lüssel Illustrierte Sonntagsbeilage zu den „Düsseldorfer Neuesten Nachrichten" Nr. 28 Sonntag, den ssO. Inli 1A« (5. Fortsetzung.) Kantig meinte: „Der O Westens. Aber die und dergleichen. „Für die Tochter scheint weniger übrig zu sein —" „Die! Modernes Aschenbrödel . . . Uebrigens die Alte — noch verflixt schneidig —" „Unkraut vergeht nicht! "knurrte Hunter. „Sie wollten ausgehen—ich will Sie nicht stören." Er empfahl sich, obwohl Fantig mit ehrlicher Lebhaftigkeit protestierte, suchte die ihm genannten Handwerker auf und besprach sich mit ihnen. Als sie nach einigen Stunden in der Villa erschienen, räumte Wutschow fluchend seinenPlatz und ließ sich nicht mehr blicken. Auch Hedwig schien nach der unfreundlichen Begegnung am Morgen dem Mieter aus dem Wege zu gehen. Das Haus lag wie ausgestorben. Aber es war dem Australier recht so. Er untersuchte mit den Handwerkern die einzelnen Räume und beriet sich eingehend. Das Betreten des vielbesprochenen Hauses war den Leuten offenbar interessant; über die im Innern herrschende Vernachlässigung waren sie aber einigermaßen erstaunt. So hatten sie sich das Heim des reichen Wutschow doch nicht vorgestellt. Hunter knauserte nicht. Er verlangte Das f>aus Nr. 100. Roman von Dietrich Theben. Wutschow ist nun mal der Spott des ganzen Alte, die ist nobler, Seide, Sammet, Diamanten Phot. F. Kefter. Wkick auf Düsseldorf vom Aerkehrsluftschiff „Deutschland" aus. Die interessante Aufnahme erfolgte von der Hinteren Gondel des Luftschiffes aus während einer der letzten Wahrten desselben vor der Katastrophe bei Welleudorf. (Nachdruck verboten.) schnelle und gründliche Arbeit und hatte für die sorglichen Kostenanschläge der Meister nur ein zustimmendes Nicken. DerTischler sollte zuerst an die Reihe kommen, der Maler ihm auf dem Fuße folgen. Als eine Einigung erzielt war und die Meister gingen, hielten sie untereinander nicht mitdem Befremden zurück, daß ihr Auftraggeber sich gerade die alte Bude Wut- schows ausgesucht habe, und kamen schließlich mit verständnisvollem Lächeln dahinüberein, daß wohl auch der Mieter seine Wunderlichkeiten, haben müsse. Hunter blieb noch, stellte Messungen an und war nicht wenig überrascht, als bald nach Entfernung der Handwerker die Frau des Hauses bei ihm eintrat. Sie hatte ein Pelzcape über die Schultern gehängt und hielt mit der Linken das graue Seidenkleid vorsichtig gerafft. Ihr Blick glitt sekundenlang umher und blieb auf dem Australier haften. Hunter tippte an den Schlapphut und verbeugte sich. „Große Ehre, meine Gnädige..." Sie wandte sich um und zog dieTür fest hinter sich zu. „FrauKöniginim Reiche der Spinnen und Schwaben!" spottete er. Ihre Züge blieben kalt. „Ich habe deinem Wunsche nachgegeben—freiwillig," begann sie, und ihre Stimme vibrierte. ,t .s ? 218 1910 „Der Herr Gemahl — auch freiwillig?" gab Hunter höhnisch fragend zur Antwort. „Das ist meine Sache . . . Wir können — nebeneinander leben, ohne — viel in Berührung zu kommen —" „Meinst du, ich könnte Anspruch auf deine Person erheben?" fuhr er auf. Sie lächelte kalt. „Dazu gehören zwei," erwiderte sie kurz. „Ich — teile das Dach mit dir, aber ich will weder dich noch deine Neichtümer, die du — offen genug — zur Schau trügst. Zu offen . . . Muß etwas betont werden, wenn man daran glauben soll?" Er vermeinte, etwas Lauerndes aus ihren Worten herauszuhören. „Ach so," entgegnete er, „du beliebtest anzunehmen, ich übertreibe, um zu — verdecken . . . Auch gut, Madame. Ganz wie du willst . . ." „Es — interessiert mich nicht," versetzte sie abweisend. „Es imponiert mir auch nicht. Mehr als wir hast du sicher nicht, und ob so viel — ist die Frage —" „Ganz recht, die dich beschäftigt —" „Nein, die mir gleichgültig ist." Sie brauste aus. . . „Bildest du dir ein, ich überschätze dich?" „Ueberfchätzen?" Er überlegte ein paar Sekunden. „Hm — wer ein Krösus werden will — muh Anlagen dazu haben, und die — hatte ich nicht — wolltest du das nicht zum Ausdruck bringen?" „So etwas Aehnliches," gab sie eisig zu. Er trat dicht vor sie hin. „Weib, ich durchschaue dich bis auf den Grund deiner schwarzen Seele! Heuchle, lüge — mich täuschest du nicht, und ich weiß, welches brennende Interesse dich zu mir treibt und dich schauspielern und horchen läßt. Die Habgier — die elende Habgier ist gereizt worden in dir, und sie läßt dich lungern und hungern nach mehr. Du bemühst dich umsonst! Laß es dir gesagt sein — ein- für allemal . . Sie wankte nicht. „Geht dir der Atem aus? Oder ist's mit deinen Phantasien zu Ende? Du übersiehst eine Kleinigkeit: das Nächstliegende. Unsere — Mietsverhandlnngeu waren etwas — sonderbarer Natur, und der Abschluß bedarf — einiger Ergänzungen. Ich habe — mich — gefügt, weil deine Anwesenheit mich schließlich nicht zu stören braucht. Ich betone: nicht zn stören braucht; so lange nicht, als — außer uns beiden — jemand weih, was ihn heiß machen könnte — klarer gesagt: welche Beziehungen uns — einst — miteinander verbunden haben. Darum komme ich zu dir. Ans keinem anderen Grunde. Um deine Diskretion wollte ich dich ersuchen —" „Ich habe sie dir längst zugestanden!" — „und dir meine ebenfalls zusichern . . ." Wieder eine ironische Verbeugung Hunters. „Freundlich — sehr freundlich . . ." „Schwätzen war auch früher nicht deine Art — dein Wort wirst du zu achten wissen. Und damit bin ich ja wohl mit Herrn William Hunter zu Ende." „Wenn es sein kann —" Der stattliche Frauenkopf erhielt einen kleinen, energischen Ruck, und ihre Erwiderung klang hochmütig: »Ich ^ wüßte nicht, wieso —" Er winkte ungeduldig ab. „Ich bin kein Prophet und lasse kommen, was da will. Brauche ich dich nicht, ist es mir angenehm. Ergibt sich ein Grund zum Verkehr mit der geehrten Nachbarschaft, so ist mir — der Weg nicht zu weit. Und mau kann nicht voraussehen — hm —" Er dachte an Hedwig