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Allgemeiner Anzeiger für den Kreis,
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Dinslaken: Chr. Hermann.
Ns 187.(Erstes Blatt.) Samsag, 11. August 1894.
22. Jahrgang.
Gechichiscleden.
11. August.
1778 Turnvater Jahn geb.
1815 Gottfried Kinkel, Dichter, geb.
Vom Unglück erst zieht ab die Schuld! „Mas übrig bleibt, trag mit Gedud.
Pescosch
* Mülheim=Ruhr, 11. Aug.
Die Zeit der Hundstage ist nunmehr vorüber, in Bädern und Sommerfrischen lichtet sich die Zahl der Besucher etwas, und wer gar recht vorsichtig ist, denkt an den Herbst und läßt die Kohlenkammer und den Holzraum füllen. Das Obst geht seiner Reise entgegen und die Flächen wogender Aehrenfelder sind ziemlich verschwunden. Der Ernteertrag ist nicht überall ein gleich guter gewesen, aber erfreulicherweise das Erntewetter in den meisten Fällen ein günstiges. Freilich wird der Brodkornpreis nicht allenthalben behagen, er ist der niedrigste, der bisher unmittelbar nach einer Ernte im deutschen Reiche dagewesen ist, wenn auch der Unterschied gegenüber den Vorjahren kein besonders großer ist. Fremde Spekulationen, besonders von den amerikanischen Marktplätzen aus, haben mehr Einfluß auf die deutschen Preisverhältnisse ausgeülbt, als nun gerade gut war. Rußland ist für unsere Preisfestsetzung weniger inbetracht gekommen, als wohl erwartet wurde. Da auch die Kartoffelernte voraussichtlich eine befriedigende sein wird, dürfte überall die Scharte ausgewetzt werden, welche im Vorjahre in so weiten Bezirken von Mittel= und Süddeutschland durch die damalige beispiellose Dürre hervorgerufen wurde. Lange währt es nun nicht mehr, und die Pflugschaar geht wiederum über den Boden.
Noch immer nichts zu ackern giebt's auf politischem Gebiete, die Stille, welche im politischen Leben Deutschlands herrscht, hat auch nicht die leiseste Unterbrechung erfahren. Kaiser Wilhelm hat seine Sommerreisen beendet, und nach der Heimkehr des Monarchen tritt auch der Reichskanzler Graf Caprivi seinen ziemlich knapp bemessenen Urlaub an. Im Bundesrat beginnen die Arbeiten für die neue Reichstagssession erst Ende September. Während die großen wirtschaftlichen Streitigkeiten in Berlin bisher zu keinerlei Ausschreitung führten, hat es in Schlesien einen Krawall gegeben, der freilich sehr rasch unterdrückt wurde, in welchem aber doch Blut geflossen ist. Vorkommnisse solcher Art sind in Deutschland erfreulicherweise sehr viel seltener, wie in anderen Ländern, aber eben deshalb sollten solche Dinge überhaupt nicht passieren. In engen Kreisen rufen sie Schmerz und Trauer hervor, in weiteren erregen sie peinliches Aufsehen und geholfen oder erreicht wird dadurch nicht das mindeste. Die Erbitterung wird dadurch nur in sehr unliebsamer Weise gesteigert, denn bekanntlich wollen die Schuldigen nie ihre Schuld zugeben, sondern versuchen stets, die Folgen für das, was sie angestiftet, anderen zuzuweisen. In kolonialen Dingen sind besondere Neuigkeiten noch nicht wieder zu erzählen. Es scheint wirklich so, als ob in DeutschSüdwestafrika der Bandenführer Hendrik Witbol in sich gegangen ist und seinen Frieden mit dem deutschen Reiche gemacht hat. Nun wird man sich das Gebiet endlich einmal mit Ruhe ansehen können und bald genug eikennen, was dort anzufangen ist. Die früheren Gedanken von Gold= und Erzgewinnung werden wohl schöne Träume bleiben, aber vielleicht sich durch rationelle Viehzucht wenigstens ein Bruchteil der aufgewendeten Gelder wieder herausschlagen.
