Aachen 1899. Nr. 742.

51. Jahrgang. Dinstag, 10 Oktober Erstes Blatt.

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Uttschen=Thell: Chefredakteur Carl Schütte; für den Abrigen

Verantwortlich für den volltischen=Thell: Chefredakteur Cark Schütez für den Abrigen rodaktionellen Theil: H. Soldausl; für den Inseraten= und Reklamentheil: H. Faßbaender.

Sesin z m ie Aaien iun. öeitung Hahens mit ansgebehntekem Leserkreiste.

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Posbezugspreis für vus beursche Reich, O. sterreich=Ungarn, Luxemburg M.

Wdonnement auf dieGonntagsansgabe Pos=Zeitungs=Preiskurant Nr. 2195), 5

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Deock von Hermann Kaatzer. Verlag von Raatzers Erben in Seschästsstelle: Büchel 56 im Hintersanse.

Welches aber sind die Thatsachen, mit denen eine be­eeegene Farz=ltung des Arbdelsvenhziltasses in arster Boite

., Pas Bed#efniß der Arbeiterklasse nach Gleich­

berechtigung bei Abschluß des Arbeitsvertrages. Die Gesetz­gebung hat diese Gleichberechtigung ausgesprochen, der Kaiser

1890 auss Feierlichste nochmals anerkannt. Aber wir sind, wie ½, noch weit entsernt, daß sie in den Oidnungen des Lebens praktisch zur Auerkennung gelangt wäre.

2 Die zweite Thatsache ist, daß in den modernen Pro­duktionsverhältnissen die Arbeitsbedingungen der großen 255.., a Pschnitlbeigenschaften begabten Arbeiter nicht mehr individuelle, sondern gemeinsame sind, ja, daß die weizer. Arheitsbedingungen andere ais gemeinsame gar nicht mehr sein können. Die Arbeitgeber behandeln bei Bestimmung der wichtigsten Arbeitsbedingungen, und zwar nothwendig, ihre Acbeiter rezelmäßig als Gesammihelt.. utpeudtg

Aus diesen beiden Thaisachen, der Gleichberechtigung der

Arbeiter beim Abschluß des Arbeitsvertrages und der Gemein­

#re#,. der, WPigeze#sgreselten Arbeitsbedingungen für die

große Masse ver geveues eines Gewerbes, ergibt sich mit Noth= wendigkeit die Folge, daß die gemeinsam Interessirten das Recht haben müssen, ihre Interessen gemeinsam zu berathen, als Gesammtheit mit ihren Ardeitgebern zu verhandeln und ihre

identischen Interessen gemeinsam geltend zu machen. Keine Neu­ordnung des Arbeitsverhältnisses kann Befriedigung schaffen, die nicht auf dem Prinzip der Feststellung der Arbeitsbedingungen

mit der Gesammtheit der Arbeiter, die sie angehen, beruht

einer Gesammtheit kann man aber nur verhandeln durch ihre Vertreter, und das Vorhandensein von Vertretern setzt eine Organisation der Gesammtheit voraus, und so gelangen wir zu der Nothwendigkeit einer Oedrung, bei der die Arbeits­bedingungen von den Arbeitgebern mit den Vertretern der Arbeiter, für welche die Arbeitsbedinzungen gemeinsam sind, vereinbart werden und die Organisationen der Arbeiter die

ie für die Beachtung der vereinbarten Bedingungen durch die Arbeiter übernehmen.

Alleir, wird man einwenden, gerade das kollektive Ver­handeln der Arbeiter mit ihren Arbeitgebern führe zu jenen großen Arbeitskillständen, die alle beklagen. Wie der Geschäfts­inhaber zu verkaufen sich weigere, wenn der Kunde den Preis nicht zahlen will, unter vin jener nicht glaubt verkaufen zu lbanen, so stellten die Arbeittr gemeinsam die Arbeit ein, winn die von ihren Vertretern gestellten Forderungen nicht angenommen würden. Und kein Zweifel, es lie,t dies in der Natur der Dinge! Da die Arbeitsbedingungen für die Mosse der Arbeiter gemeinsam sind, ist es die nothwenige Folge, daß da, wo diese Bedingungen ungenügende sind, auch die Weigerung, sie an­zunehmen, gleichzeitig staltfindet. Allein, es ist eine geschichtliche Thatsache, daß Arbeitseinstellungen weit häufiger sind, wo die gemeinsamen Arbeitsbedingungen, statt mit Organisationen der Arbetrer vereinburt zu werden, den Aebeitern einseitig auferlegt werden.

