91. Jahrgang. Nr. 13662.

Freitag, 28. Februar 1930.

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Ergeonisose Kavineitsveratung.

Sämtliche Deckungsvorschläge abgelehnt. Man will jetzt die

Fraktionen befragen.

Berlin, 27. Febr. Die heutigen Beratungen des Reichskabinetts über die Deckungs­vorschläge des Reichsfinanzministers haben noch nicht zu einer Einigung geführt; sie wer­den morgen nachmittag fortgesetzt, da vormittags eine Besprechung mit den Iinanzministern einiger Länder staktfindet. Die Generaldebakte scheint heute zu einem gewissen Abschluß gekommen zu sein. denn im letzten Teil der Nachmiktagssitzung hat man sich vor allem mit der umstrittensten Einzelfrage beschäf­tigt, wie die 100 Millionen, die bei der Arbeitslosen­versicherung fehlen, aufgebracht werden können.

Im ganzen lagen dem Kabinekt vier Vor­schläge vor: Da ist einmal das Projekt des Reichs­finanzministers, die Aufbringung der 100 Mil­lionen der Versicherungsanstalt selbst zu überlassen; zweitens der Vorschlag, einen zehnprozentigen Zuschlag auf alle Einkommen zu erheben und dafür im nächsten Jahre 15 Prozent wieder abzusetzen. Der dritte Vorschlag war eine Art Zwangsanleihe in Form eines Zuschlages zur Steuer auf die großen Vermögen. Schließlich spielte noch ein Vorschlag des Reichsernährungsministers Die­frich eine Rolle, der eine Kombination des zweiten und dritten Vorschlages enthielt, in dem er einen Zuschlag auf die größeren Vermögen und Einkommen vorsah. Dr. Dietrich wollte dann den Tilgungsfonds, der eigent­lich jedes Jahr auf 450 Millionen wieder angefüllt werden muß, für das nächste Jahr auf 350 Millio­nen begrenzen und aus den ersparten 100 Millionen die Mehrzahlungen dieses Jahres zurückerstatten.

Das Kabinekt hat über alle diese Vorschläge Probeabstimmungen veranstaltet, um fest­zustellen, ob sich einer von ihnen wohl durchführen lassen würde; in keinem Jalle aber ließ sich Uebereinstimmung herbeiführen, so daß man im Reichstag jedenfalls im Augenblick glaubt, daß alle diese Projekte bereits erledigt sind. Man ist dann offenbar auseinander gegangen mit der Absicht, die Fraktionen noch einmal zu be­fragen, um zu versuchen, ob sich nach Rücksprache mit ihnen nicht doch noch Möglichkeiten für einen dieser Vorschläge finden lassen. Die Aussichten wer­

den im Reichstage aber keineswegs günstig beurteilt.

Von besonderem Interesse im Augenblick ist der Zusammenhang zwischen den Iinanzverhand­lungen und den Abstimmungen über den Toungplan, die der Ausschuß morgen vormit­tag vornehmen wollte. Wenn es zu diesen Abstim­mungen kommt, so ist man über die Forderung des Zentrums, die für die Einigung in den Finanzfragen die Priorität verlangte, hinweg­gegangen. Es fragt sich, ob das Zentrum sich damit abfindet. Jedenfalls rechnet man in parlamentarischen Kreisen eher mit der Möglich­keit, daß die Abstimmung erneut verschoben wird.

Kritische Juspitzung der Lage.

Die Frankf. Ztg. bemerkt:

Ob es morgen oder vielleicht übermorgen gelingt, die schweren Meinungsverschiedenheiten in­nerhalb des Kabinetts zu überbrücken, wird auch wesentlich davon abhängen, wie weit Dr. Moldenhauer bei etwaigen Vermittlangsvorschlägen mitgehen kann, ohne von seiner Fraktion desavouiert zu werden. Er hat sich bisher schon etwas stark festgelegt, aber doch noch nicht so stark, daß er nicht noch den Weg zu einem Kompromiß finden könnte. Sicher ist bei allen Kabinettsmitgliedern der feste Wille vorhanden, eine Einigungsformel zu finden, die eine Krise vor der Ratifizierung des Youngplans erspart und auch Dr. Molden­hauer die weitere Mitarbeit ermöglicht. Aber ebenso wenig kann bezweifelt werden, daß die Aussichten für die Eini­gung zur Zeit noch sehr gering sind, so daß eine kritische Zuspitzung im Bereich der Möglichkeit liegt.