und was er dem Mädchen gesagt hatte. Und einen Augenblick kam ihm der Gedanke, der Frau da vor ihm sogleich in das Gewissensdunkel zu leuchten. Aber auch nur einen Augenblick. Dann verschloß er sich der Regung, wandte sich wieder seiner durch den Eintritt der Frau unterbrochenen Beschäftigung zu und zischte über die Schulter: „Ich will die Gnädige nicht länger zurückhalten —" In den blauen Augensternen der Frau zeigte sich ein Glühen, und um ihren Mund zuckte es. Aber sie beherrschte sich und entfernte sich mit gemessener Würde. „Satan!" knirschte Hunter ihr nach. Bald hielt es ihn auch nicht mehr. Beim Fortgehen traf er unvermutet auf Hedwig, und es schien ihm, als suche sie ihn abermals zu meiden. Er lehnte sich nicht dagegen auf. Ging ihn das Mädchen überhaupt etwas an? fragte er sich gereizt. War sie sein Kind? Erbrauchte sie wahrhaftig nicht, und wenn auch sie ohne ihn auszukommen wünschte — um so besser. Er lachte gereizt. Ach was, sie paßte am Ende auch in das Tollhaus I Und seinetwegen der Doktor nicht minder... Keinen Finger rühren um die beiden, das war das Gescheiteste. Und sein Vorsatz _ Siebentes Kapitel. Fantig hatte den gewohnten Stammtisch mehrere Abende nicht besucht, sondern sich in Begleitung seiner Frau in gewählterer Umgebung heimisch gefühlt. Nach einiger Tagen stellte er sich wieder einmal ein und erregte mit seiner neuen Equipierung nicht geringes Aufsehen. Er war jedoch im Grunde eine bescheidene Natur, und es lag ihm fern, den alten Genossen gegenüber den Großspurigen herauszukehren. Er hing den Zylinder an einen Haken, wickelte sich aus dem warmen Ueberzieher und ließ sich grüßend bei den anderen nieder. „Nanu," näselte Jeremias und zupfte nervös den Spitzbart, „großes Loos gewonnen?" „Oder geerbt?" riet ein anderer. „Oder Kommerzienrat geworden?" gesellte sich vom Büffet her der Wirt zu den Fragern. „Ein Sümmchen verdient," entgegnete Fantig gelassen, „das ist alles." „So? Wer: hast du denn gerupft?" tuschelte Jeremias Kluckhohn. Die Frage verdroß Fantig, und da er ohnehin auf den Fragesteller, der ihm als Helfershelfer Wutschows möglicherweise in das Geschäft hätte pfuschen können, nicht besonders gut zu sprechen war, beschloß er trotz seiner Gutmütigkeit eine kleine Zurechtweisung. „Jeremias sucht jeden da, wo er selbst gestanden hat!" wandte er ein. „Was, alter Fuchs? Aber du, mit dem Rupfen kenn' ich mich nicht aus — ich betrüge ehrlich, das wird mir Mr. Hunter bezeugen können." Daß der Wagen, der so gut gelaufen, zweimal geschmiert war, beunruhigte ihn nicht. „W — wer?" fragte Jeremias, unangenehm überrascht. „Mr. Hunter —," wiederholte Fantig mit Genugtuung. „Du weißt doch, Jeremias — und den anderen ist es wohl auch kein Geheimnis gewesen — daß das Grundstück von dem pensionierten Loko- motivenreiter zu verkaufen war — da habe ich den Vermittler gemacht und ein paar gute Lappen eingeheimst." „Das — das hat — der gekauft?" stotterte Jeremias. „Wenn du mit dem „der" den Mr. Hunter meinst— allerdings." Fantig weidete sich an Jeremias' Unbehagen und fügte noch hinzu: „Andere hatten sich ja auch an ihn herangedrängt; aber der sieht sich seine Leute an, ehe er sich mit ihnen einläht." Jeremias ging auf die Herausforderung nicht ein; er trank hastig, wischte sich den Mund und stieß ruckweise aus: „Der hat — bei Wutschow — gemietet —" Jetzt war die Ueberraschung auf Fantigs Seite; er faßte sich aber schnell und tat, als ob er selbstverständlich eingeweiht sei. „Allerdings. — Ich begreife das nicht ganz — aber am Ende ist es ja seine Sache. Und wenn er gehörig ändern läßt -— er war bei mir und hat sich Tischler und Maler von mir empfehlen lassen — na, mit Geld ist ja schließlich manches herzurichten." „Sind schon — an der Arbeit," verriet Jeremias. „Ja, die Nähe vom Bauplatz — selbstverständlich will er bauen lassen — die ist wohl maßgebend gewesen für ihn. Vielleicht auch die Hoffnung, mit Wutschow doch noch einig zu werden — vielleicht — ja, sein Vertrauter bin ich in solchem Maße nicht, daß ich gerade alles wissen sollte." „Wieviel — hast' denn verdient?" fragte Jeremias nüchtern. „Wieviel —?" lieber Fantigs Mienen huschte ein Zug der Ueberlegenheit. „Du —" er beugte sich dicht an Jeremias' Ohr und raunte: „— wenn er so viel bezahlt hätte, wie dein Freund und Meister Wutschow gefordert hat, dann hätt' ich — noch 'n paar Lappen mehr bekommen —" Jeremias zog die Oberlippe ein und kaute den Schnurrbart. „Nu bin ich so klug, wie vorher —" „Ja, da kann ich nicht helfen. Hab' ich schon mal gefragt, wieviel Prozentchen du — —? Na also..." Der Wirt kam. „Wieviel Runden gibst du?" Fantig wehrte ab. „Ist nicht. Hast du was, halt's zusammen — heißt mein Wahlspruch." „Eine Lage, Fantig," meinte der dicknackige Gärtner Rincke. „Zwei — vier — fünf Glas zu zehn-wenn's denn sein muß." Zu mehr ließ er sich nicht bewegen, so sehr auch die Gesellschaft ihn zu drängen suchte. Noch vor Mitternacht nahm er Abschied und ließ sich dann wieder Wochen hindurch nicht blicken, weil er vielfach von dem Australier in Anspruch genommen wurde oder mit seiner Frau, die nach langem, geduldig ertragenem Gram sich förmlich verjüngte, Erholung in besseren Lokalen suchte. Sie aßen zu Hause, weil die Restaurationskost ihnen immer noch zu teuer war; aber die paar Glas Bier, zu denen es früher oft nicht hatte reichen wollen, versagten sie sich nicht mehr. Mitunter gesellte sich auch Hunter zu ihnen, der an der kleinen, schlichten Dulderin Gefallen fand und namentlich um ihretwillen den Gatten häufig zu seinem Vertrauensmann machte. War er mit Fantig allein, so beglich er die Zeche für diesen ohne Umstände mit; war die 1910 219 kleine Frau zugegen, so schonte er deren Zartgefühl und beobachtete mit Vergnügen, daß sie eine Genugtuung darin fand, ihren Mann ohne Knauserei und ohne auffälligen