Vor Allem aber hat sich aus diesen Kämpfen zwischen Oeganisation und Organisation eine eivilisirtere Methode zue Erledigung der Interessenverschiedenheiten herausgebildet, das Schieds= und Einigungsverfahren, dessen Wirksamkeit das Besehen von Oeganisationen der beiden Jnteressenten zur unerläßlichen Voraussetzung hat

Bei diesem Schieds= und Einigungsverfahren handelt es sich um etwas völlig Verschiedenes von der Thätigkeit unserer Gewerbegerichte. Diese haben darüder zu befiaden, ob die Bedingungen eines bereits abgeschlossenen Arbeitsvertrages in einem einzelnen Falle erfüllt worden sind oder nicht. Beim Schieds= und Einigungsverfahren gilt es, die Bedingungen eines erst abzuschließenden Albeitevertrages festzustellen. Der Unter­schied ist auch von großer praktischer Bedeutung. In Folge desselben eignen sich nämlich Gewerbegerichte, die in ihrer Sphäre vortrefflich wirken, sehr wenig als Schieds= und Einigungs­kammern. Zur Beuttheilung, ob ein bereits abgeschlossener Arbeitsveitrag erfüllt ist, braucht es bloß allgemeinen Verstand und Unparteilichkeit; zue Feststellung der Bedingungen eines künftigen Arbeitsvertrages bedarf es außerdem spezieller Sach­kenntniß in dem berreffenden Gewerbe, insd=sondere eines ge­nauen Urtheils über die Marktverhältnisse. Es sind hier An­gehörige des betr. Geweibes als Schiedsmänner unentbehrlich, wenn ein Spruch gesätt werden soll, der Bestand haben soll.

Damit diese glücklche Gestaltung möglich werde, sind in Deutschland noch große Gesetzsveränderungen ganz unerläßlich. Vor allem ist erstens nothwendig, daß das Versprechen des gegenwärtigen Reichskanzlers endlich erfüllt und jene Verbote, wonach in einzelven deutschen Staaten Arbeite­verbänden zur Besserung der Arbeitsbek ingungen alspolitischen Vereinen" die Verbindung unter einander untersagt is, im ganzen deutschen Reiche beseitigt werden.

Zweitens erscheint ein Gesetz ubihig, welches das geltende Gesetz über Gewerbegerichte, so weit sich dessen Bestim­mungen auf Einigungsverfahren beziehen, beseitigt und neue Bestimmungen an deren Stelle setzt. Dabei müßte man sich aber hüten, eine bestimmte Form des Schieds= und Einigungs­verfahrens vorzuschreiden Es muß die Möglichkeit bestehen, diese Form den besonderen Verhältnissen eines Gewerdes an­zupassen.

Drittaus sind Aenderungen in der Gewerbeordnung unerläßlich. Sie muß zum Ausdruck bringen, daß die Gesetz­gebung die Regelung der Arbeitsbedingungen durch die beiden Interessenorganisationen als zulässig und bindend ansieht. Zu dem Zweck müßte vor allem

a. der§ 152 Absatz II der Gewerbeordnung be­seitigt werden. Dieser Adsetz bestimwt, wie schon bemerkt, daß jedem Theilnehmer an Preis= und Lohnverabredungen der Rücktritt von solchen Verträgen ohne Weiteres freisteht und aus letzterem weder Klage noch Einrede stattfindet. So lange diese Bestimmung besteht, kann jedes arbeitswillige Werk oder jeder arbeitswillige Arbeiter durch Weigerung, sich dem zwischen beiden Organisationen Vereinbarten zu fügen, die Wirkung der Vereinbarung in Frage stellen und an Stelle des Friedens einen neuen Kriezszustand hervorrufen,

b Somit müßte nach Beseitigung von§ 152 Absatz II der Gewerdeordnung der§ 105 folgendermaßen lauten:

Die Feßtsetzung der Verhältnisse zwischen den selbst­kändigen Gewerbetreibenden und den gewerdlichen Arbeitern ist vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Be­schränkungen, Gegenstand freier Uebereinkunft. Eine solche Uebereinkunft kann nicht bloß zwischen ein­zelnen Gewerbetreibenden und einzelnen Arbeitern, son­dern auch zwischen einzelnen Gewerbetreibenden oder Kor­vorationen von Gewerbetreibenden und Korporationen von Arbeitern rechtsverdindlich abgeschlossen werden.