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Für einen Zuschlag zu den höheren Einkommen­steuerstufen.

Die Köln. Volksztg, bringt einen redaktionellen Artikel, der sich dagegen wendet, mit der Auferlegung einer Rotabgabe einzelne Berufsgruppen her­auszugreifen. Ein allgemeiner Zuschlag auf alle höheren' Einkommensteuerstufen würde eher tragbar sein, eventuell unter Zuweisung an die Gemeinden, die dann nicht aus anderen Quellen einen Anteil zu erhalten brauchten. Man solle jeden­falls nicht zu Mitteln greifen, die nur eine Selbsttäu­schung bedeuten und die Entschlußkraft zu einer allgemei­nen Finanzreform bei manchen Parteien nur abschwächen würden.

Neuregelung der Ministergehälter.

Berlin, 27. Febr. Der Reichstag beschäftigte sich heute in zweiter Berutung mit dem Reichsminister­gesetz. Im allgemeinen sollen nach der neuen Vorlage ausscheidende Regierungsmitglieder nur ein Ueber­gangsgeld nach der Dauer ihrer Amtstätigkeit, aber höchstens auf fünf Jahre, erhalten, das in den ersten drei Monaten den vollen Gehaltssatz und dann die Hälfte beträgt. Eine Ruherente sollen nur diejenigen Mini­ster erhalten können, die in der Amtstätigkeit ihre Ar­beitsfähigkeit verloren oder das 65. Lebens­jahr überschritten haben. Diese Ruherente soll aber auf keinen Fall 12000 Mk. jährlich überschreiten, und es sollen darauf alle sonstigen Einnahmen des Empfangs= berechtigten angerechnet werden. Das Ministergehalt wird durch die Vorlage auf 36000 Mk., das Jahresgehalt des Reichskanzlers auf 45000 Mk. festgesetzt.

Von den Rednern aller Parteien wurde die gesetzliche Neuregelung als ein Fortschritt gegenüber dem bestehen­den Zustand begrüßt. Einigkeit bestand darüber, daß parlamentarische Ministerposten keine Gelderwerbs­quelle sein dürfen. Von den Kommunisten, den Natio­nalsozialisten und den Mitgliedern der beiden Bauern­gruppen wurden auch die jetzt vorgesehenen Bezüge der Regierungsmitglieder als zu hoch bezeichnet.

Das Gesetz wurde in zweiter Beratung mit so großer Mehrheit angenommen, daß damit gerechnet werden kann, daß es auch in der später stattfindenden dritten Beratung die nach seinem verfassungsändernden Charakter erforder­liche Zweidrittelmehrheit findet.

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Die päpstliche Nunziakur protestiert gegen dieIsa.

Berlin, 28. Febr. Der Geschäftsträger der aposto­lischen Nunziatur in Berlin, Msgr. Centoz, hat, wie die Germania meldet, bei der Reichsregierung und bei der preußischen Regierung gegen die Verhöhnung der Religion und insbesondere des Papsttums durch die von der Kom­munistischen Partei in Berlin veranstaltete Arbeiterkultur­Ausstellung, die sogenannteIfa, Protest eingelegt.

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Kaas verhandelt in Rom über die kalholische Seelsorge bei der Reichswehr.

Berlin, 27. Febr. Zu der Reise des Vorsitzenden der Zentrumspartei Kaas nach Rom erfahren wir aus Ber­liner politischen Kreisen, daß Prälat Kaas, der in den näch­sten Tagen eine Erholungsreise nach dem Süden antritt, bei dieser Gelegenheit in Rom im Auftrage des Auswärtigen Amtes mit der römischen Kurie über die Stellung der deutschen Mili­tärseelsorge verhandeln wird. Es soll in diesen Verhandlungen entschieden werden, ob die militärische Seel­sorge den örtlichen Episkopaten unterstehen oder unter einem besonderen Feldbischof zusammengefaßt werden soll. Die Kurie hat sich bisher gegen diese Lösung gewehrt. Die Stellung des Feldpropstes, die seit 1920 im Etat steht, wurde daher bisher noch nicht besetzt.