Unterschied es dem Gönner gleichtun zu sehen. Nur einmal machte er eine Ausnahme: bei seinem Einzüge in das Haus Nr. 100. „Junge Frau," sagte er bei einem Besuche um die Mittagsstunde, „die Einladung zu heute Abend dürfen Sie mir nicht abschlagen. Ganz einfach: dürfen nicht! Zwei, drei Wochen habe ich mich mit Meistern von Hobel und Farbentopf, mit Möbel- und Dekorationsmenschen, Fuhrleuten, Dienstleuten und anderen Gentlemen herumgeschlagen — ja, einmal muß ich auch wieder cn.fatmen und ein Glas Wein mit Behagen trüchen können. Brrrr — das waren Wochen — dem Himmel sei Dank, daß sie vorüber sind! Darf ich um die geehrte Patschhand bitten? Schön, junge Frau, daß Sie mir keinen Korb geben- Also um 9 Ilhr, wenn ich bitten darf... Huth und Sohn in der Potsdamer — die Nummer wird Ihr Mr. Fantig schon herausfinden.. „O, kenne ich, kenne ich," bestätigte Fantig lebhaft. Die Frau dankte in ihrer stillen und doch freudigen Art. „Sind Sie nun ganz in Ordnung?" fragte sie. „Bis auf den letzten Nagel, junge Frau — grad' seit einer Stunde. Sogar die Frau auch schon engagiert, die für Ordnung sorgen soll — all rigkt. Uebrigens: meinen Dank sür Ihre Bemühung — die Frau scheint wirklich die Rechte zu sein..." Sie freute sich, daß sie ihm mit ihrer Empfehlung hatte gefällig sein können. Auch Fantig war angenehm berührt. „Redlich muß sie sein, und das ist sie," versicherte er. „Dabei sauber, rührig. Die kennen wir an ein Dutzend Jahre, sür die können wir gutsagen..." Hunter schied mit Handschlag. „Ich werd' mir den Nachmittag über meinen neuen Staat an- sehen," scherzte er; „so mal in aller Muße, wozu ich bisher nicht gekommen bin. l?Lrevsll. Uris svsning..." Daheim bot sich ihm eine kleine lleberraschung: seinen Schreibtisch schmückte ein Strauß frischer italienischer Rosen. Sein Gesicht verfinsterte sich. Natürlich von dem Fräulein Wutschow, sagte er sich, und es war ihm unangenehm, daß die Aufmerksamkeit ihn zu einer Dankbarkeit verpflichtete, die er nicht wollte. Er ließ sich, als er Hut und Pelz abgelegt hatte, ziemlich unwirsch in den bequemen Sessel fallen, der vor dem eichenen, reichgeschnitzten Diplomatentisch stand. „Unnötig, clsar Lliss," murmelte er, faßte aber doch nach der zierlichen Glasvase, in die die sommerlichen Kinder des Südens geordnet waren, und schnupperte nach dem matten Duft. „Je schöner die Federn, uni so schlechter der Gesang," murrte er und schob die Vase gleichgültig zurück. Ein Klopsen von der Tür her lieh ihn aufhorchen. „Was, Besuch? Herein —!" Hunter erhob sich langsam, als er den Doktor Bruchs erkannte. Der junge Arzt war korrekt wie immer, hatte den Ueberrock draußen abgelegt und hielt den Zylinder in der behandschuhten Linken. Der Australier suchte nach einem Worte freundlicher Bewillkommnung, ohne mehr als eine oberflächliche, fast unbeholfene Entschuldigung finden zu können. „Mein Gedächtnis, Herr Doktor — Sie müssen schon ein Auge zudrücken —" „Beide, Herr Hunter. Ich habe Ihren Besuch erwartet, es aber erklärlich gefunden, daß Sie über Wichtigerem nicht mehr daran dachten." „Gedacht schon, Herr Doktor; leider, die Zeit — die Zeit —" Hunter nötigte den Besuch in einen bequemen Sessel und nahm selbst wieder vor dem Schreibtisch Platz. Bruchs beschrieb mit der Hand einen Bogen und zeigte auf die Einrichtung. „Wer so aus dem Vollen schöpfen kann—," sagte er anerkennend. „Gediegen, geschmackvoll —" Der Australier winkte ab. „Kleinigkeiten, Herr, dem alten Neste angemessen... Die Praxis — zugenommen in den letzten Wochen?" „Ich bin zufrieden, danke." „Ja, ja, ich kenne das. Das geht wie beim Bau: ein Stein will auf den anderen getragen werden. Geht aber noch gut, wenn nichts dazwischen kommt — Frost, Unglück, Versehen. Der Baumeister muß eben tüchtig sein, und das Vertrauen habe ich zu Ihnen." Er sagte es obenhin und wurde es sich erst nachträglich bewußt, daß der Schlußsatz ihm entglitten war, ohne etwas mit seiner Ueber- zeugung zu tun zu haben. Der Arzt fühlte das Kühle, das zwischen ihnen lag, und suchte darüber hinwegzukommen. „Ich bewundere Ihre Energie," sagte er, „und wünschte mir einen Teil davon. Offen, Herr Hunter: ich hätte nicht geglaubt, daß Sie in dem Kampfe mit meinem verehrten Schwiegervater der Sieger bleiben würden." „Den störrischen Gaul muß man die Kandare fühlen lassen," entgegnete Hunter trocken. „Nehmen Sie sich ein Beispiel daran." „Ja, wenn das ginge! Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich einen ehrlichen Zorn nur schwer zügeln kann. Nur die Rücksicht auf Hedwig läßt mich wieder einlenken, nachgeben, vergessen. Sie hätte, käme es zu einem Zerwürfnis, darunter am meisten zu leiden. Und ihr Pfad ist ohnehin nicht mit Rosen bestreut. Sie ist eine rechte Märtyrerin in dieser verrückten Umgebung. Und weiß Gott, ob sie nicht doch noch körperlich und seelisch Schaden nimmt, che ich sie einmal zu mir führen kann. Sie müßte sich ja wie im Himmel fühlen, wenn sie aus ihrem Sklavenlos herausgerissen werden könnte. Verzeihung, daß ich meiner Bitterkeit Worte gebe; aber das Verhalten dieser beiden Alten ihrem Kinde gegenüber kommt mir vor wie eine Parodie auf alles, was Vater- und Mutterliebe heißt..." Der Australier blickte zur Seite. „Das Mädchen ist auf einem ungesunden Boden ausgewachsen," knurrte er. „Sind Sie sicher, daß nicht auch in ihr einmal das eingesogene Gift znm Durchbruch kommt, daß sie — der Mutter nachartet?" „Hedwig? Niemals!" Bruchs Antwort kam rasch und fest. „Das ist der Glaube der Liebe." Der Australier blieb gleichmäßig kühl. „Sollten Sie nicht auch den Arzt mitsprechen lassen?" „Den Arzt?" Doktor Bruchs fand ein frohes Lächeln. „Den lasse ich daheim, wenn ich zu Hedwig gehe. Was ich mit meine» gesunden Augen, mit meiner Liebe nicht sehe, das kann mir auch ein Arzt mit all seinen Instrumenten nicht