Wo immer eine Korporation von Arbeitgebern oder Arbeitern die Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder ver­einbart, haftet das Korporationsvermögen für die Er­füllung dieser Arbeitsbedingungen seitens ihrer einzelnen Bithglieher

Im dringenden Interesse der Rechtsleichheit müßte

Passscg erhiele se vütre danst die heute uch sesiende. Rechtsgleichheit der Arbeiterklasse mit den übrigen Gesellschafts­

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an, Rat ber nühien Reiornen wöcde hie. 1aau. uie

ehchrfag woinigen beformen warde die sogenannte Zucht­

wirklich Gesetz werden. Es wäre damit aus­gesprochen, daß die arbeitenden Klassen keine Aussicht haben selsadandig in hesern

#. Lee, I. mire damit gesagt, daß ein anderes gelten soll, für die Armen wie für die Reichen. Der

Ssganre. 8T. Ka, eigg, Vertheidigung auf die Arme, die Hin­gevung, die Opserwilligkeit der großen Masse angewiesen ist, würde, wo es sich um die Vertheilung der Güter des Friedens

Bsraer sauen zurnsen: ich lenne euch nicht als gleichberechigte Bürger, sondern nur als Unterworfene, die zufrieden sein müssen mit dem, was ich von oben als für sie ausreichend erachte.

Handelt es sich bei dem Aufsteigen der arbeitenden Klassen um eine willkürliche, von Agitatoren muthwillig in Szene gesetzte Bewegung, so wäre es nicht unmöglich, daß mit Gewalt trotz­dem Ordnung geschaffen würde. Allein es handelt sich um eine welthistorische gesetzwäßige Entwickelung, welche durch Anwendung von Gewaltmitteln auf Abwege geleitet, niemals aber

verhesre P. ie 8. en.Würde der Staat den Arbeitern das

gemeine Recht, daß er allen Staatsbürgern zu Theil werden

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Er. die#isorischen und geselschaftlichen Zosammenhänge der Arbeiterbewegung seine Regierung begonnen. Große Hoffnungen haben sich an seine hochherzigen Akte vom Jahre 1890 geknüpft Möge er unser Volk und Reich vor der Wiederkehr jener Politik bewahren, die ihnen schon einmal so sehr geschadet hat. Möge

S. de, scheitenden Klassen daselbe Recht wie allen übigen

veuischen Gesellschaftsklassen zu Theil werden lassen.

Die Scharfmacherpresse fällt schon mit großer Eat­rüstung über die Rede her. Das WortArbeiter­organisation Zist den Herren, welche sich jener Organe als Sprachrohre bedienen, als ein Greuel verhaßt; sie wollen von einer Arbeitervertretung uun einmal nichts wissen, weil sie befürchten, daß ihnen Gewalt geschehe, wiewohl gerade durch eine Organisation, wie sie das Centrum in den Arbeitskammern will, sowohl den Interessen der Arbeitnehmer als auch der Arbeitgeber selbst gedient ist, und durch die Organisation dem Terrorismus zu Leibe gegangen werden kann. Statt dessen will man Zwangs­mittel, wie die Zuchthausvorlage, und weil Herr Breutano gegen diese Vorlage scharf zu Felde gegangen ist, ergießt sich die ganze Schale des Zornes jener Herren über das Haupt desKathedersozialisten. DiePost und die .B. N. N gehen hier Hand in Hand.

DiePost schreibt, sie könne nur ihrem Bedauern darüber zum wiederholten Male Ausdruck geben, daß diese sozialpolitisch so verhäsguißvoll wirkende wissen­schastliche Schule einen so weitgehenden Enfluß in den nationalökonomischen Fikultäten der deutschen Uriversitäten besitze.

Eine schärfere Tonart schlägt das Kruppsche Ocgan bei seinem Verlangen nach einem Kathedersozialisten­Manlkorbgesetz an. Nachdem das Blatt seinen Respekt vor der deutschen Wissenschaft bekundet, schreibt es, wenn diese Wissenschaft auf eine geradezu demazogische, ver­hetzende Art in den Dienst der Tagespolitik gestellt werden solle, sei der allerschärfste Protest und Widerstand ge­boten. Man sei jetzt bei dem Kathedersozialismus an eine Grenze gekommen, wo im Interesse der Staats­erhaltung einmal ein energisches Halt geboten werden müsse, möge noch so viel Geschrei wegen Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft und Künste erhoben werden.