Der Krieg in Ostasien zwischen Japan und China kann trotz aller neuen Gefechtsnachrichten doch immer noch kein wirklich ernstes Gesicht gewinnen. Den
Chinesen, die geschlagen wurden, fehlt es ersichtlich am nötigsten zum Kriege, am flüssigen Bargelde, und den Japanesen scheint trotz aller ihrer Siege bei dem Gedanken an das, was fernerhin kommen soll, auch nicht gerade geheuer zu Mute zu sein. Am liebsten möchten beide Parteien wohl wieder zurückzupfen, wenn das nur so ohne weiteres ginge. China verfügt über Hunderttausende von Menschen, die das Gewehr tragen können; aber erstens ist die Zahl der wirklichen Soldaten viel geringer, als man glaubt, und zweitens ist zu erwarten, daß unter dem entsetzlich ausgesogenen chinesischen Volke ein Ausstand ausbricht, sobald das heimische Militär zu sehr geschwächt wird. Das ist der eigentliche Grund, weshalb China zu dem Kriege mit Japan, den es an und für sich gar nicht zu fürchten brauchte, ein so verzweifelt verdrießliches Gesicht macht. Die Japanesen, die sich von den Russen auf das Glatteis dieses Krieges haben locken lassen, merken auch, wie ihr Geldbeutel schmächtiger und schmächtiger wird und verwünschen wohl im tiessten Grunde ihres Herzens die nunmehr an sie herantretende Notwendigkeit, sich Lorbeeren holen zu müssen.
Berlin, 11. August
— Der Kaiserin stattete der Großherzog von Sachsen auf der Durchreise am Freitag einen Besuch auf Schloß Wilhelmshöhe ab. Die Herzogin Adelheid zu SchleswigHolstein und die Prinzessin Feodora haben Wilhelmshöhe wieder verlassen.
— Kaiser Wilhelm in England. Aus Cowes wird gemeldet: Der Kaiser wohnte am Donnerstag am Bord der Segeljacht„Meteor“ der Wettfahrt zwischen der„Britannia“ und dem„Vigilant“ bei, bei welcher die„Britannia“ des Prinzen von Wales siegte. Nachmittags nahm der Kaiser mit dem Prinzen von Wales und zahlreichen Notabilitäten an der Festlichkeit der Royal Yacht Sgadron teil. Das Diner wurde an Bord der dem Lord Lonsdale gehörigen Jacht eingenommen; an der Tafel nahm auch der Prinz von Wales teil. Abends fand am Ufer ein Feuerwerk statt; die auf der Rhede liegenden Fahrzeuge waren sämtlich festlich erleuchtet.
— Die Rückkehr des Kaisers nach dem Neuen Palais bei Potsdam wird voraussichtlich am 17. d. M. erfolgen. Am darauffolgenden Tage findet vor dem Kaiser Herbstparade des Gardekorps auf dem Tempelhofer Felde statt.
— Am Sonntag wird sich der Kaiser von der Königin Viktoria verabschieden und sich am Montag früh an Bord der kgl. Jacht„Alberta“ nach Portsmouth und von dort nach dem Truppenlager zu Alderschot begeben. In Alderschot wird der Kaiser Gast des Herzogs von Connaugbt sein. Am Dienstag dürfte der Kaiser dann nach Gravesend reisen, wohin die „Hohenzollern“ inzwischen abgegangen sein wird, um dort die Ankunft des Kaisers zu erwarten, die voraussichtlich am Dienstag Abend erfolgt.
— Herzog Ernst Günther von Schleswig=Holstein, der Bruder der Kaiserin, begeht heute seinen Geburtstag. Er ist am 11. August 1863 geboren.
