N 67.

Bonnerstag den 9. Juni 1870.

Iter Jahrgang.

Die neuen Gewerbeschulen. I.

Vor Kurzem veröffentlichte derStaatsanzeiger den Reorganisationsplan für die Gewerbeschulen. Die­selben haben bekanntlich den Zweck für die verschie­denen technischen Berufskreise durch einen gründlichen Unterricht in den mathematischen Fächern, der Bau­construktionslehre, im Freihand= und Linearzeichnen, in der Physik und Chemie vorzubereiten, d. h. die­jenigen Fächer ausschließlich zu treiben, ohne deren Kenntniß der Gewerbtreibende seinem Berufe nicht wohl vorzustehen vermag. Das Bedürfniß nach einer solchen directen Vorbereitung für's gewerbliche Leben ist mehr denn hundert Jahre alt. Die classische Bil­dung der Gymnasien konnte wohl die gelehrten und höheren Beamtenkreise, allenfalls auch noch den Kauf­mannsstand befriedigen, wenn sie im vollen Umfange genossen wurde, aber für den Handwerkerstand höhe­ren wie niederen Grades war sie nicht. Nach vielen vergeblichen Versuchen und nach dem Dahinsinken der Hoffnungen manches opferbereiten Mannes gelang es endlich dem verdienstvollen Hecker in Berlin die erste Realschule zu gründen, die mit ihrer heutigen Namens­schwester fast nichts mehr gemein hat, sondern in der That und Wahrheit eine Gewerbeschule war, auf der mit Hammer und Hobel der Theorie unter die Arme gegriffen wurde. Was sind dagegen unsere heutigen Realschulen? Zwitteranstalten sind's, die nicht wissen, was sie wollen, die keinem Stande gerecht werden und die hohen Behörden, die sie beschützen und ihnen durch Berechtigungen ein künstliches Gedeihen ver­liehen haben, selbst nicht einmal befriedigen; denn was ist an diesen Schulen herumexperimentirt und reglementirt aus allen möglichen Gründen nur nicht dem einen, den Bedürfnissen des practischen Lebens Rechnung zu tragen. Auf die Gesuche der Leute aus dem Volke um Abänderung der Schablone in specie Beseitigung des obligatorischen Latein giebt es an maßgebender Stelle nur eine Antwort: Degra­dirung der Anstalt in die zweite Ordnung. Daß die Realschulen zweckmäßige allgemeine Bildungsanstalten nicht sind, haben die in jüngster Zeit vom Minister eingeforderten Universitätsgutachten fast einstimmig ausgesprochen, und daß sie dem praktischen Leben nicht genügen, geht auf's Schlagendste daraus hervor, daß

sich das praktische Leben selbst seine Schulen geschaffen hat. Die kaufmännischen Bildungsanstalten, die Bau­gewerks=, Berg=, Ackerbau=, höhere und niedere Ge­werbe=, Kunst=, Zeichnen=, Handwerkerfortbildungs­schulen und wie sie alle heißen mögen, sie verkünden laut und deutlich, daß die Realschulen ihren ursprüng­lichen Zweck nicht mehr erfüllen. Der Rückschlag konnte nicht ausbleiben. Aber er erfolgte merkwür­diger Weise nicht durch das Unterrichts=, sondern durch das Handelsministerium. Von diesem ressortiren die unter dem Namen Gewerbeschulen bekannten zweiklas­sigen Lehranstalten, welche in den eben erwähnten Fachern ein Pensum verarbeiten, das über das der Realschulen und Gymnasien vielfach hinausgeht und von unten auf ausschließlich mit Rücksicht auf die praktische Verwerthung docirt wird. Diese Gewerbe­schulen sind nichts weiter als die Ueberreste der vor einem halben Jahrhundert und noch später bestehen­den(Hecker'schen) Realschulen, die die Wandlung in die moderne Form nicht mitmachten und nicht die Für­sorge der neuen Anstalten erfuhren. Ihr innerer Ausbau unterblieb jedenfalls unter der falschen Vor­aussetzung, daß sie ganz überflüssig werden würden. Die Zahl der Fächer wurde auf ein Minimum be­schränkt und somit die Fachbildung in ein verkehrtes Verhältniß zur allgemeinen Bildung gebracht. Diesem schädlichen Mißverhältniß abzuhelfen, ist das Ziel der nun beschlossenen, vom Geh. Rath Nottebohm her­rührenden und eifrig befürworteten Reorganisation. In wieweit dieselbe durch das Gedeihen der Schulen oder die Bedürfnisse des Publikums veranlaßt worden, lassen wir dahin gestellt; Thatsache ist, daß die Ge­werbeschulen in der neuen Gestalt und besonders durch die oberste, die Fachklassen, die verschiedensten Bedürf­nisse des gewerblichen Lebens befriedigen. Das im Einzelnen hier auszuführen, würde zu weit führen. Der Eintritt in die unterste(dritte) Klasse ist ab­hängig von der Reife für die Secunda einer Real­schule oder einer derselben gleichstehenden Bildung. Diese sich zu erwerben, den Kindern Gelegenheit zu geben, ist Sache der Commune; es werden da, wo keine Realschule neben der Gewerbeschule besteht, Vor­klassen eingerichtet werden müssen, und auf diese wollten wir die Aufmerksamkeit unserer Leser richten.

Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß eine Com­

mune, in der es sich um die Gründung einer Real­oder einer Gewerbeschule handelt, der letzteren schon um deswillen den Vorzug geben wird, weil der Staat zu ihrer Unterhaltung die Hälfte zuschießt, ganz abge­sehen von dem allgemeineren Nutzen, den sie gewährt. Ist es dann aber nöthig vier, den unteren Klassen der Realschulen entsprechende Vorklassen zu errichten? Unter welchen Voraussetzungen genügt eine kleinere Zahl? Und auf welche Weise machen sich diejenigen Städte die Gewerbeschule zu Nutz, die für die höhere keine Mittel besitzen? Das sind praktische Fragen, bei denen einen Augenblick zu verweilen uns wichtig genug erscheint, weshalb wir in einem besonderen Artikel darauf zurückzukommen gedenken.

Uebersicht der Tagesercignisse.

Berlin, 5. Juni. Der Aufenthalt Sr. Majestät des Königs in der Stadt Hannover ist, gutem Vernehmen nach, für den 4. September d. J. in Aussicht genommen, und zwar wird, den getroffenen Anordnungen zufolge, Tags darauf die große Königsparade des zehnten(hanno­verschen) Armeccorps, wahrscheinlich auf der Vahrenwalder Heide stattfinden.

Unser König befindet sich wieder in Berlin. Wäh­rend seines kurzen Aufenthaltes in Ems wurden ihm überall, wo er mit dem Kaiser von Rußland sich sehen ließ, die aufrichtigsten Ovationen zu Theil.

Graf Bismarck wird aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Sommer Berlin fern bleiben. Für jetzt hat er sich nach Varzin zurückbegeben; von da geht er nach Karls­bad und nach Beendigung der dortigen Kur wird er noch ein Seebad brauchen.

Das Wahlprogramm der Conservativen betont die Reform unserer Steuergesetzgebung. Die Conservativen for­dern und das fordern wir auch daß die Lasten des Staates auf alle Klassen der Gesellschaft und auf alle Arten des Vermögens gleichmäßig vertheilt werden. Es sei eine allgemein anerkannte Thatsache, daß jene Forde­rung der Gerechtigkeit in unserm Steuersystem nicht reali­sirt sei, sondern es seien das bewegliche und unbewegliche Vermögen zu Gunsten des ersteren ungleich belastet. Es müsse hier Abhülfe geschaffen werden und die Conservativen kämen deshalb immer wieder auf ihre Forderung zurück, daß dieses geschehen könne und geschehen müsse durch Stem­pel und sonstige Steuern von dem Verkehr mit Geld, mit Werthpapier und beweglichem Vermögen.

Der Kriegsminister von Roon wird in diesem Jahre sein fünfzigjähriges Jubiläum feiern.

Von der Postverwaltung des norddeutschen Bundes sind Anordnungen getroffen, welche in diesem Ressort eine Verminderung der Schreibereien und eine Vereinfachung des amtlichen Formenwesens bezwecken.

Unvergessene Sünden.

Novelle von Friedrich Friedrich. (Fortsetzung.)

Hugo hatte im Geheimen Nachforschungen nach dem Kinde des unglücklichen Weibes, welches er aus den Fluthen der Seine errettet, angestellt, ohne den Diener seines Vaters zu fragen; dieselben fuhrten ihn zu dem Gute seines Vaters, auf welchem dieser einst ein so tolles Leben geführt hatte. Er reiste dorthin, ohne seinen Vater davon in Kenntniß zu setzen, fiel ihm doch ohnehin nach dessen Tode dieses Gut als Eigenthum zu. Nie zuvor hatte er dasselbe betreten, denn sein Vater hatte Alles aufgeboten, ihn von diesem Orte seines früheren wilden Treibens fern zu halten.