Unterausschuß des Rechtsausschusses des Reichstags.

VDZ Berlin, 27. Febr. Der Unterausschuß des Rechtsausschusses des Reichstages, der die Reform der Ehescheidung vorberaten soll, beschloß am Donnerstag, als Grundlage für die weiteren Verhandlungen den im früheren Reichstag eingebrachten gemeinsamen Antrag der Sozialdemokraten, Demokraten und des Abg. Dr. Kahl (2PP.), der zur Erleichterung der Ehescheidung das Zer­rüttungsprinzip einführen will, anzunehmen. Ueber einen Antrag, die Ehescheidung auf Antrag eines Ehegatten nach Ablauf einer dreijährigen Tren­nungsfrist zuzulassen, konnte im Ausschuß keine Eini­gung erzielt werden. Zur Herbeiführung einer späteren Verständigung beantragten die Sozialdemokraten, eine solche Trennung im beiderseitigen Einverständnis zuzulassen. Die Demokraten beantragten ferner, die Trennungsfrist von drei auf fünf Jahre zu erhöhen. Ueber diese Anträge wird später im Vollausschuß entschieden werden.

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Mieterschutzgesetz und Reichsmietengesetz.

Der Ausschuß beschließt Verlängerung bis 30. Juni 1931.

Berlin, 27. Febr. Im Wohnungsausschuß des Reichstags wurden heute die beiden Gesetzentwürfe über die Verlängerung der Geltungedauer des Mieterschutz­gesetzes und des Reichsmietengesetzes beraten. Nach län­gerer Aussprache beschloß der Ausschuß gegen di Stimmen der Sozialdemokraten und Kom­munisten, die Geltungsdauer der beiden Gesetze nicht entsprechend dem Vorschlag der Reichsregierung bis zum 30. Juni 1932, sondern nur bis zum 30. Juni 1931 zu ver­längern.

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Hoher ungarischer Orden für Runtius Orsenigo.

WT'B Budapest, 27. Febr. Der Reichsverweser hat dem bisherigen päpstlichen Nuntius in Budapest, Cesare Orsenigo, der zum päpstlichen Nuntius in Berlin ernannt wurde, das ungarische Verdienstkreuz erster Klasse mit dem Stern ver­liehen. Die Auszeichnung hat der Minister des Aeußern, Walko, dem scheidenden Nuntius im Ofener Palais der Nun­tiatur überreicht. Orsenigo wird nächsten Mittwoch dem Reichsverweser das Abberufungsschreiben überreichen und, wie verlautet, nach Rom abreisen.

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Französische Ablehnung des Zollwaffenstillstandes.

WIB Genf, 27. Febr. Die französische Ablehnung des Zollwaffenstillstandes, die entschieden eine noch größere Ueberraschung darstellt als die grundsätzliche Opposition Italiens in der vorigen Woche, führte heute abend zu einer Zusammenkunft der Mitglieder des Präsidialbüros der Konferenz mit den hier anwesenden Mitgliedern des Wirtschaftsausschusses des Völkerbundes. Man kam über­ein, den Unterausschuß, in dem die französische Erklärung heute abgegeben worden ist, morgen nachmittag zu einer kurzen Sitzung einzuberufen. Sie soll nur die rein for­melle Zustimmung des Ausschusses zu einem Antrag des

Vorsitzenden Coliju bringen, die Arbeiten dieses Ausschusses für einige Tage zu unterbrechen. Inzwischen soll in Pri­vatbesprechungen nach einem Ausweg aus der Sackgasse gesucht werden, in der sich die Konferenz heute abend zu befinden scheint.

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Kundgebungen gegen die spanische Monarchie.

Paris, 28. Febr. Wie aus Madrid berichtet wird, hielt der frühere Ministerpräsident Sanchez Guerra gestern nachmittag im Theater Zarzuela vor etwa 3000 Personen die angekündigte Rede. Wie das Journal berichtet, ist das Theater, in dem Sanchez Guerra sprach, mit dem kö­niglichen Palast und dem Ministerpräsidenten telephonisch verbunden gewesen, um die Rede des früheren Minister­präsidenten sofort dorthin mitteilen zu können.