— Die Erbprinzessin von Meiningen ist am Freitag in Wilhelmshaven eingetroffen und vom Admiral Valais empfangen.
— Dr. Miquel. Der„Hann. Kur.“ schreibt:„Die Meldung, daß sich der Finanzminister Dr. Miquel vertraulich dahin geäußert habe, er wolle zurücktreten, wird in Berliner finanzministeriellen Kreisen als reine Erfindung bezeichnet".
— Der bisherige Hilfsarbeiter im brandenburgischen Konsistorium, Lic. Keßler, ist zum Konsistorialrat und
Mitglied des Konsistoriums im Nebenamt ernannt worden.
— Kultusminister Dr. Bosse wird sich in der
nächsten Woche von Karlsbad, wo er seit Mitte Juli zur Kur weilte, zu mehrwöchentlichem Aufenthalt nach der Schweiz begeben. Sein Befinden ist gut zu nennen und es wirk vollständige Wiederherstellung erwartet.
— Die diesjährige Herbstparade in Berlin findet,
wie der Reichsanzeiger bekannt giebt, am 18. dieses Monats, Vormittags 9 Uhr, auf dem Tempelhofer Felde Katt.— Lenpelho
— Der Großherzog und die Großherzogin von Baden folgten heute Mittag einer Einladung des Königs und der Königin von Würtemberg zur Mittagstafel nach Friedrichshafen und empfingen nach ihrer Rückkehr in Konstanz das rumänische Königspaar, das sie darauf nach der Mainau geleiteten. Morgen wird in Mainau auf Einladung des Großherzogs der Staatssekretär Freiherr von Marschall mit Gemahln eintreffen.
— Das Urteil in der Angelegenheit des Zusammenstoßes der Dampfer„Colombia“ und„Wladimir“ ist vom Odessaer Tribunal gefällt worden. Die beiden Kapitäne wurden zu je 4 Monaten Gefängnis verurteilt, und zwar der Kapitän der„Columbia“, weil er nicht den Nachweis hat führen können, daß der italienische Dampfer alle seine Feuer regelrecht angezündet hatte, und der Kapitän des„Wladimir“, weil nach Aussage des Sachverständigen er den Dampfer und die Passagiere hätte retten können.
— Zur Resorm der Militärprozeßstrafordnung
wird offiziös geschrieben: Die Meldung, daß in München nichts davon bekannt ist, daß den Einzelregierungen der Entwurf einer reformirten Militärprozeßordnung vorgelegt ist, dürfte richtig sein. Denn es liegt in der Natur der Sache, daß der Entwurf eines solchen Gesetzes den Bundesregierungen als preußischer Antrag nicht eher vorgelegt werden kann, als bis er die Zustimmung des obersten Kriegsherrn gefunden hat. Man wird aber in der Annahme nicht fehlgehen, daß in dieser Beziehung eine Entschließung bisher nicht erfolgt ist. Daraus, daß dem Bundesrat ein bezüglicher Entwurf nicht vorgelegt ist, ist daher vorerst noch kein Schluß auf den weiteren Verlauf der Sache zu ziehen.
— Die Einnahmen aus dem 3. deutschen Turnfeste betragen nach vorläufiger Feststellung 170000 Mark, die Ausgaben 185000 Mark. Der Fehlbetrag von 15000 Mark wird aus dem von der Stadt Breslau gezeichneten Betrage vollständig gedeckt.
— Die Ofsizierschärpe wird doch abgeschafft. Die erste Meldung von der bevorstehenden Abschaffung der Offizierschärpe wurde bekanntlich sehr bald als Erfindung erklärt. Jetzt kann man nach der„Boss. Zig.“ bereits Offiziere des 1. Garde=Regiments zu Fuß in Potsdem bei allen größeren Uebungen sehen, die an Stelle der bisherigen Schärpe silberne Gürtel tragen, an denen Revolver, Krimstecher und Kartentasche befestigt sind. Nach Beendigung der großen Herbstmanöver dürfte dann die allgemeine Einführung des silbernen Gürtes in kürzester Zeit erfolgen.
