Ns 102. 52. Jahrgang.
Mittwoch den 2. Mai 1900.
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Druck und Verlag von Julius Joost in Langenberg.
15 den Aleis Cerrmann.
Redaktion unter Verantwortlichkeit von H. Krieger.
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Deutschland.
Berlin. Der Kaiser ist am Abend des 30. April von Donaueschingen mittels Sonderzuges wieder abgereist und am 1. Mai morgens zum Besuche der Kaiserin Friedrich in Cronberg eingetroffen. Er wurde am Bahnhofe von seiner Schwester, der Prinzessin von Schaumburg=Lippe, und ihrem Gatten empfangen.
— Der Hofbanquier des Kaisers Wilhelm., der herzoglich=sächsische Wirkliche Geheimrat Freiherr v. Cohn in Dessau ist in der Nacht zum 1. Mai im Alter von 87 Jahren gestorben.
— Das Staatsministerium hat am Sonnabend dem von der Kommission angenommenen Abänderungsetat des Centrums zur Flottenvorlage zugestimmt. Die„Voss. Ztg.“ berichtet über die Sitzung folgendes Die Sitzung hat von 3 Uhr nachmittags bis 7 Uhr abends gewährt. Alle preußischen Staatsminister außer dem Ministerpräsidenten Fürsten Hohenlohe, dem Minister des Innern Frhr. v. Rheinbaben und dem Justizminister Schönstedt(dieser war durch den Unterstaatssekretär Nebe=Flugstädt vertreten) und die Staatssekretäre, bis auf den Staatssekretär Nieber= ding, waren erschienen. Auf der Tagesordnung haben gestanden die Flottenvorlage, das Fleischschaugesetz und die vom Reichsamt des Innern ausgearbeitete Novelle zum Weingesetz. Nach eingehender Erörterung hat das Staatsministerium sich dafür entschieden, die Beschlüsse zur Budgetkommission des Reichsrates zur Flottenvorlage trotz der Abstriche gutzuheißen. Die preußischen Vertreter im Bundesrat werden danach ihre Stimme dafür abgeben. Voraussichtlich wird heute das Plenum des Bundesrates zusammentreten, um auch bezüglich der Deckungsfrage Stellung zu nehmen und, wie die Budgetkommmission verlangt hat, die vom Staatssekretär Freiherrn v. Thielmann abgegebenen Erklärung sich anzueignen. In der Frage des Fleischschaugesetzes stellte man sich, wie berichtet, auf dem Boden des Kompromisses. Dagegen ist die Novelle zum Weingesetz, wie Posadowsky bereits im Reichstage mitteilte, für diese Tagung zurückgestellt worden.
— Die Verstärkung der deutschen Armee um 7006 Mann wird im Jahr 1903 erfolgen. Zu den Aeußerungen über die künftige Steigerung der Reichsausgaben, die von den beteiligten Verwaltungen gutachtlich für die Budgetkommission aus Auslaß der Flottennovelle zusammengestellt worden sind, schreibt
das preußische Kriegsministerium:„Die Gestaltung des Militärwesens ist von so vielen wechselnden Einflüssen, z. B. unseren Beziehungen zu den anderen Großmächten, den Heeresorganisationen der Nachbarstaaten, den Fortschritten der Technik abhängig, daß jeder auch nur einigermaßen zuverlässige Maßstab für die Zukunft fehlt. Nur darauf sei hingewiesen, daß die durch Gesetz vom 25. März 1899 bewilligten Mannschaften voraussichtlich durch die in den Jahren 1901 und 1902 aufzustellenden Formationen aufgebraucht werden. Im Jahr 1903 würde demnach die Anforderung der 7006 Köpfe, deren Bewillung der Reichstag durch die Resolution 4 vom 16. März 1899 in Aussicht gestellt hat, beginnen müssen.“
— Der Reichstagspräsident kann nach freiem Ermessen Druckschriften, die an den Reichstag eingesandt werden, zurückweisen, wenn er sie für ungeeignet zur Verteilung an die Mitglieder des Hauses hält. Diese Berechtigung des Präsidenten hat wiederholt zu Unzuträglichkeiten geführt. Herr v. Ballestrem hat jetzt die Schrift Adolf Damaschkes: Kamerun oder Kiautschou zurückgewiesen. Wie es heißt, wird dieses Verfahren des Reichstagspräsidenten im Seniorenkonvent zu Beratung gelangen.
