1843.
§
ochenblatt für den Sieg=Kreis.
34. Freitag den 4. Mai.
Politische Nachrichten.
S Berlin, 27. April. Endlich ist das verhängnißvolle Wort gesprochen: Die zweite Kammer ist aufgelöst! Das längst Erwartete, oft sehr nah Geglaubte, aber immer wieder in die Ferne Gerückte konnte nicht ungeschehen bleiben. Das Ministerium war ja von seinem Entstehen an dazu erkoren, nicht nach constitutionellem Brauch, sondern als der dienstbare Ausfluß eines höhern Willens zu regieren; wozu also die Unbequemlichkeit einer unfügsamen Kammer. Man wird allerdings eine neue zusammen berufen müssen; allein Zeit gewonnen, viel gewonnen. Vielleicht helfen äußere Ereignisse zu einer gründlichen Befreiung von dem verhaßten Constitutionalismus. Doch wir sehen wohl zu schwarz. Es handelt sich wohl weniger von einer Beseitigung der constitutionellen Verfassung überhaupt, als von einigen kleinen Modificationen, z. B. von der Octroyirung eines Wahlgesetzes mit Census oder vielleicht auch nur von einer octroyirten Interpretation des Wörtchens„selbstständig", so daß die Zahl der Urwähler eine nahmhafte Beschränkung erleiden würde. Heut zu Tage ist Alles möglich. Die Auflösung war lange im Werk; einzelne Vorkommnisse, z. B. das deutsche Verhalten der Kammer in der Frankfurter Angelegenheit, das Votum gegen den Belagerungszustand, wozu sogar ein Theil der Rechten mitwirkte, und endlich einige schonungslose Aussprüche von der Tribüne mogen hier allerdings beschleunigt haben. Auch soll ein Beschluß des Frankfurter Parlaments, daß die Einzelstaaten ihre Kammern nicht auflösen, sondern sich frei in der deutschen Frage aussprechen lassen möchten, erst recht die preußische Regierung in ihren Auflösungsgedanken bestärkt haben. So sagt man wenigstens. Radowitz, der gerade vor der Auflösung beim Könige war, soll ehrlich dazu mitgewirkt haben. Ich enthalte mich für heute der Eile wegen und der Unruhe, in der ich schwebe, aller Betrachtungen. Nur kann ich nicht schließen, ohne mein tiefes Bedauern auszusprechen wegen des einstweilen vereitelten Zieles. Zahlreiche Anträge von wichtigster Bedeutung— ich erwähne nur diejenigen, welche Arbeiterverhältnisse, innere Colonisation, Steuerwesen u. s. w. betreffen,— liegen vorbereitet in den Fachcommissionen und harren ihrer dereinstigen, hoffentlich baldigen Wiederaufnahme. In der Hauptsache, in der Gemeinde=Verfassung, ist aber noch gar nichts geschehen, weil das Ministerium noch nicht geruht hatte, eine Vorlage darüber zu machen. Dagegen ist der D'Ester'sche Gemeindeordnungs=Entwurf von Neuem in Anregung gekommen. Die Angelegenheit der Hülfskassen für Arbeiter mit gesetzlichen Beiträgen der Arbeitgeber war gerade gut im Zuge, als die Auflösung eintrat. Der Abgeordnete Bleibtreu hatte eigens ein Schriftchen über diesen Gegenstand verfaßt und heute unter die Kammer=Mitglieder vertheilt, um Anhänger für diese wichtige Einrichtung zu werben. Er erhielt, in Folge dessen vom Geheimen Finanzrath v. Viebahn die Aufforderung, seine Ideen zu einem desfallsigen Gesetz=Entwurf zur Benutzung der Fachcommission zu Papier zu bringen, als mit einem Male die fatale Katastrophe hereinbrach. So viel für jetzt. Möge das post nubila Phoebus auch hier in baldige Erfüllung gehen!
—— 28. April. Von den Ansichten des konigl. preußischen Hoforgans, der„Neuen Preuß. Zeitung", über die neueste„rettende That" des Berliner Ministeriums, gibt uns folgende Stelle eine Probe:
„Unter der Frage vom Belagerungszustande von Berlin liegt die tiefere, die Frage von dem Krebsschaden, der am Herzen des Vaterlandes nagt, verborgen. Wie kann friedliche Rechtsordnung bestehen, wie kann die Polizei des Säbels entbehrt werden in einem Staate, wo Anreizer zur Steuer=Verweigerung, Anstifter des Aufruhrs, Verführer der Landwehr hohe Richterämter bekleiden, wo erklärte Feinde des Thrones, wo Hochverräther in den Kammern tagen? Diese schmachvollen Zustände sind es, denen wir die Fortdauer des Belagerungszustandes verdanken, nicht aber die Excesse, zu denen
Plakate, Klubs und Volksversammlungen führen würden. Die Anarchie auf den Straßen ist Kinderspiel gegen die Anarchie in den Gerichten, auf den Präsidentenstühlen, in den Parlamenten und in den Cabinetten der Fürsten, die, statt Gottes Knechte, lieber Unterthanen des Pöbels sind.