— Manöver=Proviantämter werden während der diesjährigen Herbstmanöver in Treblin und Mahlone errichtet. Die Ankäufe der Aemter werden sich auf Heu, Stroh, Schlachtvieh, Kartoffeln und Holz erstrecken. Das Schlachtvieh muß 1. Qualität, das Rindvieh darf nicht zu alt sein, Schweine werden nur im Alter von ¾ bis 1½ Jahren angekauft.
— Der Entwurf der neuen„Agende für die evangelische Landeskirche“ ist nun fertiggestellt und wird an die Berechtigten versandt werden. Er umfaßt 240 Druckseiten. In dem Vorwort wird eine Geschichte des Agendenentwurfs gegeben, welche namentlich deshalb ein besonderes Interesse bietet, weil sie zeigt, was seit der
Beratung des Entwurfs durch die Provinzialsynoden daran gearbeitet worden ist. Die Agende besteht aus zwei großen Abteilungen: 1. Tell: Die Gemeindegottesdienste, 2. Teil: Kirchliche Handlungen.
— Die Resorm des Militärstrasverfahrens. Die„M. N. N.“ wollen wissen, daß der bayerischen Regierung eine Mitteilung über den neuen Entwurf zur Resorm des Militärstrasverfahrens nicht zugegangen sei. Dasselbe Blatt veröffentlicht gleichzeitig eine Berliner Korrespondenz, wonach bei der Umänderung des Strasverfahrens große Schwierigkeiten zu überwinden seien; viele vermögende Leute, die sich hoher Protektion erfreuen, wollten von einer Reform des Militärstrafverfahrens nichts wissen.
— Eine mildere Anwendung der Strafbestim. mungen des Wechselstempelgesetzes soll infolge einer Anregung der Handels= und Gewerbekammer in Chemnitz auf die Tagesordnung der nächsten Ausschußsitzung des deutschen Handelstages gesetzt werden.
Stalien
— Der Sindako von Motta=Visconti, dem Geburtsorte des Präsidentenmörders Caserio, erhielt abermals ein von einem anarchistischen Komitee zu Ravennia unterzeichnetes Schreiben, worin die„Anarchisten aller Länder“ die Familie Caserios begrüßen und sie davon benachrichtigen, daß Caserio gerächt werden würde. Es seien bereits 3 Genossen ausgelost, die den Präsidenten Casimir Perier, den Ministerpräsidenten Crispi und einen italenischen Polizeikommissar töten werden. Der anarchistische Bund zähle eine Million Arbeiter zu seinen Mitgliedern, wobei die Anarchisten Rußlands noch garnicht eingerechnet seien.
Schweiz.
— Die Nachricht, daß der Lehrer Caserios, der anarchistische Advokat Gori nebst Familie aus dem Tessiner Bezirk ausgewiesen sei, bestätigt sich nicht. Wohl ist der Behörde der Aufenthalt Goris in Lugano bekannt, von einer Beanstandung desselben ist aber bisher keine Rede gewesen.
ußland.