— Durch den Ankauf der beiden größten englischen Schiffahrtslinien in Hinterindien, der HoltLinie und der Scottisch=Oriental=Linie seitens des Norddeutschen Lloyd in Bremen sind bekanntlich eine sehr bedeutende Menge lange bestehender Zwischenlinien nach Birma, Siam und dem Sunda=Archipel in deutsche Hände übergegangen. Die Zahl der auf den betreffenden Linien befindlichen Dampfer beträgt gegenwärtig nicht weniger als 24. Die Linien schließen in Penang bezw. Singapore an die ostasiatische Reichslinie des Norddeutschen Lloyd an. Da noch außerdem für die Schiffahrt auf dem Yangtsekiang wie für die Errichtung weiterer Zwischenlinien eine Anzahl neuer Dampfer im Bau sind, so wird sich binnen kurzem die Zahl der im Lokalverkehr mit Hinterindien und China beschäftigten Dampfer des Norddeutschen Lloyd auf 40 belaufen. Da ferner die Reichslinie nach Ostasien verdoppelt worden ist, und da endlich, wie wir hören, eine Anschlußlinie nach den Karolinen und Marianen hergestellt werden soll, hat der Norddeutsche Lloyd sich entschlossen, in Hongkong eine eigene Inspektion einzurichten, welche die lokale Leitung der nautischen und schiffbautechnischen Interessen wahrnehmen soll.
— Im Dortmunder Bergbau=Revier ist von der Maifeier nicht viel zu spüren gewesen. In Gelsenkirchen und Umgegend sind die Belegschaften vollzählich angefahren, ebenso in den an der Ruhr gelegenen Zechen.
— In der amtlichen Zusammenstellung der Steinkohlenproduktion im Oberbergamtsbezirk Dor tmund kommt jetzt der fortgesetzt große Zuzug freundländischer (auch ostpreußischer) Arbeiter deutlich zum Ausdruck. Die Zahl der beschäftigten Arbeiter stieg im ersten Quartal 1900 von 201111 auf 218 917, also um fast 18000 Mann. Eine solche rapide Steigerung in einem so kurzen Zeitraum ist noch nie dagewesen. Der Zuzug hält an. Die großen Werke verschreiben sich ganze Eisenbahnzüge voll fremder Arbeiter nebst Familien.
— Von der Handelskammer zu Dresden war eine Versammlung Großindustrieller einberufen worden, in welcher die Bekämpfung der Kohlenteuerung durch Gründung eines Kohlen=Einkaufvereins beschlossen wurde.
— Die Polizeibehörden und Landgendarmen in den Grenzdistrikten haben strenge Anweisung erhalten, der Aufdeckung des Mädchenhandels, welcher anscheinend auch im preußischen Staatsgebiete immer mehr um sich greift, die größte Aufmerksamkeit zuzuwenden und die Verfolgung entdeckter Fälle mit allem Nachdruck zu betreiben. Zu diesem Zwecke sollen nicht nur alle verdächtigen Lokale und Personen fortgesetzt scharf überwacht werden, sondern vor allen Dingen soll eine dauernde genaue Kontrolle der Grenzübergangspunkte die Verschleppung von Mädchen verhindern. Die Organe der Zoll= und Eisenbahn=Verwaltung haben Anweisung erhalten, die Polizeibehörden hierbei nach Möglichkeit zu unterstützen. Durch diese verschärften Maßnahmen hofft man auch einer allem Anscheine nach internationalen Organisation, welche den Mädchenhandel betreibt, auf die Spur zu kommen. Ueber alle wichtigen Wahrnehmungen sollen die Behörden sofort ausführlich berichten.
— Ein internationaler Sozialistenkongreß wird in Paris zusammentreten; die Einladung hierzu ist
im„Vorwärts" bereits veröffentlicht worden. Die gut republikanische Ueberschrift„citoyens“ hat das sozialdemokratische Centralorgan in„Bürger und Genossen" zahm übersetzt. Im übrigen aber bezeugt das Einladungsschreiben, daß die internationale Sozialdemokratie vollkommen unentwegt auf ihr revolutionäres Ziel vorschreitet. Die Tagesordnung atmet durchaus revolutionären Geist. Zur Dekoration ist
Eine Spielschuld. derboten. Erzählung von M. Collins.
(Fortsetzung.)
VIII.
Lilli Barton ging wie gewöhnlich ihren Pflichten nach. Kein Wort der Klage entschlüpfte ihren Lippen, aber ihre Gedanken beschäftigten sich Tag und Nacht mit Jack. Der Schlaf floh sie. Sinnend lag sie auf ihren weißen Kissen und blickte durch das kleine, rebenumsponnene Dachfenster zu den Sternen empor. Jeden Morgen erhob sie sich bleich und matt von ihrem Lager.