Die Scharfmacher wollen also wohl so eine Art lex Brentano?!

einer

endlich der§ 153 der Gewerdeordnung in seiner jetzigen Fassung beseitigt und an seine Stelle die Bestimmung gesetzt werden, daß alle Vergehen und Verbrechen, begangen, um Abeitgeber oder.beiter zur Theilnahme an Bereinigungen oder Verabredungen, die eine Einwirkung auf Arbeits= oder Lohnverhältnisse bezwecken, zu bestimmen oder von der Theil­natme an solchen Vereinigungen oder Verabredungen abzuhalten,

+ Der sozialdemokratische Parteitag,

der gestern, Sonntag, in Hannover begann, beansprucht ein besonderes Interesse, da auf ihm der Streit über die Grundanschanungen der Partei zur Sprache, allerdings wohl nicht zum endgültigen Austrag kommen wird. Ver­muchlich wird es dabei heiß hergehen. Die verschiedenen Kreiskouferenzen und Parteiversammlungen, welche in der letzten Zeit stattgefunden haben, zeigten in der Bontfardig­keit der auf ihnen zum Ausdruck gelangten Meinungen, daß in der Partei derBrüderlichkeit" doch recht ungleiche Brüder vertreten sind.

Ein scharfes Gericht dürste über Bernstein abgehalten werden, der durch seine neuesten Veröffentlichungen zum sozialdemokratischen Programm eine lebhafte Debaite inner­halb der Partei hervorgerufen hat. Auf dem Parteitage wird Bebel mit ihm abrechnen und über dieAngriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellung­nahme der Partei sprechen. Bezeichnender Weise ist Bebel kein Correferent bestellt worden, überhaupt, wenn die stärkere orthodoxe Richtung machen könnte, was sie wollte, würde sie mit Bernstein recht unsauft umspringen und ihn am liebsten aus der Partei ausschließen. Aber, wenn auch Bernstein selbst sich nicht seiner Haut wehren kann, da er als Redakteur des verbotenen ausländischenSozialdemokrat im Auslande leben muß, so dürsten ihm doch auf dem Parteitage genügend viel und tüchtige Vertheidiger er­wachsen, die für ihn einspringen, denn man zieht durchaus nicht überall mit denKetzerrichtern an einem Strange. Es gibt sehr vieleBernsteine in der Partei. Man wird sich darum wohl hüten, die unbeqzeme Opposition allzu hart anzufassen und Bernstein dürste also in Hannover doch noch verhältnißmäßig gut abschneiden.

Zur besseren Beurtheilung der bevorstehenden Käupfe wird es gut sein, wenn wir uns vorher klarlegen, was Bernstein eigentlich will.

Bernstein wendet sich direkt gegen das Erfurter Programm, er rüttelt energisch an den Geundsäulen der radikalen, in der Verelendungstheorie großgezogenen, hergebrachten sozialdemokratischen Weltanschauung und zer­sört grausam die Träume derer, die von der Gewalt­politik das Heil erwarten und verweist die sozialdemo­

kratischen Zakunftsschwärmer auf den Weg der praktischen

Mitarbeit, indem er ihnen räth, die Aufgaben bürgerlich radikalen Partei zu übernehmen.

Bernstein bestreitet es, daß die Entwickelung der bürgerlichen Gesellschaft zur Verelendung derselben und zur Monopolisirung des Kapitals in den Händen Ein­zelner führe. Es könne, so sagt er, keine Rede davon sein, daß z. B. für die Landwirthschaft, wie es im ersten Absatz des Erfurter Programms heißt, die Entwickelung mit Naturnothwendigkeit zum Untergang des Klein­betriebes führe, und das Land als Produktionsmittel mache ganz und gar keine Miene, dasMonopol einer verhältnißmäßig kleinen Zehl von Großgrundbesitzern zu werden, wie es in dem Programm weiter heißt. Dem­gemäß kann Bernstein auch nicht, was im Absatz 2 ge­schieht, die Bauern als eineverfinkende" Mittelschicht der Gesellschaft betrachten und von Zunahme ihres Elendes und ihrer Knechtung reden. Zweifelhaft ist Bernstein weiter, was im Absatz 3 des Programms gesagt wird, daß die Armee der überschüssigen Arbeiterimmer massen­hafter wird, und unrichtig erscheint ihm, daß der Klassen­kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat die moderne Gesellschaft in zwei feindliche Heerlager trennt. Daß die Krisen(Absatz 4)immer umfangreicher und verheerender werden, ist nicht unmöglich,aber aus verschiedenen Gründen fraglich geworden. Und schließlich sagt Absatz 5 wiederum, daß das Privateigenihum an den Produktions mitteln heute u. a zum Mittel geworden sei, Bauern zu expropriiren, wo­rauf nach Bernstein das zur Kritik von Absatz 1 Gesagte gilt.