— Ueber einen sehr ernsten Unfall, der die Großfürstin Tenia und den Großfürsten Alexander Michailowitsch am 6. August, ihrem Hochzeitstage, betroffen hat, käuft verspätet folgende Meldung ein: Wie nachträglich gemeldet wird, ist das neuvermählte großfürstliche Paar am Hochzeitstage einer schweren Lebensgefahr ausgesetzt gewesen. Das junge Paar fuhr in einem Dreigespann nach dem einige Werft entsernten Ropschinsker Palais. Längs des Weges waren Harztonnen ausgestellt, aus denen Raketen und bengalische Flammen emporschossen. Der Kutscher wurde durch die Flammen so geblendet, daß er eine auf dem Wege befindliche Brücke nicht genau traf. Ein Pferd kam auf die Brücke, die beiden andern stürzten in den Graben und rissen den Wagen mit sich, der sich überschlug, die Großfürstin stürzte über ihren neben ihr sitzenden Gemahl hinweg in den Graben und zog sich einige nicht bedeutende Abschürfungen im Gesicht, sowie eine Verstauchung der rechten Hand zu; der Großfürst blieb ganz unverletzt, während der Kutscher schwere Verletzungen erhielt. Da die Unfälle nur 1½ Werft von Peterhof entfernt waren, so wurde sofort ärztliche Hilfe geholt. Das kaiserliche Paar fuhr auf die Meldung von dem Unfall alsbald nach dem Ropschiesper Palais.
Belgien.
— Der italienische Anarchist Cipriani, der in Brüssel festgenommen wurde, ist aus Belgien ausgewiesen worden. Er erhielt eine zweitägige Frist, um nach seinem Wunsche nach England abzudampfen.
Verwerrene
Aus dem Tagebuch der Frau von S. 12) Erzählung von Emil Roland.
Ach, wenn ich ihn dort träfe! Wenn ich ihn endlich überzeugen könnte, daß ich besser bin, als er glaubt— mehr verlange ich ja nicht— nein, der verwegene Gedanke an anderes kommt, ja nur in Zeiten über mich, die ich nicht zu verantworten habe, in Träumen, an denen man schuldlos ist, oder in jenen grauen einsamen Stunden, wo man ein Luftschloß bauen muß, wenn man nicht an des Lebens Armseligkeit sterben will.
„Der Glaube war Dein zugewogenes Glück“— manchmal wollte ich, daß ich meinen Schiller nicht so gut auswendig wußte!
„Du hast gehofft— Dein Lohn ist abgetragen!“
Aber gleichviel— ich verdiene kein Glück. Wohl mir, daß ich wenigstens einmal gewußt habe, wo es vielleicht zu finden gewesen wäre!
November 6.
Ein kalter, herber Novembertag—
Mich fröstelte während der ganzen Fahrt. Ich drückte mich in die Ecke des Kupees und starrte unau fhörlich in die Landschaft mit jenem Blick, der alles fieht und doch eigentlich nichts recht wahrnimmt. Die Stadt verschwand. Der blaugraue Rauch, der, von der Luft herabgedrückt, wie eine feste Schicht über den Dächern hing, blieb noch lange sichtbar. Allmählich trat die Hügelkette näher— aus dem Nebel schwomm sie heraus, schön gebogen, aber kahl— ohne Sommergrün, wie der mißglückte Umriß einer schönen Landschaft.
Wenn der Zug hielt, hörte man deutlich den Regen auf die Steinfliesen der Bahnhofsperrons klatschen. Die Menschen gingen mißvergnügt einher. Die Schaffner schüttelten ärgerlich die rieselnden Tropfen von den Mützen — und vor einem Jahr pflückte ich am Mittelmeer Rosen und Nelken im Freien.
Was hätte ich jetzt gegeben um einen einzigen Blick auf jene blaue, sonnenbestrahlte Fluth!
Ich war der einzige Fahrgast, der in Lichteneck den Zug verließ.
Das Städtchen lag ziemlich weit vom Bahnhof. Da ich nicht fahren wollte, patschte ich geduldig von Pfütze zu Pfütze. Die Welt machte an jenem Tag einen höchst elenden, miserablen Eindruck— es giebt; ja so Tage———
Ich fragte mich leicht nach der gesuchten Wohnung hin.
Ein kleines, einstöckiges Hans war’s mit spitzem Giebel
und einem winzigen Gärtlein vor den Fenstern; mir klopfte das Herz—
Ein bleiches, juuges Mädchen öffnete; ich sah auf den ersten Blick, daß es seine Schwester war: dieselben edelgezeichneten Gesichtslinien, das gleiche, dunkelblonde Haar, nur statt der trotzigen Herbigkeit des Bruders einen kranken, leidenden Zug im Gesicht, den Zug derer, die unter einem zu rauhen Himmelsstrich zu atmen verdammt sind und darum nicht gesunden können.
