziele lebhaft gebilligt werden. Die Regierung denkt sich die Sache so: Die Abgeordneten werden wegen des sauren Apfels die süßen Früchte nicht zurückweisen, sie werden in den sauren Apfel beißen, wenn sie sonst die verlockenden Zugaben nicht bekommen können. Auf diese Weise hofft die Regierung, Maßregeln durchzusetzen, zu denen sie sonst nie die Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften erhalten würde.
So ist es auch bei dem Richtergesetz. In der einen Hand bietet die Regierung die verlockende Gabe der Dienstalterszulagen, in der anderen den sauren Apfel einer Beschränkung des Rechts aller Staatsbürger zu allen Aemtern, zu denen sie ihre Befähigung nachgewiesen haben. Während nämlich jetzt jeder junge Jurist, der die zweite Staafsprüfung bestanden hat, zum Gerichtsassessor ernannt wird und damit die Anwartschaft auf Anstellung im Staatsdienste erhält, will durch die Vorlage die Justizverwaltung sich das Recht verschaffen, die ihr nötig scheinende Anzahl sich auszusuchen und zu„Gerichtsassessoren" zu ernennen, während die übrigen ein Zeugnis und den einfachen Titel„Assessor" bekommen, aber ohne Anspruch auf Anstellung im Staatsdienste. Mögen sie sonst werden, was sie wollen, Rechtsanwälte, Privatbeamte usw., aber Richter können sie nicht werden. Darin liegt ein großes Unrecht für diese jungen Leute, die vielleicht alle Prüfungen mit Glanz bestanden, aber aus anderen Gründen nicht würdig befunden werden zum Richteramte Man will nämlich, wie es in der Begründung des Gesetzentwurfs heißt, diejenigen Assessoren vom Richteramte ausschließen, die ungeachtet ihrer Befähigung und guten Führung doch„nicht die Gewähr bieten, daß sie dasjenige Maß von praktischer Lebenserfahrung, von Takt und Umsicht und von Unabhängigkeit gegenüber ihrer Umgebung besitzen", welches ein guter Richter haben muß. Ganz recht, diese Eigenschaften muß ein guter Richter haben, aber wie will man bei jungen Leuten, die eben erst ihre zweite Staatsprüfung bestanden und vorher als Referendare doch herzlich wenig Gelegenheit gehabt haben, ihre Eigenschaften zu zeigen, ja, die vielfach noch gar keine ausgereiften Charaktere sind, feststellen, ob sie jenes Maß von nötig erachteten Richtereigenschaften besitzen? Dazu müßte man sie doch erst einige Zeit als Assessoren bei der Arbeit gesehen haben. Heute hilft man sich dadurch, daß Assessoren, die nichts taugen, so lange bei den Beförderungen übergangen werden, bis sie einsehen, daß sie in der Richterlaufbahn nicht vorwärts kommen, und daher einen anderen Beruf ergreifen. Und wenn einzelne trotzdem geduldig ausharren, und so schließlich doch zu Richterstellen kommen, ist das denn ein so großes Unglück? Wir geben gern zu, daß der bestehende Zustand kein idealer ist, aber er ist doch noch zehnmal besser als die willkürliche Aus wahl, welche die Vorlage bezweckt. Welche Sicherheit ha ben wir denn, daß bei dieser Auswahl nicht auch politische Rücksichten und religiöse und gesell
schaftliche Vorurteile entsprechen werden? Nein, wir können der Regierung keine Macht in die Hände geben, die sie gar leicht imparitätisch und in Zeiten des Kampfes direkt als Waffe gegen uns benutzen kann.