Lady Agnes, die sie Sonntags in der Kirche von ihrem Betstuhl aus beobachtete, erschrack über ihr verändertes Aussehen. Ihr Gesichtchen war vielleicht schöner denn je, aber fast durchsichtig und überirdisch. Sollte das bedauernswerte Geschöpf wirklich an gebrochenem Herzen dahinwelken? Das blasse Duldergesicht der Kleinen verfolgte sie bis in ihre Träume.
Eines Morgens beschloß Lady Agnes, einen letzten Versuch zu machen, Lilli zur Vernunft zu bringen. Sofort nach dem Frühstück fuhr sie in ihrem Ponywagen ins Dorf hinab. Lilli stand gerade vor der Thüre und trat lächelnd an den Wagenschlag, als sie die Gutsfrau erkannte. Aber wie schmerzlich war dieses Lächeln, und wie schnitt es der guten Lady ins Herz! Die Augen wurden ihr feucht, als sie Lilli so bleich und hinfällig vor sich stehen sah— einer
duftigen Sommerblume ähnlich, die von einem heftigen Sturm geknickt worden.
„Kind," begann sie ernst,„ich habe mit dir zu sprechen. Hole deinen Hut und begleite mich aufs Schloß!“
„Gern, wenn Sie es wünschen; ich will nur die Mutter verständigen!“ Sie ahnte wohl, was Lady Agnes ihr zu sagen hatte; sie nährte ja keine falschen Hoffnungen, sie hatte einfach mit dem Leben abgeschlossen.
Frau Barton kam eilig heraus, um mit der Gutsfrau über das Wetter, den Geflügelhof, die Ernte, kurz über alles, nur nicht über das, was ihr Herz am meisten erfüllte, über Lilli, zu sprechen. Diese stieg nach wenigen Minuten in den Wagen. In dem enganliegenden Kleid sah sie noch schmächtiger aus als vorhin, und als Lady Agnes sie neben sich Platz nehmen hieß, hätte diese gern Jahre ihres eigenen Lebens geopfert, wenn sie damit Geschehenes hätte ungeschehen machen können. Während der Fahrt plauderten sie über allerlei gleichgiltige Dinge. Die vornehme Dame bewunderte die Ruhe, die Fassung und das feine Taktgefühl des Kindes aus dem Volke. Wahrlich, sie hätte stolz sein können auf eine solche Schwie
gertochter, wenn——— ja, wenn sie nicht die
Tochter eines Dorfwirtes gewesen wäre!
Als sie sich dem Schlosse näherten, wurde Lilli immer schweigsamer, und ihre kurzen Antworten machten auch Lady Agnes verstummen. Sie erriet, was jetzt in dem Herzen dieser Dorfheldin vorging. So
selbstlos Lilli auch war, den Gedanken konnte sie doch nicht bannen, wie ganz anders sich ihre Stellung gestaltet hätte, wenn ihr Liebestraum in Erfüllung gegangen wäre. Sie biß ihre kleinen, weißen Zähne aufeinander und trug ihren Schmerz wie eine Spartanerin.
Gerard Falconer war in Geschäfts=Angelegenheiten ins Kreisstädtchen gefahren, von wo er erst gegen Abend zurückerwartet wurde. Lady Agnes hatte also Zeit genug, sich ihrem Gast zu widmen. Sie führte diesen zuerst in den Garten, dann in die Wirtschaftsräume und schließlich in ihr eigenes Boudoir.
„So, da wären wir, mein Kind! Leg' ab und mach' dir's bequem.... Komm, setz' dich auf diesen Schemel und denke dir, ich wäre deine Mutter! Entlaste dein bedrücktes Gemüt und sage mir, weshalb du so bleich bist! Doch nicht aus Sehnsucht nach Jack?“
Lilli antwortete nicht, hielt aber den zärtlich forschenden Blick standhaft aus.
„Sprich, Kind!“
„Ich glaube, ja!“ entgegnete sie mit dem Mut der Verzweiflung.„Ich kann ihn nicht so schnell vergessen! Ich weiß, daß es thöricht ist, aber ich liebe ihn noch immer!“
„Armes, unglückliches Mädchen! Ich verstehe deinen Schmerz und achte ihn Nicht jedermann weiß, was Liebe ist, aber du und ich, wir beide wissen's. Ich kenne auch den Abschiedsschmerz, aber Entsagung habe ich nie kennen gelernt. Mein Liebling, sei stark und überwinde!“