„Mama ist in der Kirche“, sagte sie auf meine Frage, „aber wenn Sie eine Viertelstunde warten können—“ Dabei sah sie mich groß und erstaunt an, wie ich deutlich merkte, mit einer Art Verwunderung.
Sie öffnete die niedrige Stubenthür.„Ach, hier ist nicht geheizt— vielleicht darf ich Sie in unsere Wohnstube führen— wenn Sie ein wenig Unordnungen entschuldigen wollen— meine kleinen Brüder spielen dort.“
„Sie sind sehr freundlich“, erwiderte ich,„wenn ich nur irgendwo warten kann; nur möchte ich niemanden stören.“
„O nein, das thun Sie gewiß nicht!“ lächelte sie— „wenn Sie vorlieb nehmen wollen!“
Wir traten in die Wohnstube. Wie einfach der Raum aussahl im ersten Augenblick drängte es sich mir auf: ein Zimmer war's, wie auf dem Bilde von Lissot, schmucklos und schlicht, ein Zimmer, wie jenes, in dem der Abschied vor sich ging.
Am Fenster saßen zwei Knaben, vielleicht ein Dutzend Jahre alt, der größere mit einem Buch, der andere ihm zu Füßen mit einer Schachtel Soldaten. Beide sprangen auf und sahen mich groß an.
Ich gab ihnen die Hand. Der eine hatte auch dieselben Augen, die ich so gut kannte. Das Gesicht des Jüngsten war mir fast noch bekannter, denn es trug unverkennbar den Familienzug der S., ja, die Profillinie zeigte eine Aehnlichkeit, die mich sonderbar berührte; sie war noch weich und kindlich gemodelt, aber zeigte doch schon, wie sie aussehen würde in zehn Jahren— ob Herr Schneider diesen Bruder wohl weniger liebte als den Andern?
Die Knaben gaben kurze Antworten, legten die Hände auf den Rücken und starrten mich unverholen an.
„Sie müssen verzeihen!“ sagte die Schwester—„die Jungen sind Fremde wenig gewohnt. Gehi und spielt doch— aber leise!“
Dagingen beide zu ihr hin, legten die Hände auf der
Schwester Knie und flüsterten mit ihr. Es war ein rührendes Bild, diese Vertraulichkeit der Geschwister, für Jemanden, der keine besaß, fast ein wehmütiges. Mir fiel beim Hinschauen die Blässe des Mädchens auf. „Sie fühlen sich nicht wohl?“ fragte ich.
„Ich habe mehrere Wochen gelegen und darf noch nicht lange auf sein. Vergeben Sie mir, daß ich ein so schlechter Gesellschafter bin.“
„Wenn ich nur nicht störe— Sie wollten sich gewiß ausruhen 2“
„O nein— ich bin erst seit einer Stunde auf“— dann, als sie sah, wie mein Blick auf das Wandbild über ihren Stuhl fiel, setzte sie hinzu— mein Vater!“
Sie hätte auch„mein Bruder“ sagen können— es war ja dasselbe Gesicht. Ein Jugendbildnis mußte es sein aus der Zeit, als der junge Arzt in das Haus des alten S. kam und das Herz der Tochter ihm entgegenschlug. Ich schwieg. Eine alltägliche Bemerkung mochte ich nicht machen und etwas anderes war nicht am Platz. Ich hätte so gern einen der Kinderköpfe gestreichelt, aber ich wagte es nicht. Mir wäre zu Mut gewesen, als taste ich damit einen fremden Besitz an.