Konservative und antisemitische Blätter zeigen sich jenem Vorschlage geneigt, weil sie glauben, er sei hauptsächlich gegen die jüdischen Assessoren gerichtet. Wir sind wahrlich auch keine Freunde von jüdischen Richtern, aber da man einmal die Gleichberechtigung aller Staatsbürger in die Verfassung aufgenommen hat, so muß man sich auch daran halten und Vorschläge zurückweisen, die gegen diese Vorschrift der Verfassung verstoßen. Will man die Juden vom Richteramte ausschließen, so muß man die Judenemanzipation rückgängig machen und den christlichen Charakter des Staates verfassungsmäßig wiederherstellen, aber nicht auf Schleichwegen und durch Hinterthüren— das ist des Christentums unwürdig, und darum verwerfen wir jenen Vorschlag in dem Richtergesetze. Wir warnen aber zugleich auch die Antisemiten und Konservativen, sich auf solche allgemeine Bestimmungen einzulassen; denn wenn wieder einmal, wie in den 70er Jahren„liberal" bei uns regiert wird, dann richten sich diese Waffen gegen sie.
Schließlich sei noch bemerkt, daß durch solche Unterscheidung zwischen vollwertigen„Gerichtsassessoren" und minderwertigen„Assessoren", die dann meist Rechtsanwälte werden, der Rechtsanwaltslaufbahn alsbald das Makel der moralischen Minderwertigkeit aufgedrückt werden wird. Und das können sich unsere Rechts anwälte mit vollstem Recht verbitten.
den Parlamenten.
CPC. Berlin, 16. März.
Im Reichstage waren auch heute die Tribünen überfüllt. Es wurde zunächst die Petersdebatte fortgesetzt und zu Ende geführt. Im großen und ganzen handelte es sich heute aber nur um Wiederholungen. Erster Redner war der antisemitische Abg. Werner, welcher Peters ebenfalls verurteilte und zugleich vor uferlosen Flottenplänen warnte. Abg. v. Manteufel(k) tadelte Peters' Verhalten ebenfalls aufs entschiedenste, wenngleich man bis zum Abschluß der Untersuchung vorsichtig sein müsse. Sei Peters Brief an Bischof Tucker echt, dann sei er ein verlorener Mann, an dem kein gutes Haar sei, dann habe er schimpflich gelogen und sei ein gemeiner Mörder. Direktor Dr. Kayser protestiert gegen Bebels vorgestrige Behauptung, daß die Fälle Wehlan=Peters für unsere Kolonialpolitik typisch seien. Bebels Angriff auf seine Person lasse ihn kalt. Redner kam auf Kolonialbeschwerden des Abg. v. Volmar aus dem vorigen Jahre zurück, auf welche letzterer, wie später Bebel erklärte, wohl in dritter Lesung antworten werde. Als Erfolge der Kolonialpolitik führte Redner an: Einschränkung des Sklavenhandels, Förderung des Missionswesens, wirtschaftliche Entwickelung der Kolonien. Abg. v. Kardorff(Rp.) beschuldigte Richter einer vollständigen Negationspolitik und meinte, Peters habe für das Reich mehr geleistet als Richter. Abg. Fürst Radziwill(Pole) wünschte, daß die Kulturaufgaben an die Spitze unserer Kolonialpolitik gestellt werden. Abg. Bebel(Soz.) bezeichnete die günstigen Angaben über die Entwickelung unserer Kolonien als Schönfärberei, führte aus, daß wir in den Augen der Eingeborenen Unterdrücker seien, und daß Peters bei der Regierung nur durch den Einfluß hervorragender Personen gehalten worden sei. Peters habe die Unwahrheit gesagt, als er bestritten, der Bischof Tucker sei zu der angegebenen Zeit nicht in Moshi gewesen.
Abg. Dr. Lieber(C.): Trotz der Mohrenwäsche werde der Mohr nur noch schwärzer. Es bleibe die Hinrichtung der Negerin eine schimpfliche Gemeinheit und das Kriegsgericht eine Geckenfarce. Politische Rücksichten seien für ihn nicht maßgebend, auch nicht die Verdrängung des Prinzen Arenberg aus dem Vorsitz der Kolonialgesellschaft durch Peters. Solche Zustände wie die Petersschen dürften nicht wieder
kehren; aber trotzdem dürften wir auf den Wettbewerb in Afrika nicht verzichten.