Es war ein unfreundlicher stürmischer Herbstmorgen als er, nur von einem Diener begleitet, auf dem Gute anlangte.

Trotzdem schwere graue Regenwolken über den Bergen hingen und Nebel aus den Wäldern emporstiegen, gefiel ihm doch die stille Abgelegenheit desselben ungemein. Er sehnte sich nach Ruhe, hier konnte er dieselbe finden.

Das alterthümlich gebaute graue Herrenhaus, an dessen Aeußerem seit langen Jahren Sturm und Wind gezehrt hatten, ohne daß eine Hand den Schaden wieder ausgeglichen, blickte Hugo düster entgegen, in dem Innern sah es indeß wohnlicher aus. Der Pächter des Gutes, welcher einige Zimmer in dem Herrenhause mit bewohnte, hatte auch in den übrigen Räumen einigermaßen Ordnung gehalten und die alterthümlichen und zum Theil sehr werthvollen Möbel und Tapetten vor dem gänzlichen Verfall errettet.

Mit größtem Interesse schritt er durch die Räume hin, deren Schlüssel ihm der Pächter überliefert. In dem Speise­saale hingen noch einige Bilder seiner Familie. Dort das Bild seines Vaters, welches ihn im vollen Mannesalter darstellte. Wie kühn und feurig seine dunkelen Augen blick­ken, wie aus jedem Zuge des wohlgetroffenen Portraits die Thatkraft des Mannes, aber auch der stolze und harte Sinn, der ihm von jeher eigenthümlich gewesen war, hervorleuchtete.

Wie zerfallen war jetzt dagegen die Gestalt seines Va­kers! Wie tief lagen dessen Augen, wie gebeugt war der einst so kräftige Körper. Die letzte Ruine eines einst stolzen Schlosses konnte keinen wehmüthigeren Eindruck hervorrufen. Freilich drang es durch diese Empfindung hindurch: durch eigene Schuld hatte er sich zu Grunde gerichtet! Er trägt nur die Folge seines früheren wilden und wüsten Lebens.

Diesem Bilde gegenüber hing eine jugendliche, freund­lich milde Frauengestalt. Unwillkurlich fuhlte er sich dadurch angezogen. Wie eine Erinnerung aus frühester Jugendzeit sämmerte es in ihm auf, das Bild gewann plötzlich für

ihn Leben, die Augen schienen lenchtender zu werden, die Lippen sich zu bewegen, die Hand, welche den künstlichen Fächer hielt, schien sich zu heben, als wollte sie sich hinle­gen auf sein Haupt Er stand vor dem Bilde seiner Mutter.

Zum ersten Male seit langen, langen Jahren sah er das Bild seiner Mutter wieder, die er schon in seinem fünf­ten Jahre verloren hatte. Nur als hohe freundliche Gestalt, die Abends an seinem kleinen Bette saß, so hatte seine Erinnerung ihr Bild bewahrt. Vergebens hatte er sich oft bemüht, ihre Züge in sein Gedächniß zurück zu rufen es war ihm nie gelungen. Erst jetzt erinnerte er sich derselben wieder. Das waren ihre freundlichen milden Augen, das ihr Lächeln, das die weiche Ruhe, welche stets auf ihrem Gesichte gelegen.

Er hatte oft gegen seinen Vater den Wunsch ausgespro­chen, ein Bild seiner Mutter zu besitzen, aber stets die Ant­wort erhalten, daß er kein Bild besitze, da das einzige Por­trait bei dem Brande auf einem andern Gute eine Beute der Flammen geworden sei.

Sollte sein Vater nicht gewußt haben, daß das Bildniß derselben in diesem Raume hing? Sollte er seine Mutter so gänzlich vergessen haben? Dies war nicht möglich. Ab­sichtlich hatte er ihm das Bild seiner Mutter vorenthalten.

Er erinnerte sich, daß die Ehe seiner Eltern eine un­glückliche gewesen war, daß seine Mutter viel durch den wil­den und harten Character seines Vaters zu leiden gehabt hatte, so sehr sie auch bemüht gewesen war, denselben zu mildern, und so günstig sie auch auf denselben eingewirkt hatte.