Den sechsten Satz des Erfurter Programms will er nur nach einer Abänderung unterschreiben. In diesem sechsten Satz spricht das Erfurter Programm aus, daß die gesellschaftliche Umwandlunguur das Werk der Ar­beiterklasse seinkann. Bernstein will diesen Satz dahin abändern, daß die Umwandlungin erster Reihe" das Werk der Arbeiterklasse seinmuß. Nicht die Ar­beiter, sondern die Arbeiter der freien Berufe, Schrift­steller, Lehrer, Künst'er, Aerzte, Techniker, soweit sie sich zur Sozialdemokratie rechnen, stellten die kenntnißreichsten, vermittelungslustigen, entschiedensten und kampfeslustigsten Kräfte der sozialistischen Bewegung dar. Ein großer Prozentsatz gerade der besser gestellten Arbeiter enthalte sich selbst in Deutschland jeder neunenswerthen Mitarbeit an der sozialistischen Bewegung, und in dem Zuwachs aus den sogenannten freien Berufen liege eine Gewähr des Sieges der Sozialdemokratie. In Wahrheit wirkten immer mehr Kräfte der Gesellschaft direkt und bewußt an diesem Werke mit, die keine Proletarier im Sinne der Theorie sind.

Bernstein wendet sich überhaupt gegen die Annahme, daß die Durchführung der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft nur Sache der Arbeiterklasse sein könne. Sozialismus sei zu keiner Zeit nur Sache der Arbeiter gewesen, und die Aussicht, ohne stärkeren äußeren Anlaß in absehbarer Zeit die ganze um Lohn arbeitende Klasse zur größeren Theilnahme an der sozsalistischen Aktion zu bewegen, sei'emlich gering. Bernstein hält denjenigen Sozialdemokraten, die den Gedanken des reinen Proletariats der sozialdemokratischen Partei kultiviren, vor, daß sie, um logisch zu sein, auf Entfernung aller Nichtproletarier aus derselben hinwirken müßten, wie dies seiner Zeit ein Theil der fravzösischen Arbeiter in der Jaternationale ver­suchte und vielen englischen Arbeitern als unbedingtes Prinzip einer Arbeiterpartei heute noch vorschwebt.

Bernstein will Nichts davon wissen, daß die Ecoberung der politischen Macht möglich sei zur Verwirklichung der Waarenproduktion in eine sozialistische Produktion, weil ein solidarisches Interesse der Arbeiter nicht vorhanden sei und die Arbeiter auch nicht die Befähigung besitzen würden, die politische Macht auszuüben.

Er.streitet, daß überhaupt die gesellschaftliche oder genossenschaftliche Produktion nach dem Sinne der Sozialdemokratie durchführbar sei.

Nur eine ganz nach äußerlichen Merkmalen urtheilende Betrachtungsweise, so schreibt er,kann annehmen, daß mit der Entfernung des oder der kapitalistischen Eigenthümer das Wich­tigste für die Unwandlung der kapitalistischen Unternehmungen in lebensfähige sozialistische Gebilde gescheden sei. So einfach ist die Sache nun wirklich nicht! Diese Unternehmungen sind sehr zusammengesetzte Oeganismen, und die Euffernung der Leitung, in die alle anderen Organe zusaumenlaufen, bedeutet für solche, wenn sie nicht von völliger Umgestaltung der Orga­nisation begleitet is die alsbaldige Auflösung"

Bekanntlich sind die meisten genossenschaftlichen Unter­nehmungen, welche die Sozialdemokratie als Probe auf ihre Theorie eingerichtet hatten, elend verkracht. Die sozialdemokratische Kritik suchte die Gründe des Mißlingens lediglich in dem Mangel an Kapital, Kredit und Absotz und erklärte das Verkommen der nicht ökonomisch geschei­terten Genossenschaften aus dem korrumpirenden Einflaß der sie umgebenden kapitalistischen bezw. individualistischen Welt. Bernstein wendet sich entschieden gegen solche Be­schönigungsversuche. Ganz richtig sogt er:

Von einer ganzen Reihe sinanziell gescheiterter Produktiv= genossenschaften steht es fest, daß sie genügende Betriedsmittel hatten und keine größeren Absotzschwierigkeiten, als der Durch­schnittsunternehmer Wäre die Produktiv=Association der ge­schilderten Art wirklich eine der kapitalistischen Unternehmung überlegene oder auch nur ebenbürtige ökoromische Kraft, dann hätte sie sich mindestens in demselben Verhältniß halten und auf­schwiegen müssen, wie die vielen mit den bescheidensten Mitteln begonnenen Privatunternehmungen, und hätte sie dem moralischen Einfluß der umgebenden kapitalistischen Welt nicht kläglicher erliegen dürsen, wie sie es immer und immer wieder gethan. Die Geschichte der nicht finanziell gescheiterten Broduktivze­nossenschaften spricht fast noch lauter gegen diese Form der republikanischen Fabrik, wie die der verkrachten. Denn sie besagt, daß für die ersteren die Fortentwickelung überall Exklusivität und Privilegium heiß.

Und weiter:

Dort, wo die Genossenschaft Gleichheit in der Werkstatt, volle Demokratie, Republik untersellt, kann sie nur eine sehr bescheidene Größe erlangen; sobald eine gewisse Größe erreicht ist, versagt die Gleichheit, weil Differenzirung der Funktionen und damit Unterordnung nothwendig wird. Wird die Gleichheit aufgegeben, dann wird der Eckstein des Gebäudes entferut, und die anderen Steine folgen mit der Zeit nach, Zersetzung und Umsormung in gewöhnliche Geschäfts­

Mun ch e die Möglichkeit der Ausdehnung abgeschnitten, es bleibt bei der Zwergform. Das ist die Alternative aller reinen Produktiv=

Scelle Thate in diesem Konsilk sud sie ale entweder der­hellt oder verkümmert.

Die selbstregierte genossenschaftliche Fabrik, be­kanntlich das sozialdemokratische Ideal, erklärt Bernstein mit Ueberzeugung für ein unlösbares Problem.

Die Republik ist in der Werkstatt, so sagt er, ein um so schwierigeres Problem, je größer und reicher gegliedert diese beziehungsweise das Unternehmen ist. Für außergewöhnliche Zwicke mag es angehen, daß Menschen ihre unmitteldaren Leiter selbst erneunen und das Recht der Absetzung haben; aber für die Aufgaben, welche die Leitung eines Fabrikunternehmens mit sich bringt, wo Tag für Tag und Stunde für Stunde prosaische Bestimmungen zu tresfen sind und immer Gelegenheit zu Reibereien gegeben ist, da geht es einfach nicht, daß der Leiter, der Angestellte der Geleiteten, in seiner Stellung von ihrer Gunst und ihrer üblen Laune abhängig sein soll. Noch immer hat sich das auf die Dauer als unhaltbar erwiesen und zur Veränderung der Formen der genossenschaftlichen Fabril

geführt.

Bernstein hat bei seiner Kritik noch die Vorstellung von Produktivgenossenschaften, bei denen die Mitglieder von dem Ertrage der gemeinsamen Arbeit ihren beson­deren Nutzen haben. In der Idee des sozialdemokratischen Zukunftsstaates wird die Sache noch ungünstiger. Im Zukunftsstaate haben alle Genossenschaften nur zu Nutzen der Gesammtheit des Staates zu arbeiten. Es gibt kein Privateigenthum der Genossen, ebensowenig ein Privat­eigenthum der Genossenschaften. DerProsit, ohne den, wie schon Bebel in Hamburg erkannt hat, kein Schorn­stein raucht, fällt darnach gänzlich weg.

Bernstein legt also regelrecht Zündstoff unter die größten Schätze der marxistischen Doktrin. Wenn seine Ideen auch heute noch nicht zum Durchbruch in der Partei gelangen, über kurz oder lang wird die Mehrheit in seinen Bahnen wandeln.

Reich.

Berlin, 8. Okt.