Nachdem sich noch Abg. Richter(frs. Vp.) gegen den Vorwurf der negativen Politik verteidigt und Abg. Graf Limbura=Stirnm erklärt, der Reichstag habe nun drei Tage für Dr. Peters Reklame gemacht, wurde endlich die Debatte geschlossen und die Forderungen für die Kolonialabteilung, für Ostafrika, Togo und Kamerun bewilligt.
Morgen Etat für Südwestafrika und Marineetat.
Das Abgeordnetenhaus erledigte ohne erhebliche Debatten eine Reihe kleinerer Vorlagen. Der Gesetzentwurf betreffend Abänderung des Pensionsgesetzes vom 27. März 1872 wurde nach kurzer Befürwortung durch durch die Abgg. v. Schenckendorff(nl.) und Dr. Glattfelter (C.) in erster und zweiter Lesung angenommen.
Die Königliche Verordnung betreffend den Bebauungsplan für Brotterode wurde genehmigt unter Annahme eines Antrages Pappenheim(k.), wonach die Bewilligung einer Staatssubvention der Regierung überlassen wird.
Der Gesetzentwurf betreffend Errichtung einer Generalkommission für die Provinz Ostpreußzen wurde gegen die Stimmen der Konservativen angenommen.
Abg. Frhr. v. Zedlitz(frk.) kündigte für die dritte Lesung eine Resolution an, welche die gesetzliche Regelung der Befugnisse der Generalkommissionen verlangt.
Der Gesetzentwurf betreffend die Aufhebung der Taxordnungen für Aerzte und Zaynärzte wurde ohne Debatte angenommen.
Schließlich wurde noch ein Antrag v. Gilgenheim(k.) auf obligatorische Beschulung taubstummer Kinder einstimmig angenommen, nachdem sich außer dem Antragsteller noch die Abgg. Dietz=Neuwied(ul.) und Wolczyk(C.) für denselben ausgesprochen.
Mittwoch Forsetzung der Besprechung der Interpellatiou Ring; Wahlprüfungen; Petitionen.
Deutsches
Berlin, 16. März.
* Im Reichstage ist zum Gesetzentwurf betr. den unlauteren Wettbewerb folgender Antrag Bauermann(nl.) eingebracht worden: Der Reichstag wolle beschließen, dem§ 9 einen weiteren Absatz beizufügen: Wer einen Angestellten, Arbeiter oder Lehrling zur unbefugten Mitteilung von Geschäfts= oder Betriebsgeheimnissen bestimmt hat, haftet auch für die durch diese unbefugte Mitteilung verwirkte Vertragsstrafe als Gesamtschuldner.
* Infolge der Verhandlungen, in welchen der Reichstag über Dr. Peters den Stab gebrochen, hat sich der Vorstand der deutschen Kolonialgesellschaft, Abteilung Berlin, genötigt gesehen, die Erwartung auszusprechen, daß ihr neuer Direktor Dr. Peters sich von den gegen ibn erhobenen schweren Beschuldigungen reinige, da es selbstverständlich sei, daß nur ein intakter Chararter an der Spitze einer so großen Kolonialabteilung in der Kolonialbewegung stehen könne. Wie der„Nat.=Ztg." berichtet wird, hat Dr. Peters infolge dessen bereits seine Stellung als Vorsitzender niedergelegt und die Einleitung der Disziplinaruntersuchung gegen sich bei dem auswärtigen Amte beantragt. Es will uns scheinen, als ob Dr. Peters mit seinem Antrage der Initiative des auswärtigen Amtes nur habe vorgreifen wollen. Zu verwundern ist nebenbei, daß die Kolonialgesellschaft so gar wenig über die Persönlichkeit ihres Leiters und dessen Vergangenheit unterrichtet gewesen sein will.