Im Anschluß an die Kundgebung durchzogen etwa 3000 Personen, zumeist Studenten, unter Mitführung

oter Fahnen die Hauptstraßen von Madrid mit den Rufen: Es lebe die Republik, Nieder mit der Monarchie! Zwischen Polizei und Manifestanten soll es zu mehreren Zusammenstößen gekommen sein.

Neuer Kurs in Südkirol.

Innsbruck, 26. Febr. Selbstverständlich hat auch in Südtirol die Amnestierung von zehn Südtirolern Ge­nugtuung hervorgerufen. Man erwartet in Tirol eine

vollständige Neuorientierung der italienischen Politik in Südtirol, wenn anders der Abschluß des österreichisch=ita­lienischen Freundschafts= und Schiedsgerichtsvertrages einen Sinn haben soll. Den Amnestierungen haben also nach der Auffassung in Innsbruck unverzüglich entspre­chende Weisungen an die Südtiroler faschistischen Behörden zu folgen, die eine andere Behandlung der deutschen Be­völkerung garantieren. Besonders erwartet man dies­seits des Brenner die Aufhebung des Verbots des deut­schen Privatunterrichts, ferner die Zulassung der deutschen Sprache in den Schulen.

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Genesung des Außenministers.

Berkin, 27. Febr. Reichsaußenminister Dr. Curtlus, der am Mittwoch durch eine Erkältung ans Bett gefesselt war. hat sich gesundheitlich so erholt, daß er heute der Youngplan­Beratung in den vereinigten Reichstagsausschüssen beiwohnen konnte.

Machtpolikir und Voilerdand.

Fürst Bülow als Derfechter der Stresemannschen Völkerbundideen

Was ein Toter spricht.

s In diesen Tagen und Wochen, wo die berufenen Ver­treter des Vorkes im Reichskabinett und im Reichstag und in seinen führenden Ausschüssen für auswärtige und Haus­haltsangelegenheiten um die Lösung des Problems ringen, das in den Worten

Vom Dawesplan zum Toungplan eingeschlossen ist, schweift der Blick der Nachdenklichen gar manches Mai zurück zu der geschichtlichen Entwicklung der Dinge, die uns aus einem der mächtigsten Länder des Erd­balls zu einem Volke werden ließen, das im nacktesten Sinne um seine wirtschaftliche Existenz und seine politische Geltung in unerhörtem Ausmaße kämpfen muß. Noch am Mittwoch dieser Woche kam es bekanntlich in den vereinig­ten Reichstagsausschüssen bei der Besprechung des im Haag abgeschlossenen Liquidationsabkommens mit England in der Sprache kiefster Bitternis zum Aus­druck, daß dieses Abkommen nicht auf der Grundlage gegenseitigen Entgegenkommens, sondern

unter brutaler Machtausautzung mist uns abgeschlossen murde. Man sprach hierbei davon, daß es sich um ein gerade zu unsittliches Vor­gehen unserer Gegner handele, und man war genötigt, die Aussprache über dieses deutsch=englische Ab­kommen vertraulich zu Ende zu führen, um in der Oeffentlichkeit nicht noch mehr Oel auf das Feuer der Er­regung zu gießen, in die wir durch das unbarmherzige Muß der Youngplangesetze und die hierfür zu erbringen­den finanziellen Opfer geraten sind.