Was seinem Gedächnisse seit langen Jahren entschwun­den war, das riefen die weichen Züge des Bildes wieder in ihm wach. Er erinnerte sich, daß er seine Mutter oft hatte weinen sehen, wenn ihm auch der Grund ihrer Thrängu verborgen geblieben war, er erinnerte sich plötzlich, wie sie zuletzt auf dem Krankenlager erblickt und wie sie damals geklagt, daß sein Vater sich gar nicht um sie bekümmere. Dann war er plötzlich aus dem Hause gebracht er wußte nicht ob seine Mutter bereits todt gewesen war, er wußte nur, daß er sie nie wieder gesehen hatte.

Und auch seinen Vater hatte er selten gesehen, kaum einmal jedes Jahr.

Lange Zeit stand er regungslos, den Blick auf das Bild geheftet, vor demselben. Seine Gedanken waren um man­ches Jahr zurück geeilt und er bemüthe sich, die einzelnen Gestalten und Bilder, welche in seinem Gedächniß aufge­taucht waren, zu vervollständigen. Verlorene Mühe! Nur eine Ueberzeugung drängte sich ihm auf, daß sein Vater an dem frühen Töde seiner Mutter nicht ohne Schuld war, daß

er die Thränen, die er als Kind an ihren Augen gesehen, hervorgerufen, daß er nichts gethan hatte, um sein kindli­ches Herz zu sich heranzuziehen und ihm die Mutter zu ersetzen.

Er war kein Schwarmer und ooch hatte er das Bild, welches so freundlich auf ihn blickte, herabnehmen und mit all der Innigkeit küssen mögen, die seit langen Jahren in seinem Herzen unterdrückt war, nach der er sich so oft, wenn auch meist unbewußt, gesehnt hatte.

Fast gewaltsam riß er sich von dem Bilde los, um die anderen Räume des weiten Hauses zu durcheilen. Er suchte nach einem Andenken an seine Mutter, allein all sein For­schen war vergebens. Es war, als ob jede Erinnerung an sie hier absichtlich ausgelöscht war.

Mit einem Gefühle der Erbitterung, welches ihn un­willkürlich beschlichen hatte, betrat er endlich die Zimmer, welche einst sein Vater bewohnt hatte. Jeder Gegenstand grinnerte hier noch an den Aufenthalt desselben. Der mit Staub bedeckte Schreibtisch, die verrosteten Gewehre und Pistolen, welche an der Wand hingen, die Bildnisse der Freunde, welche ihm einst hier Gesellschaft geleistet hatten.

In einer Mauernische stand noch ein Champagnerglas. Bei welcher Gelegenheit mochte dasselbe zum letzten Male gefüllt gewesen sein, welcher Mund mochte den letzen Trop­sen daraus geschlürft haben? Er nahm es in die Hand. dicker Staub lag in demselben, Staub von manchem Jahre! Dieses leichte zerbrechliche Glas hatte die tolle Lust, welche hier einst geherrscht, um Jahre überdauert, noch immer konnte es, wenn der Staub aus ihm gespült würde, lustig im Kreise umgehen und den schäumenden Wein zum Munde tragen und die kräftige Gestalt seines Vaters war während dieser Zeit gebrochen und hinfällig geworden, seine Hand, die es vielleicht einst jubelnd emporgehoben, zitterte!

Er trat in das daran stoßende Schlafgemach. An der Wand hing ein Frauenbild, welches ihm sofort ins Auge fiel. Die Gestalt war üppig, lüstern, aus den großen Au­gen leuchtete Uebermuth und Leidenschaft, um den Mund zog sich ein feiner spöttischer Zug hin. Unwillkürlich mußte er sich diese Gestalt zu Pferde denken, wie sie an der Spitze einer lustigen Cavalkade toll dahin sprengte und den Mund spöttisch verzog, weil die Herren ihr kaum zu folgen ver­mochten, oder wie sie einer Bacchantin gleich, das schäumende Champagnerglas emporhob und ein Lied der Liebe sang.

Er war nicht einen Augenblick lang in Zweifel, daß dies Bild eine der Geliebten seines Vaters vorstellte. Un­willig wollte er sich davon abwenden und dennoch blieb sein Blick gefesselt. Es lag etwas in dem Bilde, was ihn an­zog, ein bekannter Zug, es war, als od er diese schöne,