* Einen recht interessanten Verlauf nahm die erste öffentliche Versammlung der Freien anarchistisch=socialistischen Vereinigung, welche am Sonntag hier statt hatte. Redakteur Landauer sprach über „Die Forderungen der Anarchie an unsere Zeit." Als er die jetzige Unfreiheit des Menschen beleuchtet hatte und die
Bemerkung machte, daß durch die Autorität des Staates und der Gesellschaft der natürliche Hang zur Freiheit in dem Menschen zurückgehalten werde, erhob sich der überwachende Polizeilieutenant und verhaftete Landauer. Große Erregung! Die Ruhe kehrte erst wieder, nachdem der Verhaftete abgeführt war; damit war aber der Fall für die Versammlung nicht erledigt. Mechaniker Spohr warf sich zum Verteidiger des Abgeführten aus und stellte es als eine berechtigte Forderung hin, daß der Staat Beamte mit der Ueberwachung der Versammlung betraue, welche genügendes Verständnis besäßen. Der überwachende Beamte erblickte hierin eine persönliche Beleidigung und verhaftete nun auch den Mechaniker Spohr. Nach diesen Vorkommnissen darf man die erste öffentliche Versammlung der Anarchisten wohl als eine nicht gerade glückliche bezeichnen.
A Brüssel, 15. März.(Eigenbr. des„D. Vlksbl.") In der Kammer brachte diese Woche der Brüsseler Abg. de Borchgrave die Münzfrage aufs Tapet, indem er die Regierung um Auskunft darüber ersuchte, was sie infolge einer ihr zugegangenen Petition der landwirtschaftlichen Gesellschaft betreffs der eventuellen Einberufung einer internationalen Münzkonferenz zu thun gedenke. Der Interpellant wies auf die jüngsten Verhandlungen des deutschen Reichstages und des englischen Parlamentes hin und stellte die besondere Frage, in welcher Weise die Regierung zur Ausgleichung zwischen dem Gold= und Silberwerte auf dem Münzmarke mitzuwirken beabsichtige. Der Finanzminister de Smet de Naeyer lehnte es ab, auf die eigentliche Prinzipienfrage einzugehen, erklärte vielmehr nur, daß die Regierung die Bedeutung der Münzfrage namentlich für die Interessen der Landwirtschaft keineswegs unterschätze, daß sie aber keinerlei Initiative behufs Einberufung einer internationalen Münzkonferenz übernehmen könne; daß sie dahingegen jedem von irgend einer anderen Macht ausgehenden Schritte zwecks der Lösung der Münzfrage im Sinne der Wiederherstellung eines festen gesetzlichen Wertsatzes des Silbermetalls ihre vollste Unterstützung leihen werde. Damit war die Interpellation erledigt, was allerdings ebenso wenig nach dem Geschmack des zur einseitigen Goldwährung hinneigenden socialistischen Volkswirtschafters Professor Denis, wie nach demjenigen des Doppelwährungsmannes Dinof war, die beide eine grundsätzliche Diskussion der Frage gewünscht hätten. Thatsächlichbesteht bei der Regierung keinerlei Neigung, der Frage näher auf den Grund zu gehen, wenn auch ganz besondere belgische Interessen eine Lösung der Frage im Sinne des Bimetallismus wünschenswert erscheinen lassen. Namentlich herrscht die Meinung vor, daß Belgien in dieser Frage mehr als in anderen Angelegenheiten der Bedeutung ermungele, um sich die Ergreifung der Initiativo zu können.
In den Kammersektionen wird die Vorlage einer Kreditforderung von 5 Millionen Francs zugunsten der Kongobahn beraten, nachdem der Bericht der belgischen Eisenbahnbaumeister, welche zum Zwecke einer Untersuchung der Kongoeisenbahn nach dem Kongo entsandt worden waren, höchst günstig für den Bahnbau ausgefallen ist Der Abg. Woeste hat in den Sektionen den Antrag gestellt, der Kongobahngesellschaft nicht den beantragten Kredit von 5 Millionen, sondern die Erlaubnis zu gewähren, unter Garantieleistung des belgischen Staates eine öffentliche An leihe von 20 Millionen aufzunehmen. Dieser Antrag, der alle Aussicht auf Annahme hat, bringt die kongofeindlichen Blätter Brüssels förmlich aus dem Häuschen.