Dahin also, auf Herstellung gleicher, unparteiischer, starker Rechtspflege, welche die Richter selbst und die Erwählten der Kopfzahl, wenn sie Verbrecher sind, welche die Verführer eben so gewiß als die armen Verführten trifft,— dahin wird nun die energische Thätigkeit der gewissenhaften Staatsmänner sich richten, denen das Vaterland schon so tief verpflichtet ist und die sein Stolz und seine Hoffnung sind in dieser Sündfluth von wetterwendischer und achselträgerischen Charakterlosigkeit.
Kräftigung der edelsten Organe des Staats im engeren Vaterlande,— im weiteren aber folgerechte, unzweideutige Durchführung jenes„niemals, niemals, niemals!" durch welches Preußen mit den frechen Führern und dem zitternden Anhange der Frankfurter Usurpation für immer gebrochen hat— endlich Einigkeit mit dem seit 60 Jahren uns verbündeten Oesterreich, welches, wie wir, aus der Revolution entständen, Deutschlands gute Schlachten im Süden und Östen so tapfer schlägt,— das ist die nicht bloß preußische, sondern auch deutsche Politik, der wir nach dieser Kammer=Auflösung und Vertagung entgegen sehen, und durch die unsere muthigen November=Männer Preußen und durch Preußen Deutschland frei, einig und mächtig machen werden."
Berlin, 29. April. Der heutige Staatsanzeiger bringt in einer sehr ausführlichen Auseinandersetzung die definitive Ablehnung der Kaiserwürde. Die Gründe dafür sind die bekannten: Die Regierungen können sich nicht einigen, die Verfassung sei nicht zur Einigung eingerichtet. Der Bruch zwischen Berlin und Frankfurt ist somit entschieden und man steht einer baldigen Octroyirung entgegen.
Frankfurt, 28. April. Die Differenzen zwischen dem Reichsverweser und dem Ministerium sind gehoben; es herrscht gegenwärtig vollkommenes Einverständniß zwischen ihnen. Die Commissarien, welche den Regierungen der Einzel=Staaten die Beschlüsse der Reichs=Versammlung mittheilen und auf deren Vollziehung wirken sollen, sind bereits ernannt und ihre Vollmacht unterzeichnet; sie werden morgen früh abgehen. Es sind Herr Bassermann für Berlin, Herr Mathy für München, Herr Seebeck für Hannover, Herr v. Watzdorf für Dresden.
—— 30. April. Die National=Versammlung hat in der Ah
nung der Dinge, die da kommen werden, folgende Beschlüsse gefaßt;
„Das Präsidium ist ermächtigt, zu jeder Zeit und an jedem Orte, den es für zweckmäßig erachtet, Sitzungen der Nat.=Vers. anzuberaumen.— Eine außerordentliche Sitzung muß auf Antrag von 100 Mitgliedern anberaumt werden."— Ferner wurde auf Antrag Kierulff's Folgendes beschlossen:
1) Vor dem ganzen deutschen Volke gegenüber der hannoverschen und preußischen Regierung die Mißbilligung über die erfolgte Kammerauflösung auszusprechen. 2) Die betreffenden Regierungen aufzufordern, sofort neue Wahlen zu veranstalten. 3) Gegen die noch übrigen gesetzlichen Organe die Erwartung auszusprechen, daß sie den Willen des Volkes offen, muthig und schleunig gegen die Regierungen aussprechen werden.
Dresden, 29. April. Auch in Sachsen sind durch einen Erlaß vom 28. April die beiden Kammern aufgelöst worden. Die Cabinette scheinen sich der lästigen ständischen Aufsicht entledigen zu wollen, um ihre contrerevolutionären Schritte nach Belieben fortsetzen zu können. Die sächsische Regierung hat der Revolution einen bedeutenden Gefallen gethan. War das sächsische Volk auch bisher an und für sich demokratisch, dieser Staatsstreich hat ihm einen neuen Anhaltspunkt für die revolutionäre Bewegung im Volke gegeben. Alle Völker fühlen das Gleiche— möchten sie doch auch endlich das Gleiche wollen!