Wir wollen uns heute nicht dabei aufhalten, daß Snow­den, der englische Schatzkanzler, der uns im Haag so brutal aufkniete, ein Vertreter jener englischen Arbeiter­partei ist, die gleich der deutschen Sozialdemokratie in ihrer Weltauffassung die machtpolitische Idee eigentlich grundsätzlich verwirft, und auch an dem Treppenwitz der jüngsten mitteleuropäischen politischen Ent­wicklung nur leise lächelnd vorübergehen, daß jenes Oesterreich, für das wir doch eigentlich in Nibe­lungentreue in den Weltkrieg gingen, in dem aalglatten Bundeskanzler Dr. Schober einen Staats. mann fand, der im Haag die Befreiung seines Landes von allen Reparationen erwirkte, um dann spornstreichs mit demselben Italien einen Freund­schaftsvertrag abzuschließen, das nach einer kühnen Auslegung des Dreibundvertrages während des Welt­krieges den um ihre Existenz ringenden Mittelmächten in den Rücken fiel. Auch wollen wir jetzt nicht da­bei verweilen, daß, noch bevor der österreichisch= italienische Vertrag der deutschen Oeffent­lichkeit bekannt geworden ist, Bundeskanzler Dr. Schober nach der deutschen Reichshauptstadt eilte, um in offiziellen Trinksprüchen, in Radiofansaren und in aus­giebigen Gesprächen mit Vertretern der reichsdeutschen Presse imKüß die Hand, Euer Gnaden=Stil" uns der herz­lichsten Freundschaft und Treue des Brudervolkes von Wien und Umgegend zu versichern, und die grundsätzliche Bereitschaft zu einem

handelsvertraglichen Verhältnis

mit dem hart auch um der reichsdeutschen Brudertreue willen leidenden Deutschen Reiche zu erklären.

Wir tadeln die deutschen Staatsmänner nicht, die Dr. Schober in Berlin freundlich die Hand entgegenstreckten, um mit jenem Wien erneut zu paktieren, das heute so sehr von der Gnadensonne der ehemaligen Kriegsgegner be­strahlt ist, die aus der ehemaligen österreich=ungarischen Doppelmonarchie, gleichfalls unter brutaler Machtaus­nutzung, ein staatliches Zwerggebilde erstehen ließen, dessen politische Freundschaft uns schon um deswillen keine gro­ßen Zukunftshoffnungen erwecken kann, weil wir die Göt­ter fürchten, die dem österreichischen Rumpfstaat das Ge­schenk der Reparationsbefreiung im Haag gewährt haben. Mit dem Marterpseil derWiedergutmachung in der Brust, den man uns im Haag nicht entfernt, wenn auch vielleicht, wie Dr. Curtius und die übrigen Männer, die dort als Anwalt der deutschen Sache mit eiserner Willens­kraft für uns gekämpft haben, etwas gelockert hat, muß uns die erneute Freundschaftsbeteuerung des in der Gunst und in der politischen Gewalt der ehemaligen Feindbund­mächte stehenden Landes an der blauen Donau, geschichtlich genommen, immerhin etwas wehmütig stimmen.

Nein, wir zürnen unsern Staätsmännern nicht, die in den Tagen, wo wir in Berlin über Youngplan und Finanz­gesetze uns im engsten Kreise der deutschen Volksgenossen Seele und Gehirn zermarterten, dem österreichischen Bun­deskanzler in Banketten und Festvorstellungen unsere ehr­erbietige Referenz erwiesen, denn in der hohen Politik ist kaum Raum für menschliche Sentiments. Da gilt nur das, was die gesunde Vernunft, was die Staatsraison gebiete­risch von uns fordert. Aber gerade, weil dies der Fall ist, weil die machtpolitische Idee, trotz Völker­bund und Kelloggpakt, innner noch die Dominante ist, auf der die waffenstrotzenden ehemals feindlichen Völ­

ker uns ausspielen, gebietet der historische Ablauf der Ge­schehnisse der letzten zwei Jahrzehnte, daß wir in dem Augenblick, wo auch wir durch die Erneuerung des Verhältnisses zu Wien, des durch einen Freundschaftsvertrag mit Italien wieder in die europäische Politik eingetretenen Oesterreich auf dem politischen Schachbrett Europas wieder eine Fi­gur darzustellen beginnen, die Augen offen halten. Wir müssen dem von Mussolini, dem ganz machtpolt­

tisch eingestellten italienischen Staatsmann, zu uns kom­menden österreichischen Freund mit gewisser Reserve begeg­nen, und dürfen uns bei dem Abschluß des bevorstehenden neuen Vertrages nicht durch brüderliche Herzlichkeit die Sinne umgarnen lassen. Weiß doch die deutsche Oef­fentlöchkeit nicht und die Zeit der Geheimdiplo­matie ist doch vorbei, was Schober mit Musso­lini eigentlich vereinbart hat.