verraten." Er wurde ernst. „Ich gehe in meinem Berufe auf, und deshalb brauche ich nicht zu betonen, daß ich ihn Hochhalte. Aber tausendmal mehr als der Arzt mit seinen Spiegeln sieht das freie Auge des Menschen da, wo ihm ein Wesen teuer und heilig ist. Sieht der Arzt die Liebe? Nein, aber ich — ich! Und Hedwig einmal wie ihre Mutter? Niemals, wiederhole ich. In diesem „Niemals" liegt die Kraft meiner Ueberzeugung und zugleich die Kraft des Bewußtseins, daß auch meine Liebe sie weihend umschützen wird! Bin ich ein Wutschow? Ich bin es nicht und werde es nicht, und niemals kann in meiner Hut eine heilige Flamme ersticken oder in ein häßliches, unreines Feuer sich umwandeln." Hunter saß gebückt und hing dem Gedanken nach, ob nicht auch er dazu beigetragen habe, die verhärtete Frau im ersten Stockwerk zu dem zu machen, was sie geworden war, statt sie mit der Kraft der Liebe, wie sie den jungen Arzt beseelte, über sich selbst hinauszuheben, sie zu erziehe», zu bessern, zu veredeln. Eine Art von Schuld- bewuhtsein kam über ihn, das die Frau in milderem Lichte erscheinen, seine eigene Verantwortlichkeit aber verschärft hervortreteu ließ. Er wehrte sich dagegen. „Was ein Haken werden will, wird doch einer," widersprach er. „O nein!" entgegenete Bruchs überzeugt. „Der Gärtner, der da rechtzeitig acht gibt, kann das verhindern." „Dann bricht der dünne Stamm." „Nein, auch das nicht. Der Mann faßt behutsam zu, stützt und schient den dünnen Stamm, hilft ihm nur, stört ihn aber nicht." „Theoretiker und Verliebte tragen beide Brillen; mit ihnen ist nicht zu streiten. Der eine sieht alles grau, der andere alles rosa. Nimmt ihnen das Leben aber die zerbrechlichen Scherben fort, stehen sie beide blöde und verdutzt . . . Hm, die Unkenrolle liegt mir nicht. . . Ein Glas Portwein gefällig? Der saure Rotspon schmeckt mir nicht —" Er hatte sich schon erhoben, holte aus einem Eckschrank Flasche und Gläser und schenkte ein. Die Hand hielt die Flasche unsicher. „Den Tatterich kriegt man," murrte er bissig. „So 'nem alten Klepper gibt man den Gnadenschuß, wenn er mal auf den lahmen Beinen nicht mehr stehen oder vorwärts kann — 'n elender Mensch muß weiter krauchen.. . ." Er stieß an, goß sich ein zweites Glas ein und stürzte es in einem Zuge hinunter. „Auch eine Medizin, Herr. Und ein steifer Grog . . . Hedwig — Pardon: Fräulein Hedwig: der Gruß aus Italien — eine Aufmerksamkeit von ihr? Ich lasse ihr danken —" „Wollen Sie ihr das nicht selbst sagen?" „Wenn ich sie sehe . . . Bedienen Sie sich, Herr Doktor. Eine gute Bock ist auch da. Oder eine Lopez gefällig?" Er holte zwei Kästchen und stellte sie geöffnet auf den Schreibtisch. „Wenn ich bitten darf." Er langte selbst zu, biß die Spitze ab und warf sie auf den Teppich, um sich gleich darauf danach zu bücken. „Ach so, noch Buschmanieren. Entschuldigung . . . Das Willkommen mag übrigens das einzige sein. Mr. Wutschow hat sich noch nicht sehen lassen, Mistreß gnädigst —- auch nicht. Hm — natürlich —" Er wies wieder auf die Blumen. — „Natürlich auf Ihre Kosten, Herr Doktor. Dankbar verbunden —" „Sie irren sich —" Hunter schlenkerte die langen Arme. „Auch gut. Darum kein Kopfzerbrechen ... die dummen Sprichwörter lügen. Halb gewonnen, heißt es, ist halb verloren, blorwsns. Den Master Wutschow habe ich halb in der Tasche, und ganz kommt er hinein. Samt seiner besseren Hälfte. Uebrigens auch Konsens. Die und besser . . . Kennen Sie Huth L Sohn?" jÄ 220 1610 „Allerdings —" „Bitte, heute Abend neun Uhr. Ein kleines Souper. Angenehm?" „Ich nehme gern an —" „Well. Ich sehe, daß Sie nicht nachtragen. Wenn Sie Hochzeit machen, nehme ich die Einladung an. Wenn Sie mich haben wollen, selbstredend, und wenn ich bis dahin nicht an übergelaufener Galle gestorben bin. Manchmal denke ich, daß es so kommen muh. Und manchmal wieder, daß Unkraut sobald nicht vergeht. Wenn Sens unter dem Weizen ist, da können Sie jäten, so viel Sie wollen, der bleibt; und wenn Sie die Disteln wegstechen, die kommen doch wieder . . . Ihr Besuch hat mich gefreut, Herr Doktor; lassen Sie ihn nicht den einzigen bleiben. An Gelegenheit wird es Ihnen ja nicht fehlen." Ür Bruchs verbeugte sich förmlich. „Sollte ich gegen Erwarten Ihrer Einladung heute Abend nicht folgen können — ich könnte ja durch Patienten oder svnstwie abgehalten werden — so wollen Sie eine nachträgliche Entschuldigung gelten lassen." Er fühlte sich verletzt, daß der Australier den Besuch mit deutlichen Worten abbrach, und nahm sich grollend vor, über die Unhöflichkeit am Abend durch Fernbleiben zu quittieren. Eine zweite steife Verbeugung, und er ging. Der Australier trommelte mit den Knöcheln der dürren Finger auf den Schreibtisch. „Verschnupft, der gute Junge," reflektierte er gereizt, „daß ich die Audienz in so 'ner souveränen Anwandlung abkürzte. Ja, solche Grillen muß man schon in den Kauf nehmen, Herr Doktor. Und wenn Sie mir heute Abend die Ehre versagen wollen — es ist vorgesorgt: meine Haare sind schon lange grau." Er entnahm einem Fach des Schreibtisches einen Bauplan und ver^ tiefte sich stundenlang in Berechnungen. Die lärmende Stimme Wutschows und ein Türenschlagen drang ein paarmal zu ihn: in die Stille und ließ ihn ärgerlich auffahren, ohne ihn indes dauernd von seinerArbeit abzuziehen. Erst als es dunkel wurde, brach er ab, ordnete die Papiere in den Schreibtisch zurück und verließ bald darauf die Wohnung. In einer Ecke der Veranda gewahrte er Hedwig, die vor einem Stuhle in die Knie gesunken war und das blonde Haupt in den Händen barg. Im ersten Impuls wollte er auf sie zutreten, besann sich aber und entfernte sich, als ob er nichts bemerkt hätte. Auf dem Hofraum verfing sich der schneidend kalte Wind wie in einem Kessel, blähte den Pelz des Australiers auf und umblies ihn eisig. Hunter hüllte sich vorsichtig in