* Das Kabinett Rudini ist beflissen, wie mit dem äußern, so auch mit dem von Crispi niedergerungenen innern Feinde, dem Umsturzsocialismus, seinen Frieden zu
Die Tochter des
Roman frei nach dem Amerikanischen. 2
Von Erich Friesen.
3.
Als die Thür sich hinter David Mason geschlossen hat, ergreift Xenia die ausgestreckte Rechte ihres Großvaters. Ein leichtes Schlagen seiner Fingerspitzen wird durch einen kräftigen Druck ihres Daumens beantwortet— in Worte übertragen:„Sind wir allein?"— Ja!"
Sofort veränderte sich der Ausdruck in den Zügen des Greises. An Stelle der tiefen Trauer tritt triumphierende Freude, eine fast jugendliche Lebhaftigkeit, die zu dem durchfurchten, blinden Antlitze einen eigentümlichen Kontrast bildete. Lächelnd nickte er vor sich hin. während er behaglich die Hände an einander reibt.
Xenias Haltung verändert sich nicht. Ihr Kopf ist wie in geistiger Abwesenheit ein wenig zur Seite geneigt, der Blick nach wie vor traurig ernst.
Kein Wort fällt zwischen dem alten Mann und dem jungen Mädchen. Beide sind ganz von ihren Gedanken beherrscht...
Plötzlich hebt Iwan Orsinsky warnend den Finger und horcht... Schritte nähern sich der Thür. Das Kinn des Greises sinkt auf die Brust herab; die Hände falten sich über den Knien.
Wie in Protest gegen diese Selbsterniedrigung richtet
Kenia sich hoch auf und blickt stolz nach der Thür.
Phillips tritt ein— den Hut in der Hand.
„Zuerst muß ich Sie um Verzeihung bitten, meine Gnädige— entschuldigen Sie abermals, wenn dies nicht die passende Anrede ist, und auch Sie, mein Herr!— daß ich vorhin etwas— wie soll ich sagen— etwas nonchalant war. Aber sehen Sie, ich kannte Ihren Rang noch nicht—“
„Unsern Rang!" unterbrach ihn Orsinsky bitter.„Wir sind Flüchtlinge."
Ein Lächeln huschte über die beweglichen Züge des Bu
reauvorstehers.
„Schadet nichts, mein Herr! Ihr Aussehen ist das eines vornehmen Mannes. Das genügt—“ Iwan Orsinsky begreift sofort seine Rolle. Er reckt seine mächtige Gestalt zu ihrer vollen Höhe empor und ende ürdevoll auf den kleinen, ehrerbietig vor ihm ste
noc0 dann," fährt dieser lebhaft fort,„haben Sie auch ern David Mason hinter sich."
„Hat er großen Einfluß?"
„Na, und ob!"
Phillips bewegte eine Zeit lang wie in stummer Be
wunderung seinen Kopf hin und her, bevor er fortfährt:
„In ganz London giebt's keinen einflußreicheren Menschen. Jedermann kennt ihn; überall hat er Verbindungen. Und erst seine Gesellschaftsabende! Da drängt sich alles zusammen, was London an Rang, Geld und Geist besitzt— Grafen, Barone, die reichsten Bankiers, die hervorragendsten Gelehrten, Schriftsteller und Künstler!... Für mich ist's schon ein Genuß, draußen zu stehen und die eleganten Equipagen, eine nach der anderen, vorfahren zu sehen, gerade wie bei einem Minister... Dann sag' ich stolz zu mir selbst: Das ist Dein Chef, Phillips... Ach, entschuldigen Sie, meine Herrschaften," unterbricht er sich plötzlich,„mein Enthusiasmus für Herrn Mason hat mich von unserem Gespräch abkommen lassen! Nun zum Geschäft!... Mein Chef hat die ganze Angelegenheit in meine Hände gelegt. Ich soll vorerst für Ihre sofortigen Bedürfnisse sorgen,„Sofortige Bedürfnisse" sind seine eigenen Worte... Also bitte— was haben Sie nötig?"