69 Die Königin Wilhelming der lande und die Königin=Mutter Emma sind Samstag Abend 7 Uhr 46 Min. in Potsdam eingetroffen und vom Kaiser auf dem mit deutschen und holländischen Fahnen dekorirten und festlich geschmückten Bahnhofe empfangen worden. Außer dem Gefolge des Kaisers hatte sich der Niederländische Gesandte Jonkheer van Tets van Goudriaan und sämmtliche Mitglieder der Gesandtschaft mit ihren Damen, sowie zahlreiche Mitglieder der holländischen Kolonie eingefunden. Als der Zug in die Halle einlief, intonirte das Musikkorps des Garde=Jägerbataillous die niederländische Hymne. Der Kaiser begrüßte seine Gäste in der herzlichsten Weise, küßte sie auf die Wange und überreichte jedem ein prachtvolles Rosenbougaet. Hierauf reichte er der Königin Wilhelmina den Arm und schritt mit ihe die Frout der auf dem Bahnhof aufgestellten Ehrenkompagnie ab. Nach Vorstellung des beiderseitigen Gefolges geleitete der Kaiser die beiden Königinnen an den à Is Daumont bespannten vierspännigen Wagen, in welchem die Königinnen und ihnen gegenüber der Kaiser Plotz nahm. Auf dem ganzen Wege vom Bahnhofe bis zum Stadtschlosse war eine zahllose Menge angesammelt, welche die Majestäten mit brausenden Hurrahrusen be­grüßte. Auf dem Schloßhose war die Leidkowpagnie des 1. Garderegiments zu Fuß in den historischen Grenadier= mützen mit der Fahne des ersten Bataillous und der Regimentsmusik als Ehrenwache aufgestellt. Auf der Marmortreppe zum Marmorsaale des Schlosses begrüßte die Kaiserin in herzlichster Weise die hohen Gäste. Später fand ein Diner zu 50 Gedecken statt.

(2 Der König von Württemberg ist am Sonntag in Potsdam eingetroffen und nahm Wohnung in der Villa des Erbprinzen zu Wied.

+ Freiherr v. Zedlitz, der vielgenannte Führer der Freikonservativen im Abgeordnetenhause, Präsident der Seehandlung, hat alsoaus Gesundheitsrücksichten seinen Abschied eingereicht. Diese Thatsache ist ein in­teressantes Nichspiel zu dem Kampf um den Kaual und zu der Beamtenmaßregelung. Monate lang hat sich Herr v. Zedlitz durch seine zahlreichen kanalseindlichen Artikel als Beamter im Gegensatz zu dem Monarchen gebracht, ohne daß man ihm ein Haar gekrümmt hätte oder sich veranlaßt gefühlt hätte, einen Hemmschuh anzulegen, während die Landräthe gemaßregelt wurden. Erst als die.ffentlichkeit sich mit Herrn v. Zedlitz beschäftigte und derVorwäris die klingende Münze, welche die publiz stische Thätigkeit des Seehandlungspräsidenten für diesen abwarf, darunter auch seine kanalfeindliche, in Zahlen vorführte, hat man sich zu jener Alternativstellung entschlossen. Man darf, soweit Herr v. Miquel hierbei in Betracht kommt, wohl sagen: schweren Herzeus, denn es ist ja bekannt, daß Fehr. v. Zedlitz des Finanzministers Günstling ist.

Die dem Seehandlungspräsidenten gegenüber von Seiten Miquels geübte Toleranz ist bezeichnend für die Stellungnahme des Ministers gegenüber der Kanalvorlage. Ein anderer Minister, welcher eine Regierungsvorlage vor dem Untergange hätte retten wollen, würde zu seinem Günstling, dem er noch eben zu einem hohen Amte ver­holfen, gesagt haben: Auch Du, Brutus? und Brutus würde von ihm sofort kalt gestellt worden sein. Miquel that das aber nicht. Und wenn unn Frhr. v. Zedlitz seinen Abschied nimmt, so wäre das ein Beweis dafür, daß Miquel ihn nicht mehr hätte halten können, daß er doch nicht der Mann ist, der Alles machen kann, dessen Einfluß vielmehr an dem Willen eines anderen seine Grenze findet.

In der Meldung des parlamentarischen Berichterstatters heißt es, daß Gesundheitsrücksichten den Frhrn.

v. Zedlitz zum Rücktritt veranlaßten. Neulich meinte eben­derselbe Frhr. v. Zedlitz, als von der Reise des Dr. Lieber nach Ostasten die Rede war, Krankheiten, von denen man vorher nichts gehört habe, seien in kritischen