das wärmende Rauchwerk, vergrub die Hände in die Taschen und wartete an der Straße auf eine Fahrgelegenheit. Ein Omnibus nahm ihn auf und brachte ihn nach der Friedrichstadt, in deren weihnachtlich ausgestatteten Läden er eine Reihe von Einkäufen besorgte. Es sehlte in der Wohnung noch an den hundert Kleinigkeiten, die alle entbehrlich sind, ein Heim aber doch erst recht behaglich machen. Ihnen galt sein Suchen, und für sie war ihm kein Preis zu hoch. In einer Nähmaschinenhandlung gab er Frau Fantigs Adresse auf. Die „junge Frau" plagte sich mit einer kleinen Handmaschine ab, die unpraktisch und verbraucht war, die durch eine gute neue zu ersetzen sie aber aus Sparsamkeitsgründen nicht zu bewegen war. Hunter billigte ihre Enthaltsamkeit und nahm sich zugleich das Recht, großmütig abzuhelsen. „Sofort hinsenden," ordnete er an. Am Abend bei Huth dankte die Frau in ihrer herzlichen Weise. „Nichts als Selbstsucht von mir," entgegnete ihr Hunter aufgeräumt. „Ich werde Sie ncch so um Gefälligkeiten überlaufen, daß Sie die Annahme der dummen Tretmaschine am Ende noch bereuen werden. So, und damit Punktum . . . Mr. Fantig, junge Frau — genötigt tvird nicht..." Das Mahl war delikat, der Wein rein und voll. Die Gläser mit dem kostbaren Rebenblut des Rheinlandes klangen zusammen, bis ihr heiteres Läuten durch das blecherne Geklapper der Spitzkelche mit welschem Schaumwein verdrängt wurde. Der Doktor kam nicht, und Hunter erwähnte auch seiner mit keinem Worte. Fantig schwatzte von seiner Vergangenheit und sprach von seiner Frau mit einer Wärme, daß ihr der Wein und die Genugtuung das Blut in die Wangen trieben. Hunter lauschte gefällig und meinte: „Ja, ja, die deutschen Frauen! Das ist so die Art: Gesund, kernig, tüchtig. Freilich, wer den Wert zu bemessen weiß, findet ihresgleichen nicht bloß nur bei den deutschen Stämmen; wer aber Pech haben soll, sucht sie überall vergebens. Manche Jndianersquaw ist mir lieber als die gerühmte — Verzeihung, junge Frau, Ihren Mann könnte ich wohl auch beneiden . . . Der französische Sekt ist doch besser als der deutsche, — meinen Sie nicht auch? Er ist edler, feuriger, duftiger. Prosit!" Mitternacht war lange vorüber, als der Australier vor dem Hause Nr. 100 die Droschke verließ und den Kutscher die Freunde nach der Bülowstraße weiter fahren ließ. Der nächtliche Himmel war wolkenlos; ein Sternenmeer schimmerte am graublauen Dom, und der Mond goß ein zauberisches, fahlsilbernes Licht über die ruhende Erde. Selbst die Großstadt lag in bleiernein Schlafe, den keine Straßenbahn, kaum noch hin und wieder ein Wagen störte. Die Holztreppe zurVeranda knarrte unter dem ange- frorenenSchnee, an den Fensterscheiben glitzerten Eisblumen im Mondlicht. Geräuschvoll öffnete Hunter die Tür; mit klirrendem Schlüsselbundehan- tierte er von innen. Ein Lichtscheu: fiel ihm auf, ehe er noch die Tür abgeschlossen hatte. Er ließ den Schlüssel stecken, sah über die Schulter die Treppe hinauf und horchte angelegentlich. Kein Geräusch drang von oben zu ihm herunter; aber der Lichtschein wanderte unruhig, schwächte sich ab, verschwand und kam verstärkt abermals wieder. Plötzlich zuckte der Australier zusammen. Aus dem Dunkel des oberen Stockwerks löste sich eine schlanke, blendend weiße Gestalt ab, näherte sich der abwärts führenden Treppe und kam schwebenden Schrittes die Stufen berab. Hunter lehnte sich gegen die Tür und blickte gefesselt auf das seltsame Bild. Brausend schoß es ihm durch den Sinn, daß seine Töchter nächtlich das Haus beleben sollten; die Schläfen hämmerten ihm zum Zerspringen. Der lichten Gestalt folgte eine dunkelumrissene, die eine Kerze in der Hand hielt, sie hochhob und prüfend die Treppe hinableuchtete. Die Nachtwandlerin hatte die letzten Stufen erreicht, und Hunter starrte in das wachsbleiche Antlitz Hedwigs, ohne sich zu rühren. Sie war im Nachtgewande und blieb erschauernd stehen, als die nackten Füße die kalten Fliesen der Veranda berührten. Die Arme hingen ihr schlaff herab, die Augen waren geschlossen, das aufgelöste, blonde Haar floß wie ein Goldstrom über die weißen Schultern. Sie wandte sich unschlüssig einen Schritt seitwärts und trat tastend auf den Treppenläufer zurück, der die Füße vor der eisigen Kälte der Fliesen notdürftig schützte. Lautlos, Stufe um Stufe schritt sie rückwärts nach oben, stutzte vor dem Licht, das sie durch die geschlossenen Lider empfinden mochte, und wandte sich fluchtartig seitwärts der Treppe ins Dunkel. Wutschow, in Filzschuhen und Schlafrock, leuchtete ihr nach und folgte ihr schleichend. Das Licht verschwand, eine Tür wurde knallend zugeschleudert, das Licht kam wieder, und Wutschow schlürfte fluchend an der Treppe vorüber nach seinem Schlafzimmer. Phot. Jlluslral.-Photo-Verlag. Iie 530. Ztttterfaljrt der „Wankgrafschaft von 1381 zu Berlin bei Wedding an der Wanke". Herzog Karl Eduard von Sachsen-Koburg-Gotha im „Feldlager" der Pankgrafen auf dem Marktplatze in Koburg. 