Wenn wir diesen Zeilen die Worte voranstellen:Was ein Toter spricht, so sind es Erinnerungen anden Fürsten Bülow, die ein deutscher Journalist, Dr. Philipp Hiltebrandt jüngst im Kurt Schroe­der=Verlag(Bonn) aus eigenem Erleben im persön­lichen und geistigen Verkehr mit dem Kanzler der Glanzzeit des Reiches herausgegeben hät. Wenn auch die internatio­nale politische Konstellation sich seit dem Weltkrieg wesent­lich verschoben hat, wenn auch Rußland im Rahmen der europäischen Politik heute als ein Outsider erscheint, und das dezimierte Oesterreich für die Politik Mittel­europas und für uns zu einem fast einflußlosen Fak­tor geworden ist, so ist die Auffassung, die Fürst Bülow namentlich in der Zeit der philosophischen Abgeklärtheit des Alters in vielerlei Gesprächen über unsere auswärtige Poli­tik, unsere innere Politik, über das, was während des Krieges hätte geschehen müssen, sowie über die Kriegs­schuldlüge, geäußert hat, in mancher Hinsicht auch für unsere heutige Zeit noch bedeutsam genug. Daß auch man­ches strittig ist, was Bülow über Bethmann=Hollweg, den armen Bethmann und die weiteren Nachfolger im Kanz­leramte aussagte, gilt ebenso für den Fürsten Bülow, wie es für Bismarck galt, als er aus dem Amte geschieden war. Aus allen Gesprächen, die Hiltebrandt aufzeichnete, erschei­nen uns zwei Aeußerungen besonders bemerkenswert. Als Hiltedrandt den Fürsten Ende Februar 1919 über den Frie­den befragte, antwortete er nur:

Der Vernichtungswille unserer Feinde hört an dem Punkte auf, an dem der ernstliche Widerstand des deut­schen Volkes beginnt.

Dieser Standpunkt ist um so bemerkenswerter, als der Fürst, dem der Zusammenbruch der welt= und kontinental­politischen Stellung des Deutschen Reiches tief zu Herzen ging, während seiner ganzen diplomatischen und staats­männischen Tätigkeit niemals das war, was verwandte Züge mit der Mentalität der Kreise aufzeigt, die man heute als Katastrophenpolitiker zu bezeichnen pflegt. Die Frage ist naheliegend, was Fürst Bülow ge­tan haben würde, wenn er anstelle von Strese­

mann, dessen außenpolitisches Wirken in der Nachkriegs­zeit er Hiltebrandt gegenüber außerordentlich zustim­mend würdigte, seit dem Diktat von Versallles Deutschland auf den Reparationskonferenzen vertreten hätte. Wahrscheinlich hätte er genau so gehandelt, wie Stresemann, dessengroßen Optimösmus er lobte, denn der heimgegangene Kanzler, der immer wie­derholte:Der Vernichtungswille unserer Feinde hört dort auf, wo unser ernstlicher Widerstand beginnt, hat, nach den wörtlichen Aufzeichnungen von Hiltebrandt bei anderer Gelegenheit, auch gesagt:

Wir müssen in unserer Nol die Völkerbund­ideen als unseren Schild vorantragen, da wir keinen anderen Schutz haben, und der ausgezeichnete Stresemann kut das in un­übertrefflicher Weise. Aber wir dürsen uns auch keinen Täuschungen darüber hingeben, daß wir damit nur magere Ergebnisse erzielen.

Das besagt eigentlich, daß auch der kluge, reicherfahrene Staatsmann in den Augenblicken, wo er sich auf den Boden der realpolitischen Tatsachen stellte, den Gedanken an ernstlichen Widerstand preisgab und sich, angesichts auch unserer machtpoli­tischen Ohnmacht, im Sinne unserer heutigen Ver­ständigungs= und Befriedungspolitiker in den auf die [Versöhnung abgestellten Bezirk der Völker­bundideen flüchtete.

Die heutige Nummer umfaßt 18 Seiten