„Was wir nötig haben?... Wir haben alles nötig!“
„Ein ziemlich umfangreicher Befehl," lächelte Phillips mit einem Seitenblick auf Xenia.„Immerhin— irgendwo müssen wir anfangen. Wohnen Sie im Hotel?“
„Wir kamen direkt vom Schiff hierher."
„Vermutlich ersparten Sie sich die Mühe, Gepäck mit sich herum zu schleppen?"
„Wir besitzen nichts, als was wir auf dem Leibe haben."
„Für die Gesellschaftsräume meines Chefs etwas wenig."
„Gewiß. Auch verbietet mir meine Selbstachtung, mich irjendwo so blicken zu lassen."
„Meine Achtung vor Ihnen ebenfalls. Als mein Chef zu mir sagte:„Versorgen Sie diesen vornehmen Russen mit allem, was ihr Rang erfordert!"— da wußte er, daß er sich auf mich verlassen konnte...„Also— er blickt den alten Mann prüfend vom Kopf bis zur Zehe an—„zuerst brauchen Sie einen neuen hocheleganten Anzug, dann alle Arten Gepäck— Koffer, Handtasche, Reisedecke— und für Sie meine Gnädige"— er verbeugte sich vor Xenia, die noch immer stumm da steht— „besonders elegante Reise=Necessaires... Wie arraugieren wir das nun am besten?"
Iwan Orsinsky schüttelt bedenklich das Haupt.
„Wenn wir es überhaupt arrangieren," entgegnete er zweifeln.
„Selbstverständlich. Nur möchte ich meinem Chef unnötige Ausgaben ersparen."
„ch hoffe, ihm über kurz oder lang seine Auslagen zurückerstatten zu dürfen—“
„Ein Grund mehr, sparsam zu sein," bemerkte Phillips trocken. Er blickt einige Augenblicke nachdenklich vor sich hin; dann fährt er in geschäftsmäßigem Tone fort:
„Mein Chef erregt nicht gern Aufsehen. So wünschter auch nicht, daß die Welt sagt: Seht, was er an jenen armen Leuten Gutes gethan hat! Er hat sie vollständig ausgestattet!.. Wir wollen deshalb alles Nötige aus zweiter Hand anschaffen; nur die Wäsche kann neu sein. Kleider und Koffer dürfen nicht so aussehen, als ob sie soeben erst aus dem Geschäft kommen.“
Durch ein kaum merkliches Neigen des Hauptes giebt Iwan Orsinsky seine Zustimmung.
„Auch müssen Sie unbedingt einen Diener haben," fährt Phillips fort,„und die Gnädige bedarf einer Kammerfrau. Da kann ich Rat schaffen. Ich kenne einen flinken, gewandten Menschen von ungefähr dreißig Jahren. Er verließ seinen Posten beim französischen Botschafter, weil er sich verheiraten wollte. Das junge Paar fing ein Geschäft an. Die Sache ging aber nicht recht, und jetzt suchen beide Stellung. Na, was sagen Sie dazu, mein Herr?"
„Wie Sie meinen!"
„Gut. Also abgemacht!" Er wirft einen flüchtigen Blick auf die schmutzigen Hände und auf die verstaubte Kleidung des Greises.„Wollen Sie sich nicht ein wenig waschen... Vielleicht— jetzt blickt er in Xenias blasses, ermüdetes Antlitz—„gehen wir zuerst in ein Hotel?"
„Ja, bitte!"