1910 „Hexe, Dirne, Frauenzimmer!" hörte Hunter die Stimme des Schimpfenden. „Den Kerl werfe ich zum Hanse hinaus, die Blödsinnige dazu. Heiraten — Pack — Irrenhaus —" Die Stimme erstickte in der Ferne. Still, dunkel lag wieder die Treppe. Matt spielte das einfallende Mondlicht auf den Fliesen, silberblitzend in den kristallenen Winterblumen an den Fenstern . . . Hunter zog den Schlüssel leise ab und begab sich still in seine behaglich warmen Räume. Der leichte Weinrausch, den er mitgebracht hatte, war verflogen wie der künstlich großgezogene Groll gegen das bedauernswerte Mädchen. Er sah auf die Blumen, die schon von ihrem frischen Reiz verloren hatten, und dachte, wie bald die junge Rose da oben ihnen vielleicht gleichen würde. Er saß lange grübelnd, sog von Zeit zu Zeit.an einer Zigarre und merkte nicht einmal, daß sie nicht brannte. Mechanisch legte er die leuchtende Stirn färbte sich purpurn — sein Einziges, sein Liebling versank zwischen den kahlen, braunen Felsschroffen . . . Mit unterdrücktem Schrei fuhr der Träumer empor und starrte in den grauenden Morgen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, das Herz schlug ihm wild. Er tastete mit der Hand über die weiche Decke, stierte um sich und suchte seine Umgebung zu erkennen. Schwer sank er in die Kissen zurück. Ein Traum, gottlob ein Traum . . . wie schon einmal! Achtes Kapitel. Die Besuchszeit war noch nicht gekommen, als William Hunter der Neuenburger Straße zustrebte, um dein Doktor seinen Gegenbesuch zu machen. Die Uhr in einem Zigarrenladen am Halleschen Tor zeigte auf die neunte Stunde, als Hunter vorüberschritt. Er bog über den Bclle- > k -'u ^ Staatsboot eines Maharadscha in Zndien, von Ruderern getrieben aus dem Keiligcn Strom. In der Mitte des Bootes befindet sich der von purpurfarbenem und golddnrchwirktem Baldachin überdeckte Thronsitz de» einheimifchen Fürsten. Nach einer photographischen Originalaufnahme. endlich den Stummel in einen Aschenbecher; mechanisch entkleidete er sich, und lange wollten sich die starren, unnatürlich weit geöffneten Augenlider nicht schließen . . . Der Traumgott führte ihn über Länder und Meere in eine wilde Ferne. Ein Berg erhob sich vor seinen Blicken, eine weiße Mädchengestalt stieg über Schroffen und Klippen langsam abwärts. Er wunderte sich, daß sie die Augen geschlossen hatte und mit den nackten Füßen kaum den Boden zu berühren schien; er wollte rufen, sie warnen und brachte keinen Laut hervor. Erst kannte er sie nicht, daun wußte er mit einemmal, daß es Hedwig Wuschow war. Und dann war sie es wieder nicht, sondern eine märchenhafte Königin mit blitzender Goldkrone auf dem jungen Haupte — und dann die Königin plötzlich sein Liebling, seine jüngste Tochter, blond, weich und zart, die im Traume gekommen schien, den Vater in der Ferne zu suchen und ihn in die Heimat zu holen. Und wieder wollte er warnend rufen und fühlte die Kehle von der Angst zugeschnürt; er wollte hineilen zu ihr, sie stützen, sie ausfangen, und war wie an den Boden festgewurzelt. Plötzlich ein scharfer, widerhallender Knall, die Gestalt schwankte, Allianceplatz in die Lindenstrahe ein, erreichte bald die Neuenburger Straße und stand nach wenigen Minuten vor dem Hause 14 s. Ein Messingschild mit dem Namen des jungen Arztes zeigte dem Australier an, daß er die Nummer richtig behalten hatte. Im Parterre eine Verlagsbuchhandlung, im ersten Stock Wohnung und Bureau eines Rechtsanwalts — im zweiten Stock an der breiten Doppeltür wieder das Schild des Arztes, mit dem Zusatz: „Sprechstunden 8—10,3—5..." Eine ältere Frau öfsuete ihm. „Melden Sie mich dem Herrn Doktor." Er gab ihr seine Karte und folgte ihr in ein kleines Wartezimmer, in dem einer der schlichten Rohrstühle von einer ärmlich gekleideten Frau besetzt war, deren leidender Gesichtsausdruck deutlich genug die Kranke verriet. vr Bruchs trat sofort ein, verbeugte sich vor dem Australier, gab der Frau die Hand und wies sie in sein Arbeitszimmer. „Ich bitte um Entschuldigung," wandte er sich au Hunter. „Die Frau hat Mann und Kinder zu Hause und kann nicht lange fortblciben. In einer Viertelstunde stehe ich zu Ihrer Verfügung." (Forts, folgt.) 222 1910 Der Trompeter Kon Jericho. Novelle von A. Trinius. Nachdruck verboten. aus Engel trug diesen Namen mit recht gemischten Empfindungen. 'V Thüringer Schelmeusinu hatte ihm diesen angchängt. Und was sich da zusammenmischt, das weih fast ein jeder: ein wenig Liebe, ein wenig Neid nnd eine gutgemessene Dosis nnehrerbietiger Spottsucht. Zuweilen freilich auch etwas Hast. Hans Engel gegenüber aber konnte man letzteren ruhig ausschalten. Eigentlich war Hans Engel dreimal zur Taufe gelangt. Nach seinem Vater war er Engel genannt, und ans Wunsch seiner Mutter fügte mail den Vornamen Hans im Kirchenbuche hinzu. Er hatte von elf Kindern als Jüngster das Licht der Welt erblickt. Das mochte ihm wohl etwas die Heimat beengen. Denn als er ein Mann von sechsnndzwanzig Jahren geworden war und seine drei Jahre dem Kaserneuhofe gewidmet hatte, da faßte ihn als echte» Thüringer die Sehnsucht in die blaue Ferne. Eines Tages wußte das Städtchen, daß Hans Engel auf und davon sei. Und wieder nach einem Jahre hieß es, daß er in Amerika um das tägliche Brot ringe. Den sogenannten grünen Zweig hatte er jedoch drüben nicht erklömme». Es waren nur bescheidene Ersparnisse, welche er nach einer Reihe von Jahren mitbrachtc, als er in Lerchental wieder seinen stillen Einzug hielt. Er war unverheiratet geblieben. Da der Mensch aber etwas braucht, woran er sein Herz hängen kann, mit dem er in Feierstunden mal Aussprache halten darf, so hatte sich Haus Engel eine blanke Posaune mitgebrncht, aus der er zum Ergötzen der Nachbarschaft in stillen Abendstunden gar sehr gefühlvolle und feierliche Weisen hinausstromen ließ. Als dies ruchbar geworden, da ward er zum andern Male über die Taufe gehoben. Ganz Lerchen- thal uauule ihn von jetzt an nur noch den Pvsauueueugcl. Mit dem Bilde, wie sich solches ein gläubiges Christengcmüt sollst wohl macht, deckte sich nun seine Erscheinung durchaus nicht. Haus Engel war ein hagerer Mann, der unter' uiederhängeuden strohgelbeil Haaren ein Paar blaue, gutmütig dreinschauende Augen ill die böse Welt hiueinspazieren ließ. Nur wenn er die Posaune an- setzte, daun kam Leben in seine Gestalt, rundliche Schwellung in sein Antlitz. Als er heimkehrte, waren seine Eltern bereits unter dem Rasen. Einer seiner Brüder verwaltete das ihm, dem Posaunenengel, zugefalleue Häuschen, das nun Hans Engel übernahm, nachdem er dem Bruder freiwillig eine kleine Abstandssumme für die freundliche Instandhaltung ausgezahlt hatte. Nun war er wieder daheim! Unsagbares Wonnegefühl