„Da kommt die Mutter!“ rief der Kleinste und sprang auf den Fenstertritt.„Robert geht noch mit dem Pfarrer.“
Mir klopfte das Herz. Die Hausthür ging auf und die Jungen stürmten ihr entgegen; gleich darauf trat sie ein. Ich hatte sie mir anders vorgestellt, ernst, streng, mit einem Zuge von Verbitterung— sie war nichts als verhärmt.
Ich stotterte ein paar Redensarten. Sie sahmich gütig lächelnd an, fast liebevoll. Vielleicht war es jenes Lächeln, das dem General und seinen Kameraden einst beim Walzen so gefiel, bis Jeder etwas über hatte für sie—
Ich bringe einen Brief meiner Schwiegermutter, Frau von S.—“. Da verschwand das Lächeln. Sie wußte mit einem Mal, wer ich war. Ihre Lippen bewegten sich, sie sah mich prüfend an. Was hatte ich gethan, um bei diesen Menschen für einen Feind zu gelten, nur weil ich diesen Namen trug? Das junge Mädchen sprang hastig auf und stellte sich scheu neben die Mutter; eine Fieberröte flammte ihr über die Wangen. Wie schuldbewußt stand ich da und ich hatte ihnen doch nichts gethan.
„Sie sind sehr gütig, gnädige Frau, daß Sie sich selber herbemüht haben“, sagte die Mutter mit förm
licher Kälte. Da ging die Thür auf— Herr Schnei, der trat ein.
Jener Augenblick gehörte für mich nicht zu denen, die man je vergißt. Ich glaube, Jahre können solche Eindrücke nicht verwischen. Ich denke mir, alte Leute müssen noch in späten Träumen schaudernd zusammenfahren, wenn die Erinnerung an einen solchen Moment sie überkommt.—
Er sah erst mich an, dann seine Mutter— derselbe Ausdruck war es, den ich kannte— damals aus dem Zimmer des Generals— nur, daß jetzt noch eine heiße Zornesglut aus seinen Augen brach.
Er trat hastig auf seine Mutter zu, zog ihr den Brief heftig aus der Hand und flüsterte:— aber laut genug, daß ich jede Silbe verstand:„Ist die Frau noch einmal gekommen, uns ihre Almosen aufzudrängen? ich dulde das nicht!“
„Robert“, sagte seine Mutter vorwurfsvoll; die Dame ist unser Gast.“
Ich trat von ihnen weg an das Fenster. Die Stunde war bitter. Eine kurze Weile zögerte ich. Was hätte ich darum gegeben, diesem einen Menschen nicht feindlich gegenübertreten zu müssen, aber was blieb mir übrig? Ich war ja nicht in meiner Angelegenheit hier, sondern um einer Anderen willen.
„Herr Schneider“, sagte ich und sah ihm fest ins Auge.„Sie haben kein Recht, Ihrer Frau Mutter diesen Brief vorzuenthalten. Ich als die Ueberbringerin muß darauf bestehen, daß er an die Empfängerin kommt und an Niemanden sonst.“
„Die Beziehungen zwischen Ihrem und unserem Hause sind erloschen!“ entgegnete er rauh.„Ich staune, daß Sie trotz des feinen Geistes, den man Ihnen nachrühmt, das noch nicht begriffen haben!“
Je ungestümer er wurde, desto kälter blieb ich.„Was ich begreise oder nicht begreife, kommt hier nicht in Betrach:!“ sagte ich fest.„Ich habe mit diesem Briese nichts zu thun; ich las ihn nicht einmal. Ich habe mich weder zur Ueberbringerin angeboten, noch mir von diesem Auftrag besondere Erbauung versprochen. Meiner Pflicht als Tochter folgte ich, und als solche verlange ich Gehör für meine Mutter.“
Ich fühlte das Zornflammen seines Auges auf mir, es that mir weh, aber nicht so weh wie damals, als er ein Recht besaß, klein von mir zu denken.
(Fortsetzung folgt.)