Es ist das erstemal, daß das junge Mädchen sich an dem Gespräch beteiligt.
„Ich hole einen Wagen. In fünf Minuten bin ich wieder da.“
Damit eilt Phillips hinaus.
Als die beiden allein sind, ergreift Xenia krampfhaft die Hand ihres Großvaters.
„Was soll das bedeuten?" flüstert sie hastig auf russisch. „Welche Gegenleistung beanspruchen die Leute? Danach hast Du nicht gefragt!" Ungeduldig befreit der Greis seine Hand.
„Ruhig, ruhig! Ich muß denken; stör' mich nicht!"
Er stemmt die Ellbogen auf die Knie und vergräbt den Kopf in beide Hände.
Xenia wartet einige Minuten. Dann fragt sie abermals in dringendem Ton:
„Was soll der Preis für all dies sein?"
„Wofür?"
„Für all die uns zu erweisenden Wohlthaten—“
„Bagatelle, reine Bagatelle," spottete Iwan Orsinsky, „sie werden sich schon selbst bezahlt machen. Sie sind klug, diese englischen Geschäftsleute. Jeder Rubel, den sie für uns ausgeben, trägt hundertfach Zinsen."
„Inwiefern?"
„Das ist ihre Sache."
Als Xenia ihn ernst und kopfschüttelnd anblickt, ruft er ärgerlich:
„Du bist eine Närrin. Freue Dich, daß uns jemand die Hand reicht, damit wir nicht im Sumpf ersticken! Spiel Deine Rolle tapfer drauflos— eine reiche Heirat ist Dein Lohn."
Xenia schweigt einige Augenblicke, dann murmelt sie hastig:„Wir sollen lügen, lügen— immerfort lügen—“
„A bah," lacht der Greis cynisch auf.„Ueberlaß nur alles mir!"
„Wenn ich nun Kraft fände, meinen eigenen Weg zu gehen?" fragte sie nach einer abermaligen Pause.
„So geh' hin! Erzähl' doch der Welt unsere Geschichte! Erzähl' sie ihr genau— aber recht genau, verstehst Du? Hahahaha!"
„Großvater!"
„Hast Du noch nicht genug gelitten?"
„Weiß Gott, ja!" murmelt sie mit gerungenen Händen.
„Nun also! Sei vernünftig und—"
Er bricht kurz ab. Die schnellen Schritte Phillips werden hörbar.
„Der Wagen ist da!" ruft er zur Thür herein.
Sofort erhebt sich Iwan Orsinsky; doch er streckt die Hand vergebens nach seiner Enkelin aus. Bewegungslos steht das Mädchen noch auf derselben Stelle.
„Xenia, mein liebes Kind!" ruft der Greis im Tone äußerster Hülflosigkeit.„Willst Du mich nicht führen?"
Da erhebt sie sich langsam und ergreift zitternd seine Hand
„Kommen Sie schnell! Wir haben keine Zeit zu verlieren!" drängt Phillips, und die beiden folgen schweigend ihrem Führer.
4.
Wenige Tage später halten der Fürst Iwan Orsinsky und seine Enkelin Einzug in die Villa des Maklers David Mason.
Vor das schwere gußeiserne Portal rollen zwei elegante Equipagen. In der ersten befinden sich Orsinsky, Xenia und David Mason; am Wagenschlag steht Jack Parker, der neue Kammerdiener des Fürsten— ein geschmeidiger Bursche von etwa dreißig Jahren, mit pfiffigen Augen, dem Ansatz zu einem Backenbart an den Öhren und einer glatt rasierten Oberlippe. In dem zweiten Wagen sitzt seine Gattin Molly mit einer Masse von Koffern und Reiseeffekten jeder Art. Sie ist ungefähr so alt wie ihr Mann und von kleiner, beweglicher Statur. Ihre unruhigen, schwarzen Augen und schmalen, zusammen gekniffenen Lippen lassen auf Energie und Heimtücke schließen.
(Forts. folgt.)