durchbebte seine Brust. Daheim! Sv hatte er es sich immer ausgemalt, da er drüben irr der Fremde »ach dem Dollar jagte. Vielleicht hätte er bescheiden von den Zinsen seiner Ersparnisse leben können. Doch die Freude an der Arbeit saß ihm wohl im Blute. Immer nur die Posaune meistern, das ging nicht an. Das verbot die Rücksicht auf die Nachbarschaft, auf seine Lunge, auf den lieben Herrgott, der die Faulpelze nun mal nicht leiden kann. So nahm er die Hausindustrie wieder aus, welche bereits sein Pater selig betrieben hatte. Er arbeitete für einen angesehenen Fabrikanten, der in Zahn- nnd anderen Bürsten „machte". Er tat es nicht auf bestimmte Lieferzeit. Da er unbeweibt war, so wollte er sich auch ausleben. Uebcrkam ihn die Lust, so griff er zu seiner Posaune, aus welcher er es allmählich zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte, lind als sein Ruhm wuchs, da steigerte sich auch die Nachfrage. Er hals gar oft mit bei musikalischen Aufführungen und zog bei Schützen-, Turner- uüd anderen Festen mit der Kapelle voran. Am liebsten aber schwang er sich neben den Kutscher auf den Bock, wenn es galt, einem gut zahlenden Fremden die Herrlichkeiten des Thüringer Waldes auf einer Wagenfahrt vorzuführen. Der Posaunenengel erlangte wachsenden Ruf. In dem ganzen Walde lernte man ihn kennen. Wenn es so weich und schmelzend auf der Trompete, die er sich für Wagenfahrten augeschasft hatte, über die Waldwipfel hinklang: „Still ruht der See", dann wußte jedermann, daß der „Posaunenengel aus Lerchenthal" sich dem Orte näherte. Er arbeitete nach völlig freiem Programm. Gewisse Eigenheiten seines Charakters traten da deutlich in die Erscheinung. Rollte der Wagen bei einein Friedhof vorüber, dessen Kreuze und Engel von der Berglehne herniederblickten, dann ließ er: „Wie sie so sanftruh'n!" feierlich ertönen; und ging es an einem Wirtshause hin, dessen Inhaber schlechtes oder knapp gemessenes Bier verzapfte, dann schmetterte er in jauchzender Niedertracht: „Du bist der beste Bruder auch nicht". Für jede Stimmung besaß er irgendeinen musikalischen Ausdruck. Und plaudern konnte er, daß besonders die Fremden ihre Helle Freude daran hatten. Er war ja ein Weitgereister und hatte die Welt bei der Arbeit, in Kampf und Haß, Hochsinn und Niedrigkeit kennen gelernt. „Driben," Pflegte er wohl zu sagen, „da hat mer keine Polizei, da war mer ä freier Mann! Wer da purzelt, der bleibt liegen. Niemand hebt ihn aus. Schwimmen muß mer können. Feiste Hamm, um sich durchzuwärcheu durchs Läben. Nur keine Gefihle! Dadermit is's driben geiglich! Und da kann mer au was wärn! Ich bin die Gefihle nich losgeworden, unn darum äben bin ich au kei Krösus geworden! Ja, wenn's keine Sehnsucht gäbe! Aber der Wald! Unser Wald!" Ja, der Wald! Wie er den liebte! Darum war es ihm auch die höchste Wonne, hoch auf dem Kutscherbocke der „Chaise" so mitten hinein in die grüne, rauschende Waldherrlichkeit zu fahren. Einmal hatte er sich dem alten Amtsrichter für zwei Tage angeschlossen, da dieser zu Amtssitzungen über das Gebirge reiste. Da blies er in Herzenslust eine Weise nach der anderen. An: nächsten Morgen war er wieder auf den Beinen. Er nahm seine Trompete und stieg gegenüber dem Wirtshaus auf eine Felskanzel. Und dann hallte es durch das auf- horcheude Tal: „Die Soun' erwacht mit ihrer Pracht". Wie ein Morgengebet stiegen die Töne zu deu Wäldern und den im Frühlicht leuchtenden Felsfpitzen empor. Im Wirtshause aber ging sacht ein Fenster im ersten Stockwerk auf. Auf dem Balkon erschien, nur notdürftig bekleidet, der alte Herr Amtsgerichtsrat. Mit gefalteten Händen stand er andächtig da, und über seinen guten Augen lag ein Schimmer weltentrückter Freude. „Engel," sagte er später beim Frühstück, „warum werden Sie denn nicht ganz Musiker? Sehen Sie, als ich jung war, da hätte ich mein Leben für die Kunst hingeben mögen. Aber ich durfte uicht. Da bin ich Jurist geworden. Das schleift mir nun wie eine Kette nach. Sie aber sind frei. Wer hindert Sie? Zahnbürsten kann ein jeder machen, Musik uicht. Und Sie haben das Zeug zu 'was Besserem!" „Ach, Herr Rat, Se sinn ja recht freindlich zu mir, Se meinen's gut mit mir. Hm! Sähn' Se, binden kann ich mich nich! Wer ämal driben war, den hat der Deibel, unn der heeßt Freiheit! Ich ha' mei gutes Auskommen! Ich kann arbeiten unn kann Musik machen, wie mer's gefällt. Mach' ich die Bärschten, uu, da kommen mer die besten Gedanken, was mer so philosophieren nennt. Unn mach' ich daun wieder Musik, da fielst' ich mich frei wie der Vogel in der Luft. Da kommen einem Gefiehle, von denen die Leite oft gar keene Ahnung nich haben." „So ist es, Engel! Das nennt man heimliches Glück!" „Ganz recht, Herr Rat! Se neunen mich den Posaunenengel. Ich mach' mer nischt draus. Wenn's mal zu Ende geht, nun se mer uausdragen, da sollen se mer in den Wald bringen. Das wär mer das Liebste. Unn ä guter Fremd, der soll meine Posaune nehmen unn vier mei Lieblingsstückchen noch ämal blasen: „Still ruht der See", daun denke ich wohl zu schlafen!" Der Posaunenengel blieb ledig. Ob er einst Unglück in der Liebe erfahren, daß er den Weibern so aus dem Wege ging, das hat er nie bekannt: Da es ihm im Hause aber doch zu einsam ward, so uabm er eines Tages den Sohn seiner einen Schwester zu sich, einen hübsch aufgeschossenen Jungen, den er besonders ins Herz geschlossen hatte. Dieser war jüngst konfirmiert worden. „Gib mer den Bernhard nur här," hatte Engel zu seiner Schwester gesagt. „Da haste 'n Esser weniger im Hause. Mit Bärschten mag er anfangen. Unn hat er Talent, na, an mir foll's nicht fähle, daun lass' ich'n Musiker wäru." So kam der Bernhard in das stille Haus des Posaunenengels. Arbeit und Musikstudium gingen nun fröhlich Hand in Hand. Al- aber der Onkel erst entdeckte, welch eine musikalische Fassungsgabe sein Neffe entwickelte, da trat gar manchmal die Arbeit in den Hintergrund. Bernhard lernte die Trompete, während sein Onkel tapfer die Posaune blies. Das kleine Gärtchen hinter dem Haufe des Posaunenengels stieß an die alte Stadtmauer. Diese war längst wacklig und von spielenden Kindern nach und nach durchwühlt worden. Dann war draußen in der Dämmerung ein schwerbelasteter Wagen gerade an dieser Stelle sehr unsanft gegen sie gerannt, so daß die ehrwürdige Hüterin der Stadt in den Grundfesten erschüttert war. Die heimlich stille Arbeit des Zerfalles bereitete sich in dieser Nacht vor. Und als am nächsten Morgen Onkel und Neffe just wieder ihre Blechinstrumente hinter der Mauer ertönen ließen, da tat es einen gewaltigen Krach, und ein Stück der Mauer sank zusammen. An diesem Tage ward aber Hans Engel zum dritten Male über die Taufe gehoben. Von jetzt bis zu seinem Tode hieß er in Lerchenthal nur noch der „Trompeter von Jericho".- Jahre gingen in's Land. Der Bernhard war seines Onkels fleißiger Mitarbeiter geworden. Seine Seele aber lebte doch nur in der Musik. Wenn er zuweilen die Trompete draußen im Garten am Abend blies oder an regenschweren Tagen oben in seinem Dachstübchen stand nnd sein Instrument meisterte, dann gab es dem Onkel ordentlich einen Ruck durch deu Leib. Sein Lehrmeister war er gewesen, und nun hatte der Schüler den Meister bereits erreicht, wenn nicht gar überholt. Man riß sich bei Konzerten um deu hübschen Jungen, am meisten freilich die losen Mädchen! War es die Macht seiner dunklen Augen, der hinreißende Schmelz seines Spiels? Und dann mußte der Trompeter von Jericho entdecken, daß es mit dem Jungen auf schiefer Ebene abwärts ging. Er hatte sich an eine lockere Schöne gehängt. Er ward daheim wortkarg, flüchtete schon des Morgens aus dem Haus, um sich erst beim Anbruch des Abends wieder wie ein Marder einzuschleichen. Das friedliche Verhältnis war zerstört. Tagelang ging Hans Engel wie ein Träumender einher. Und eines Tages, da er Bernhard mit etwas scheuen Blicken die Treppe herunterkommen sah, rief er ihn hinein in die Wohnstube. r»'- -^ ,-: ^ N, Lx »K<.« !V >> - tz, ^LM -^7 Ä^!> NM 'V WM» Gesegneter Appetit! Ein Tieridyll, getreu nach der Wirklichkeit 824 1910 „Wenn de glaubst, ich bin blind, Junge, dann irrst dn dich!" sagte er ernst. „Ich kenne deine Schliche nnd weiß, an wen du dich wegwirfst. Bitte, keine Lügen! Mir machst de nischt vor. Bin ich au uich dem Vater, so habe ich doch au ä Recht, daderwegen mit dir zu redeu. Ich dulde das also uich! Merk'dir's! Du bist mer zu gut, unu du hast zu viel schöne Empfindungen, als daß de so in Sumpf umkvmmst! So schwer cs mer wird: Geh iu die Welt und nütze deine Kraft. Nur so kommst de los! Wenn de mich noch ä Finkchen lieb hast, so folgst de!" Bernhard Ins; die Lippen zusammen. Unschlüssig stand er da. Dann noch einen Blick ans den Onkel, und er war draußen. Als am nächsten Vormittag Engel aus dem Walde heimkehrte, da war der Bernhard fort. Einige kurze Zeilen sagten nur, daß er in die Welt gegangen sei. Nun war der Trompeter wieder ein Einspänner in seinem Hause. Das hatte ihn still und verschlossen gemacht. Seltener als sonst hörte man ihn jetzt noch seine Posaune blasen. Nur heimlich schlich er in den Bergwald, hoch hinauf zu den wvlkenumschwcbtcn Felskanzeln. Da hielt er Ausschau, ob nicht sein Junge wohl eines Tages wiederkehren würde, der Bengel, der niemals wieder eine Zeile au ihn gerichtet hatte. Und dann hob er seine Trompete, nnd was das Herz ihm schmerzlich füllte, das strömte er nun ans in weit über die Berge verschweben- den Tönen. Wieder einmal war er mit dein alten Gerichtsrat drüben aus der andern Seite des Gebirges gewesen. Bei der Heimfahrt hatte inan noch eine Stunde in einem sommerlichen U nrvrt ansgespannt. Als der Wagen zur Weiterfahrt wieder verfuhr, da sagte der alte Herr: „Seheii Sie, was wir beide nicht fertig gebracht haben, das hat nun Ihr Pflegesohn zuwege gebracht. Ein tüchtiger Solist ist er geworden. Morgen ivirkt er hier im .Konzert. Haben Sie es denn nicht gelesen?" „Herr Rat! Mei Junge? Mei Bernhard? Wo? Wo?" Und er stürmte hinüber zu einer Anschlagsäule und las da mit flirrenden Augen und jauchzender Seele die Wunderinttr. Der Gerichtsrat war bereits am Eingang des Städtchens aus- gestiegen, während Eiigel noch ein Stückiveitersuhr. Und nunbog der Wagen um die Ecke, von wo man deii erhöhten Mauersitz im Gärtlcin des Trompeters von Jericho erkennen konnte. Was war das? In diesem Augenblicke tauchte dort droben eine schlanke Männergestalt auf. Eine blanke Trompete ward sichtbar. Und dann erklang in weichen, herzbezwingenden Tonen das Lieblingslied desAlten: „Still ruht der See". „Bernhard!" Ein Schrei aus tiesster Seele. Der aber auf dem luftigen Sitze fährt fort, um die Liebe und Verzeihung des altgewordenen Trompeters voll Jericho zu werben. Doch als der zweite Vers anhebt, da setzt auch auf dem Kutscherbock noch eine Trompete ein, und nun hallt doppelstimmig die Weise über die Dächer der Stadt hinüber. Sie haben sich wieder ausgesöhnt und haben für immer Frieden gemacht. Bernhard ist im nächsten Sommer aus Berlin mit seiner jungen Frau zu Besuch gekommen, und Heller Kinderlärm hallte da durch das so stille Haus. Und als mau nach Jahren den Trompeter von Jericho hiuaus- trng in den Garten der Toten, da folgte wohl die halbe Stadt. Die Stadtkapelle blies gar feierlich auf diesem letzten Gauge. Ehe aber der Abend verglomm, da setzte drüben am Bergeshange ein ernster Mann seine Trompete an, und als Weihe und Abschiedsgruß erklang das Lieblingslied des Heimgegangenen — „Still ruht der See". Da hat der unten im Traume gelüchelt. Das war ihm die schönste Feier gewesen. M. Phot. JllustvationSphoto-Berlag. Per Sieger im „Deutschen Derby", dem größten deutschen Itennen, «Orient